Cover
Titel
Ludwig der Deutsche.


Autor(en)
Hartmann, Wilfried
Erschienen
Darmstadt 2002: Primus Verlag
Anzahl Seiten
X + 294 S., 8 s/w-Abb., 1 Karte
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andrea Esmyol, Universität Bremen

Nachdem in den letzten Jahren bereits neuere Monografien über karolingische Herrscher wie Karl den Großen 1 und Ludwig den Frommen 2 erschienen sind, ist mit Hartmanns aktueller Publikation zu Leben und Herrschaft Ludwigs des Deutschen (843-876), ostfränkischer König und Enkel Karls des Großen, eine weitere historiographische Lücke geschlossen. Mit Wilfried Hartmann, dem Direktor der Abteilung für mittelalterliche Geschichte an der Universität Tübingen, fand sich für diese Aufgabe ein ausgewiesener Kenner insbesondere der frühmittelalterlichen Quellen zur Kirchengeschichte und zum Kirchenrecht, die er zahlreich in der Konzilien-Reihe der Monumenta Germaniae Historica (MGH) ediert hat.

Die lange Regierungszeit Ludwigs des Deutschen von 50 Jahren – wenn man die Zeit als Unterkönig in Baiern seit 826 hinzu rechnet – fand vergleichsweise wenig wissenschaftliche Beachtung in den letzten Jahrzehnten. Dies ist wohl noch immer im Zusammenhang mit der aufgegebenen Überzeugung zu sehen, die von den drei Brüdern Lothar I., Karl dem Kahlen und Ludwig dem Deutschen 843 im Vertrag von Verdun unternommene Reichsteilung sei die Geburtsstunde des später so genannten Deutschen Reichs 3. Wie schon vor einigen Jahren Johannes Fried 4 fragt Hartmann in seiner quellenintensiven Studie, ob zwischen 826 und 876 ein beginnendes Zusammengehörigkeitsgefühl unter den verschiedenen ostfränkischen Volksgruppen (Sachsen, Franken, Thüringern, Baiern, Alemannen u.a.) zu erkennen ist – als gesellschaftliche und innenpolitische Voraussetzung für die Entstehung des deutschen Reichs.

In einem ersten Teil reflektiert Hartmann auf breiter Quellenbasis Leben und Regierung Ludwigs des Deutschen, seine Persönlichkeit und Familie, besonders das Verhältnis zu seinem Vater Ludwig dem Frommen, zu seinen (Halb-) Brüdern und zu seinen Söhnen. Als Geburtsjahr Ludwigs stellt Hartmann neben 806 (so die allgemeine Annahme) die Jahre bis 810 zur Disposition (S. 24ff). Zu Kindheit, Erscheinungsbild und Persönlichkeit erkennt Hartmann neben der üblichen Herrscherpanegyrik in den literarischen Texten individuelle Züge Ludwigs in seiner Begeisterung für Waffen und in seiner „besondere[n] Fähigkeit, mit Menschen umzugehen, die sich in den Konflikten mit seinen Söhnen bewährte“ (S. 21). Hinzu gesellte sich eine große Frömmigkeit und ein ausgesprochenes Interesse an theologischen Diskussionen. Für die relativ gut dokumentierte Zeit der Rebellion der Brüder Lothar I., Pippin von Aquitanien und Ludwigs der Deutsche gegen den Vater Ludwig den Frommen seit 829 und für die nachfolgenden Bruderkriege liefert Hartmann eine ausführliche Bestandsaufnahme mit umfangreichem Quellenmaterial. In den schwierigen 860er Jahren erlebte Ludwig der Deutsche dann selbst den Aufstand erst seines ältesten Sohnes Karlmann, später auch der jüngeren Söhne Ludwig (der Jüngere) und Karl (III.). Bereits 865, nicht später 5, soll Ludwig der Deutsche die Aufteilung des Reichs unter seinen Söhnen festgelegt haben, was allerdings zu neuerlichen Rebellionen führte. Zu seinen Lebzeiten erhob Ludwig der Deutsche, anders als sein Vater und Großvater, seine drei Söhne nicht zu Mitkönigen, sondern vergab lediglich „militärische Kommandos und deutlich untergeordnete Positionen“ (S.76). In der Langmut, mit der Ludwig der Deutsche – anders als sein Halbbruder Karl der Kahle – seinen aufständischen Söhnen begegnete, erkennt Hartmann einen deutlichen Wandel im Umgang mit rebellierenden Verwandten in einer Zeit, in der Rebellionen von Königssöhnen ohnehin als „normal“ zu betrachten seien (S. 76).

Konstituierend für die inneren Verhältnisse des ostfränkischen Reichs waren die in den verschiedenen Reichsteilen ansässigen Volksgruppen der Baiern, Franken, Alemannen, Thüringer und Sachsen. Wichtige Basis der Macht bildete Baiern mit der urbs regia Regensburg, die Ludwig seit 817 nominell und seit 826 tatsächlich beherrschte. Dementsprechend häufig ist Ludwig von 826 bis zu seinem Tod 876 dort nachzuweisen. Von 172 echten Urkunden Ludwigs, die Hartmann zählt (S. 80), sind allein 52 an bairische Empfänger gerichtet. Insgesamt lassen sich für Regensburg 34 und für Frankfurt – im reichspolitisch bedeutenden Rhein-Main-Gebiet – 49 Aufenthalte nachweisen. Dies spricht für eine persönliche Ausübung der Herrschaft, während Ludwig in Alemannien, Thüringen und Sachsen auf verlässliche Gefolgsleute vor Ort angewiesen war. Sollte sich in diesen Reichsgebieten tatsächlich während der Regierungszeit Ludwigs ein überregionales, ostfränkisches „Wir-Gefühl“ entwickelt haben, so setzt dies eine innere Geschlossenheit der einzelnen Völker voraus. Nachrichten von Zwistigkeiten zwischen den Völkern seien, so Hartmann, geradezu als Beleg für das entstehende Zusammengehörigkeitsgefühl zu werten (S. 104). Wenn die Annales Fuldenses erst nach 870 von Konflikten zwischen den Volksgruppen zeugen, „könnte dies sogar als Anzeichen dafür gewertet werden, dass erst von diesem Zeitpunkt an den Historiographen diese Gegensätze bewusst geworden sind, weil sie in dieser Zeit eher mit einem bereits gewachsenen Gemeinschaftsgefühl rechneten“ (S. 103).

Der zweite Teil der Studie gilt der Herrschaftsstruktur des Ostfrankenreichs. Die Grafen, so Hartmann, verstand Ludwig als absetzbare, durch ‚missi dominici’ kontrollierte königliche Amtsträger. Die Entstehung starker Zwischengewalten, besonders in den entfernteren Reichsteilen, galt es zu verhindern (S. 254). Insbesondere der Heerdienst habe, da an vielen Kriegszügen mehrere Volksgruppen beteiligt waren, zur „Ausbildung eines Reichsbewusstseins“ geführt (S. 166). Die Untersuchung der Frage nach Kultur- und Bildungsstand in der Herrscherfamilie und im Reich zeigt, dass Ludwig literarisch gebildet war und Latein konnte, denn er stand mit Hinkmar von Reims über dessen Bibelauslegung in Schriftverkehr (S. 214). Die besondere Förderung, die Ludwig dem volkssprachlichen Schrifttum zukommen ließ, könnte auch als weiterer Anstoß für die Entwicklung eines Zusammengehörigkeitsgefühls der ostfränkischen Völker gesehen werden. Diese Schlussfolgerung zieht Hartmann allerdings nicht. Die wohl nicht belegbare These, das Muspilli, ein volkssprachliches Gedicht über die Endzeit, sei in einer Handschrift überliefert, die Ludwig dem Deutschen gehörte (S. 222f), gilt Hartmann als unumstritten; neue Belege und Argumente bleibt er schuldig. Wenig später (S. 254) bezeichnet er Ludwig dann gar als Verfasser eines Gedichts, gemeint ist wohl (?) das Muspilli. Den allgemein angenommenen Niedergang des Schrifttums während der Regierungszeit Ludwigs des Deutschen bestreitet Hartmann, das Ostfrankenreich konnte im Gegenteil eine Reihe bedeutender Gelehrter (Hrabanus Maurus u.a.) und Klosterschulen (Fulda, St. Gallen, Reichenau u.a.) aufweisen. Von ca. 7000 bis 8000 Handschriften des 9. Jahrhunderts stammen immerhin ca. 3000 aus dem Ostfrankenreich (S. 235). Jedoch nahm die Schriftlichkeit in Verwaltung und Regierung deutlich ab, dies „weist bereits in die Ottonenzeit voraus“ (S. 255). Auch Architektur und Buchkunst zeugen von einer gar nicht so geringen kulturellen Produktivität. Ja, selbst die Wirtschaftslage des Ostfrankenreichs sei nicht so desolat wie in der Forschung angenommen. Ein letzter, leider sehr kurzer Absatz widmet sich dann auch der wirtschaftlichen Lage (Landwirtschaft, Münzen, Steuern, Handel). Hier hätte sicher eine eingehendere Beschäftigung beispielsweise mit dem Salzhandel weitere Aufschlüsse zur Wirtschaftslage gebracht.

Ludwigs des Deutschen Lebensleistung könne nicht mit der Karls des Großen verglichen werden. Weder gelang es ihm, sein Reich zu expandieren, noch die Feinde aus dem Osten (Sorben, Böhmen, Mährer) vernichtend zu schlagen. Nach dem Kampf um sein Reich gegen Brüder und Vater hatte Ludwig eine schwere innere Krise zu bewältigen, ausgelöst durch seinen gescheiterten Übergriff auf das westfränkische Reich Karls des Kahlen im Winter 858/859. Zu Konflikten mit den ostfränkischen Reichsgroßen gesellte sich die Rebellion der Söhne. Erst 870 konnte Ludwig wieder in die Offensive gehen und erfolgreich Ansprüche auf das Erbe seines Neffen, des westfränkischen Königs Lothar II., geltend machen. 872/873 erfreute er sich dann der Aufmerksamkeit von Gesandten des oströmischen Kaisers. Das Wettrennen um die Kaiserkrone entschied 875 bekanntlich Karl der Kahle für sich, Ludwig der Deutsche erfuhr aber durch das Auftauchen des Titels Imperator in einigen Dokumenten klösterlicher Provenienz eine Aufwertung seiner herrscherlichen Würden.

Hartmann kommt zu der abschließenden Einschätzung, die lange Regierungszeit Ludwigs habe entscheidend zur Herausbildung eines Zusammengehörigkeitsgefühls der ostfränkischen Völker geführt. So teilte Ludwig sein Reich zwar unter seinen drei Söhnen, er habe jedoch versucht, seinen ältesten Sohn Karlmann zum Alleinerben zu machen, was allein am Widerstand der jüngeren Söhne gescheitert sei. Einen Beleg für das wachsende Wir-Bewusstsein sieht Hartmann in der Schlacht bei Andernach nach Ludwigs Tod 876, einer gemeinsamen Aktion der ostfränkischen Völker gegen den Westfranken Karl den Kahlen. 887 führte eine ähnliche Aktion gegen den seit 885 gesamtfränkischen Herrscher Karl III. zum ostfränkischen Reich Arnulfs von Kärnten. „Daher kann es auch nicht erstaunen, dass nach dem Aussterben der ostfränkischen Karolinger 911 diese Völker wieder einen gemeinsamen König erhoben haben, nach dessen Scheitern und Ende es 919 abermals nicht zu einer Auflösung dieses Reichs kam, sondern zur Erhebung des Sachsenherzogs Heinrich, unter dessen Regierung das Zusammenwachsen der Völker zum werdenden „deutschen“ Reich einen weiteren wesentlichen Schritt voran kam. Man wird also doch Johannes Fried zustimmen können, wenn er Ludwig den Deutschen als den König bezeichnet, ‚dem das künftige Reich der Deutschen seine Existenz verdankte’.“ (S.258)

Zwei noch unveröffentlichte Dissertationen von Boris Bigott (Freiburg) 6 und Simon MacLean (London/Cambridge) 7 konnte Hartmann einsehen. Ansonsten muss man bis heute auf die 140 Jahre alte Publikation Ernst Dümmlers 8 zurückgreifen, beschäftigt man sich mit dem ostfränkischen Reich. Vornehmliches Verdienst Hartmanns ist eine – längst überfällige – aktuelle Bestandsaufnahme von Quellen und Literatur zu Person und Herrschaft Ludwigs des Deutschen auf breiter Basis, von denen freilich insbesondere die Konzilien (und die Urkunden) intensiv ausgewertet werden. In seinen Interpretationen setzt Hartmann auf Bewährtes, auch die Wiederbelebung der These von den im Ostfrankenreich geschaffenen innenpolitischen Voraussetzungen für die Entstehung des deutschen Reichs überzeugt nicht durch neue Argumente. Es bleibt der Eindruck – wie auch in der Interpretation der abnehmenden Schriftlichkeit als einer Vorausnahme ottonischer Verhältnisse – allein der Ablauf der späteren Ereignisse habe zur Bewertung der Früheren geführt.

Acht Abbildungen und eine Kartenskizze der karolingischen Teilreiche nach 843 tragen zur Anschaulichkeit bei, neben Quellen- und Literaturverzeichnissen erleichtert ein Personen-, Orts- und Werkregister den Zugriff. Nicht sehr nutzerfreundlich ist die Praxis, einen Großteil auch der wichtigeren Literatur nur im Text zu belegen, aber nicht im Literaturverzeichnis aufzuführen. Die im Klappentext versprochenen Tabellen sucht man vergeblich.

Anmerkungen:
1 Dieter Hägermann, Karl der Große, Herrscher des Abendlandes, Berlin 2000.
2 Egon Boshof, Ludwig der Fromme, Darmstadt 1996.
3 Georg Waitz, Ueber die Gründung des deutschen Reiches durch den Vertrag von Verdun, Kiel 1843.
4 Johannes Fried, Der Weg in die Geschichte. Die Ursprünge Deutschlands bis 1024, Berlin 1994.
5 So Brigitte Kasten, Königssöhne und Königsherrschaft. Untersuchungen zur Teilhabe am Reich in der Merowinger- und Karolingerzeit, Hannover 1997, S. 524ff.
6 Boris Bigott, Ludwig der Deutsche und die Reichskirche im Ostfränkischen Reich (826-876), Diss., Freiburg i.Br. 2001.
7 Simon MacLean, The Reign of Charles III. the Fat (876-888), Diss., London 2000.
8 Ernst Dümmler, Geschichte des Ostfränkischen Reiches, Band 1, Berlin 1862 (²1887).

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