S. Rebok: Alexander von Humboldt und Spanien im 19. Jahrhundert

Cover
Titel
Alexander von Humboldt und Spanien im 19. Jahrhundert. Analyse eines wechselseitigen Wahrnehmungsprozesses


Autor(en)
Rebok, Sandra
Reihe
Editionen der Iberoamericana, Geschichte und Gesellschaft/Historia y sociedad 11
Erschienen
Frankfurt am Main 2006: Vervuert/Iberoamericana
Anzahl Seiten
264 S.
Preis
€ 36,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
José Enrique Covarrubias, Instituto de Investigaciones Históricas de la Universidad Nacional Autónoma de México, México

Das hier rezensierte Buch gehört zu einer Reihe von Veröffentlichungen, die sich im letzten Jahrzehnt mit der Person und den Werken Alexander von Humboldts beschäftigt haben. Das zweihundertjährige Jubiläum seiner großen Amerikareise im Jahr 1999 brachte sowohl in Deutschland als auch in anderen Ländern zahlreiche Ausstellungen, Gedenkveranstaltungen, Publikationen usw. mit sich. Die akademischen Veröffentlichungen lassen sich im Wesentlichen in zwei Kategorien einteilen. Entweder handelte es sich um allgemeine Studien über die Person und/oder die Werke Humboldts oder um Analysen von besonderen Aspekten seiner Person, seiner Leistungen und/oder seiner Werke. Reboks Buch, das aus ihrer Heidelberger Dissertation hervorgegangen ist, gehört in diese zweite Kategorie.

Der behandelte Gegenstand ist nicht völlig neu. Seit Ende des 19. Jahrhunderts sind Abhandlungen über das Verhältnis zwischen Humboldt und Spanien erschienen. Oft waren seine Aktivitäten in diesem Land unmittelbar vor seiner Abreise nach Amerika, also zwischen Januar und Juni 1799, der Ausgangspunkt dieser Untersuchungen. Während dieser Monate konnte Humboldt seine später in Amerika verwendeten Messinstrumente ausprobieren und wichtige Kontakte zu der wissenschaftlichen und politischen Elite des Landes knüpfen. Reboks eigentlicher Beitrag besteht nun zum einen in ihrer Synthese insbesondere spanischer Archivquellen und Veröffentlichungen zum Thema und zum anderen in einer spezifischen Interpretation, die die gegenseitige Wahrnehmung in den Vordergrund rückt.

Das Buch besteht aus drei Hauptteilen: 1. einer allgemeinen Darstellung der wissenschaftlichen und diplomatischen Aktivitäten Humboldts; 2. einer zusammenfassenden Darstellung von Humboldts Vorstellungen zur spanischen Gesellschaft, Politik und Wissenschaft, die sowohl seine Schriften als auch seine Handlungen berücksichtigt und 3. einer detaillierten Analyse der Rezeption Humboldts (seiner Person und seiner Werke) in Spanien während des gesamten 19. Jahrhunderts. Im Folgenden werden die Kernthesen aus den letzten beiden Teilen diskutiert.

Die Art und Anzahl der zur Verfügung stehenden Quellen lassen Rebok zu dem Schluss kommen, dass sich Humboldt viel weniger für die spanische Gesellschaft und Politik als für die spanische Wissenschaft interessierte. Allem Anschein nach war Spanien für Humboldt nichts anderes als eine europäische Nation unter anderen, die sich durch keine besonderen Merkmale vom Rest Europas unterschied. Folglich interessierte sich Humboldt für die spanische Politik nur in dem Maße, als diese folgenreich für Hispanoamerika war. Seine letzten Urteile über die spanische Herrschaft in Amerika waren allerdings sehr ausgewogen und sogar ambivalent: Er hat sich sowohl als ein Bewunderer der von der Krone unternommenen Förderung der Wissenschaften in Übersee und als auch als ein Kritiker der Sklaverei und des Kolonialismus gezeigt. Uneingeschränkt positiv stand er dagegen den Leistungen der spanischen Wissenschaft gegenüber. Er schätzte die zur Zeit der Entdeckungen entstandenen Werke von José de Acosta, Gonzalo Fernández de Oviedo und anderen spanischen Gelehrten sehr. Humboldt sah in diesen Leistungen eine wichtige Grundlage für seine eigene physikalische Geografie – also seiner ebenso physischen als auch sittlichen Betrachtung der verschiedenen Räume der Erde. Nach Humboldts Meinung war keine andere Nation in der Lage, sich ähnlicher Leistungen zu rühmen.

Umgekehrt sahen aber auch viele Spanier des 19. Jahrhunderts in Humboldt einen großen Wissenschaftler. Zwar ließen ihn gelegentlich einige spanische Politiker und Intellektuelle ihre Unzufriedenheit mit seiner vermeintlichen Parteinahme für die Unabhängigkeit Hispanoamerikas spüren. Das war zum Beispiel im Jahre 1830 der Fall, als ihm eine Reisegenehmigung für Spanien verweigert wurde. Diese politischen Zurückweisungen konnten aber sein beträchtliches wissenschaftliches Ansehen nie ernsthaft beeinträchtigen. Rebok weist dies anhand der von ihr zusammengetragenen Meinungsäußerungen über Humboldt, wie sie sich in den zeitgenössischen Publikationen finden, nach.1 Bei aller Verschiedenartigkeit stimmen diese Äußerungen in einem großen und ehrlichen Respekt für ihn als Wissenschaftler überein. Lediglich die Einschätzung, dass Humboldt sich beim Verfassen seiner Werke erheblich auf spanische Quellen stützte, ohne dies immer in hinreichender Weise sichtbar werden zu lassen, wurde ihm zuweilen vorgeworfen, trübte aber das positive Gesamtbild kaum nennenswert ein.

Allein die große Materialfülle, die die Autorin hier klug verarbeitet hat, dürfte der Studie das Interesse sowohl von Spezialisten als auch von Laien sichern. Außerdem ordnet Rebok die verschiedenen spanischen Meinungen über Humboldt überzeugend historisch ein, sodass der Leser die Entwicklung des Humboldtbildes im Spanien des 19. Jahrhunderts nachvollziehen kann. Darüber hinaus regt die Lektüre des Buches die Diskussion insbesondere durch die Schlussfolgerungen an.

Rebok beruft sich hier auf soziologische und ökonomische Begriffsbildungen von Pierre Bourdieu und Stephen Greenblatt. Auf dieser Grundlage behauptet sie, dass zwischen Humboldt und Spanien ein bestimmtes Reziprozitätsverhältnis entstanden wäre. Während Humboldt die vergessene spanische wissenschaftliche Tradition von Acosta, Oviedo usw. aufwertete, hätte ihm umgekehrt Spanien (bzw. seine herrschende Elite) die notwendigen Mittel dafür zur Verfügung gestellt. Dies habe einen vorwiegend symbolischen Austausch zu beiderseitigem Vorteil ermöglicht. Humboldt hätte dabei sein ungewöhnliches diplomatisches Talent, seine guten Beziehungen und sein eigenes Ansehen als Wissenschaftler geschickt eingesetzt, um den guten Willen einer den ausländischen Naturforschern nicht von vorneherein wohlgesinnten spanischen Elite für sich zu gewinnen. Rebok sieht in Humboldts Verhalten einen Rückgriff auf das symbolische Kapital seiner Person, dessen Wert darin bestanden hätte, das historische Kapital Spaniens (die von Humboldt wiederbelebte wissenschaftliche Tradition) im Weltmarkt der Symbole erneut in Umlauf zu setzen.

Manchem Leser mag diese Art der Erklärung zu abstrakt geraten sein und vielleicht relativiert sie darüber hinaus in unnötiger Weise die von Rebok selbst als wichtig eingeschätzte geschichtliche Bedingtheit von Humboldts Verhalten gegenüber Spanien. Warum bezieht sich Rebok nicht ausdrücklicher auf den unmittelbaren ideengeschichtlichen Rahmen, in dem Humboldt sich bewegt? Entspricht zum Beispiel der geschickte Umgang Humboldts mit seinem “symbolischen Kapital” im Weltmarkt der Repräsentationen nicht sehr stark Kants Idee der „Weltklugheit“? Hierzu sei dem Rezensenten ein kurzer Exkurs erlaubt, um das Argument zu verdeutlichen: Kant hat in seinen anthropologischen Vorlesungen die Auffassung vertreten, dass „Weltklugheit“ die Fähigkeit der Individuen voraussetzt, die eigene Abhängigkeit von den anderen Individuen beim Erreichen der eigenen Ziele immer im Auge zu behalten. Patrick Kain fasst diese Kantsche Position so zusammen: „(…) a prudent individual seeks to conform himself to the ways of his fellows, seeks to be intelligible and interesting to them, and avoids to be perceived as `difficult´ or provoking their distrust, envy or pride. (...) 1781-1782, Kant begins to identify prudence, not with the broad `skill in the choice of means to one’s own greatest well-being´, but more narrowly as the skillful use of other people, as opposed to things, in the pursuit of one’s own ends.”2 Neben Kant hatte auch Adam Smith die traditionelle Idee des klugen Verhaltens auf solche Weise uminterpretiert.3 Das sich aus seiner gesellschaftlichen Natur ergebende Streben des Menschen nach Anerkennung – und die folgenden, an die Bildung eines eigenen symbolischen sozialen Kapitals von Anstand und Ehrlichkeit gerichteten Handlungen – erklärte er zu einer legitimen, des Vorwurfes der Eitelkeit (Vanity) freien Verhaltensweise. Reboks Erklärung von Humboldts Benehmen verweist zwangsweise auf das Entstehen dieser neuen Auffassung der Weltklugheit am Ende des 18. Jahrhunderts, in einer Zeit also, als die geistige Prägung Humboldts wesentlich stattfand.

Anmerkungen:
1 Die von spanischen Verfassern dargestellten Meinungen sind: Marcelino Menéndez y Pelayo, Marcos Jiménez de la Espada, Ramón de La Sagra, Miguel Rodríguez Ferrer, Ramón de Manjares y de Bofarull, José Rodríguez Carracido.
2 Kain, Patrick, Prudential Reason in Kant’s Anthropology, in: Jacobs, Brian; Kain, Patrick (Hrsg.), Essays on Kant’s Anthropology, Cambridge 2007 (2. Aufl.), S. 230-265, hier S. 246.
3 Fleischacker, Samuel, On Adam Smith’s Wealth of Nations. A Philosophical Companion, Princeton 2004, S. 119.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension