K.-D. Henke (Hrsg.): Tödliche Medizin im Nationalsozialismus

Cover
Titel
Tödliche Medizin im Nationalsozialismus. Von der Rassenhygiene zum Massenmord


Herausgeber
Henke, Klaus-Dietmar
Reihe
Schriften des Deutschen Hygienemuseums Dresden 7
Erschienen
Köln 2007: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
342 S.
Preis
€ 27,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Philipp Osten, Institut für Geschichte der Medizin, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Bei der Eröffnung am 16. Mai 1930 war der Gläserne Mensch das beliebteste Exponat des Dresdner Hygienemuseums. Das Zelluloidmodell mit sichtbaren Organen, Gefäßen und Nerven geriet später in Verruf: Ein Foto zeigt den Gläsernen Menschen auf dem Titel eines Ausstellungsflyers des Washingtoner Holocaust-Museums zur Medizin im Nationalsozialismus. Mit erhobenen Armen steht er da, flankiert von hohen NS-Funktionären, wie dem Leiter der Ufa-Kulturfilmabteilung Nicholas Kaufmann und Innenminister Wilhelm Frick. Die Aufnahme entstand 1935 bei einer Führung durch die Ausstellung „Wunder des Lebens“, die in höchsten Tönen die Umsetzung rassenhygienischer und eugenischer Konzepte pries. Eindrücklich demonstriert die Fotografie, wie kommod sich die Institution des Deutschen Hygienemuseums in die Propagandamaschinerie der Nationalsozialisten einbetten ließ. Tatsächlich markiert das Bild nur den Abschluss einer langwierigen, wenn auch nicht immer geradlinigen Entwicklung.

Bei seiner Eröffnung hatte das Hygienemuseum eine über zwanzigjährige Gründungsgeschichte hinter sich, die mit nationalistischer Propaganda mindestens eben so verknüpft war, wie mit hygienischer Volksbelehrung. Ab 1914 befasste sich das „Komitee für ein Deutsches Hygiene-Museum“ mit der Gestaltung von Kriegsaustellungen. Bereits im Dezember 1918 eröffnete die erste Wanderausstellung gegen die Kapitulationsbedingen der Alliierten und 1926 feierte man mit der Düsseldorfer Schau „Gesundheitspflege, soziale Fürsorge und Leibesübungen“ den Abzug der Franzosen aus dem Rheinland. Hier durfte der junge Arno Breker seine erste Skulptur in staatlichem Auftrag aufstellen, seine „Aurora“ liegt noch heute über dem Eingangsportal des „Ehrenhof“ genannten Gebäudekomplexes. Architekt des Dresdner Neubaus des Deutschen Hygiene-Museums von 1930 wurde Wilhelm Kreis, der 1941 Hitlers „Generalbaurat für die Gestaltung der deutschen Kriegerfriedhöfe“ wurde. Die klare Sprache seiner Architektur fand sich in der Auswahl vieler Exponate wieder. Anhand von Plakaten und Ausstellungs-Gestaltungen des Hygiene-Museums und seiner Vorläuferinstitutionen ließe sich eine umfassende Bildgeschichte der Popularisierung eugenischen Gedankengutes schreiben.

„Deadly Medicine“, die Washingtoner Ausstellung von 2005, nutzte zahlreiche Exponate aus dem Kontext des Dresdner Museums. Eine verkleinerte Fassung wurde 2007 in Dresden gezeigt und, wie dort üblich, durch ein anspruchsvolles Rahmenprogramm begleitet. Der Zeithistoriker Klaus-Dietmar Henke konzipierte eine wissenschaftliche Vortragsreihe mit populärem Anspruch. Nun sind die Vorträge unter dem Titel „Tödliche Medizin im Nationalsozialismus“ als Sammelband in der Schriftenreihe des Deutschen Hygiene-Museums erschienen.

Das Museum selbst und seine Geschichte kommen freilich in dem Band kaum vor. Einleitung und Vorwort nehmen mit jeweils einem Satz Bezug auf die problematische Rolle der Institution, ein Aufsatz fasst die wichtigsten Entwicklungen ab 1933 auf knappen sechs Seiten zusammen. Immerhin verweist das Titelbild des Buches auf das hier Ausgesparte: Ein Auge mit Hakenkreuz in der Iris wird von einem anthropologischen Messzirkel gerahmt, wie ihn Rassenhygieniker benutzten: Das von Strahlen umgebene Auge, Symbol des ägyptischen Sonnengottes Ra, ist das Signet des Dresdner Museums. Gerade weil das Buch als kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte des Hygiene-Museums angekündigt war, ist es besonders zu bedauern, dass sie in Henkes Sammelband kaum vorkommt.1 So existiert zu dessen Geschichte im Nationalsozialismus weiterhin nur eine schwer zugängliche Dresdner Dissertation aus den 1980er-Jahren.2

In sich jedoch überzeugt das Konzept des hochkarätig besetzten Bandes. Als Beiträger wurden mit Richard Evans und Paul Weindling die beiden herausragenden britischen Forscher zur Geschichte der NS-Medizin gewonnen. Der New Yorker Henry Friedlander hat als einer der ersten Historiker auf den engen Zusammenhang zwischen Holocaust und Krankenmorden hingewiesen. Gisela Bock verfasste Mitte der 1980er-Jahre das Standardwerk zur Geschichte der Zwangssterilisierung, Hans-Walther Schmuhl die maßgebliche Geschichte der „Euthanasie“. Jochen-Christoph Kaiser und Uwe Kaminsky sind für ihre Arbeiten zur Rolle der Kirchen im Nationalsozialismus bekannt und Angelika Ebbinghaus ist eine ausgewiesene Kennerin der juristischen Verfolgung und Bagatellisierung ärztlicher Verbrechen in der Nachkriegszeit. Sie alle liefern Überblicke zu ihren langjährigen Forschungsthemen. Leserinnen und Leser erhalten die Informationen quasi aus erster Hand, auch wenn die Essenz der Forschungen bereits vor bis zu zwei Jahrzehnten zusammen getragen wurde.

Mit dem Berliner Gesundheitstag von 1980 begann die kritische Auseinandersetzung der Medizin mit ihrer Geschichte im Nationalsozialismus. Von den damaligen Pionieren fehlen in dem Band nur Karl-Heinz Roth und Gerhard Baader. 1988 erschien die „Geschichte der Eugenik und Rassenkunde in Deutschland“ von Peter Weingart, Jürgen Kroll und Kurt Bayertz bei Suhrkamp, auf der die Forschung bis heute aufbaut und auf die auch der hier besprochene Band mehrfach rekurriert. Alle diese bekannten Beiträger haben ihre Artikel auf den jüngsten Stand gebracht, haben Literatur ergänzt und aktuelle Debatten rezipiert.

Richard Evans irrt ein wenig mit der Feststellung, in den ersten Wochen des Dritten Reiches habe die praktische Politik erstmals beschlossen, das „Geld der Steuerzahler“ vornehmlich für „gesunde“ Menschen auszugeben, dieser Bruch vollzog sich bereits mit den Notverordnungen von 1931. Doch das Detail ändert nichts an seiner sprachlich wie argumentativ brillianten Zusammenfassung. Heinrich Zankl legt in seiner kurzen Geschichte der Vererbungslehre den Forschungsstand der 1930er-Jahre dar und bettet ihn in den historischen Kontext. So wird die enge Verbindung zwischen Wissenschaft und Rassengesetzen deutlich.

Henry Friedlanders Text ist eine akribische Beweiskette, die von der ersten Massenvergasung jüdischer Patienten aus Berlin-Buch in einem provisorisch zum Krematorium umgebauten Gefängnis im Stadtzentrum vom Brandenburg/Havel bis hin zu den mit Hilfe der Krankenmord-Koordinatoren konstruierten Gaskammern in Lublin, Sobibor und Treblinka reicht. Der industrielle Mord an sechs Millionen Menschen begann mit Tötungen von Patienten, begangen von ihren Ärzten. Frühestes Zeugnis des Verbrechens ist der Taschenkalender eines Berliner Arztes aus der Innsbrucker Straße in Berlin-Schöneberg vom Juni 1940.

Michael Schwartz stellt die provozierende These auf, dass die praktische Umsetzung von Eugenik – mit der Ausnahme von Deutschland – eine Spezialität demokratischer Staaten gewesen sei, während Italien und die Sowjetunion derartige Schritte strikt abgelehnt hätten. Belegen lässt sich das vor allem anhand der engagierten Eugenikbefürworter innerhalb des sozialdemokratischen Spektrums in der Zeit der Weimarer Republik, und auch die von Schwartz für Skandinavien und die USA zusammengetragenen Debatten demonstrieren eine Meinungsvielfalt, die eugenische Praktiken als breiten gesellschaftlichen Konsens erscheinen lassen. Dass gerade das faschistische Italien und die Sowjetunion von der Debatte frei blieben, hatte freilich sehr unterschiedliche Gründe. In Italien verbot der Katholizismus eine offene Auseinandersetzung und in der UDSSR bemühte man sich, soziale und nicht ererbte Faktoren zu betonen. Die Helden der Wissenschaft (und ihrer Popularisierung) hießen hier nicht Darwin oder Haeckel, sondern Lamarck und H. G. Wells.

Eine große Bereicherung ist Hans-Walther Schmuhls Biographie des Reichsärzteführers Leonardo Conti. Der nämlich beginnt seine Karriere als junger Arzt in den Fürsorgeeinrichtungen der Weimarer Republik. Nach 1933 wurde er der „Mann fürs Grobe“, der in Berlin private karitative Einrichtungen zum Teil mit Waffengewalt in die Gleichschaltung zwang. Schmuhl beschreibt, wie sich Conti auch des Hygiene-Museums bemächtigte, das seine Hygiene-Akademie bereits 1934 in „Staatsakademie für Rassen- und Gesundheitspflege“ umbenannt hatte.

Ausführlicheres zur Geschichte des Hygiene-Museums im Nationalsozialismus findet sich in dem anspruchsvollen Beitrag von Caris-Petra Heidel, mit knapp 30 Seiten der umfangreichste Aufsatz des Bandes. Die sukzessive Indienstnahme einzelner Abteilungen der bekannten Institution durch die Nationalsozialisten und der Exodus seiner Mitarbeiter werden hier kurz umrissen. Den Schwerpunkt ihres Aufsatzes aber legt Heidel auf die Darstellung von Zwangssterilisierung und „Euthanasie“ in Sachsen. Die eindringliche, nah am Archivmaterial geschriebene Studie ist weitaus plastischer als viele Überblicksdarstellungen. Ergänzt wird dieser Beitrag durch Boris Böhms Schilderung der „Tötungsanstalt“ Pirna-Sonnenstein. Anhand von Prozessakten und Zeugenaussagen rekonstruiert er den Ablauf der Massenvergasungen; 13 720 Patienten wurden in Pirna ermordet. Auch Böhms erschüttende Darstellung beeindruckt durch ihren souveränen Umgang mit einer Fülle von Quellen.

Neues aus Archiven hat Paul Weindling zur Geschichte der Entschädigungspolitik für Zwangssterilisierte in der Bundesrepublik zusammengetragen. Sein Beitrag bindet das Thema an die jüngste Zeitgeschichte. Frank Hirschinger berichtet über die Strafverfolgung von Euthanasieverbrechen in der SBZ/DDR. Anhand von Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit weist er nach, dass der „Fall Albrecht“ keine Seltenheit war. Die HNO-Ärztin mit dem Titel „Verdienter Arzt des Volkes“, in den 1960er-Jahren Dekanin der Jenaer medizinischen Fakultät, wurde von der Stasi geschont, der ihre Mittäterschaft beim Euthanasieprogramm in Stadtroda bekannt war. Erst im Jahr 2000 begannen aufgrund von Funden in der Gauck-Behörde neue Ermittlungen, die fünf Jahre später mit Rücksicht auf den Gesundheitszustand der Anfang dieses Jahres im Alter von 92 Jahren verstorbenen Ärztin eingestellt wurden. Hirschingers Text ergänzt die ausführliche Zusammenstellung von Urteilen der Westalliierten von Angelika Ebbinghaus.

Jan Philipp Reemtsma schließlich geht der Frage nach, wie es kam, dass sich 1933 eine Wende zum Bösen und 1945 eine Wende zum Guten vollzog. Während andere Beiträge des Bandes die Entwicklung zahlreicher sukzessiver Tabubrüche seit Beginn des Jahrhunderts nachzeichnen, bis schließlich eine völkische Diktatur eugenische Theorien zu dem einzig gültigen Wertmassstab erhob, erörtert Reemtsma auf hohem Niveau eine Zäsur, die es so nicht gab. Die Zivilisation brach nicht, sie zerfloss. Reemtsma schreibt, dass ihm die Wende von 1945 viel unheimlicher sei, und er nennt ein verstörendes Beispiel: Bei einem Besuch im ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz gelingt es ihm kaum, sich selbst und den grauenvollen Ort gleichzeitig als existent zu erfahren, als könne nicht beides zugleich „in derselben Welt sein“. Schon allein diese subtile Beobachtung lohnt die Lektüre. Und dennoch erzeugt Reemtsmas Text durch seine vielen Rückgriffe auf Thukydides und Weimarer Klassik in mir ein mulmiges Gefühl, das ich nicht fassen kann.

Quasi im Anhang wird der Band durch zwei sehr sinnvolle „Zugaben“ ergänzt: Uwe Kaminsky liefert einen Forschungsbericht zur NS-„Euthanasie“, der die jüngeren historischen Debatten zum Thema umfassend und anschaulich referiert. Ein ebenso hervorragendes Arbeitsinstrument hat Jana Wolf mit einer 50 Seiten umfassenden Auswahlbibliographie bereitgestellt. Insgesamt bietet das Buch einen grundlegenden, verständlichen Überblick zur Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene im Nationalsozialismus und liefert Studierenden einen schnellen Zugriff auf den Stand der Forschung. Nur die erhoffte Geschichte des Hygiene-Museums fehlt weiterhin. Das Thema sollte nicht aus den Augen verloren werden.

Anmerkungen:
1 Susanne König, Bilder vom Menschen–Geschichte und Gegenwart. Die Dauerausstellung des Deutschen Hygiene-Museums in Dresden, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 4 (2007), H. 1+2, URL: http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Koenig-2-2007.
2 Stephan, Ludwig, Das Dresdner Hygiene-Museum in der Zeit des deutschen Faschismus (1933-1945), Med. Diss. Dresden 1986.

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