M. Beer (Hrsg.): Auf dem Weg zum ethnisch reinen Nationalstaat?

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Titel
Auf dem Weg zum ethnisch reinen Nationalstaat?. Europa in Geschichte und Gegenwart


Herausgeber
Beer, Mathias
Erschienen
Tübingen 2007: Attempto Verlag
Anzahl Seiten
232 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kai Struve, Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur, Universität Leipzig

Der Band enthält die überarbeiteten Vorträge einer Ringvorlesung, die im Jahr 2001 an der Universität Tübingen stattgefunden hat. Für die Neuauflage von 2007 wurden die Beiträge an einigen Stellen inhaltlich aktualisiert, und es wurde neuere Literatur aufgenommen. Dass die Erstauflage von 2004 innerhalb kurzer Zeit vergriffen war, zeigt, dass das Thema „Nation“ nach wie vor großes Interesse auf sich zieht. Die Beiträge bieten eine gute Einführung in das Verhältnis zwischen Staat und Nation sowie die damit verbundene Frage zunehmender Ethnisierung und nationaler Homogenisierung der europäischen Nationalstaaten. Der Gattung „Ringvorlesung“ entsprechend handelt es sich um überblicksartig angelegte Texte, die allerdings von Wissenschaftlern mit langjähriger Forschungserfahrung und profunden Kenntnissen in den entsprechenden Themenfeldern verfasst wurden. Sie nutzen die relativ freie Form des öffentlichen Vortrags auch dazu, Meinungen pointiert zu vertreten. Dass dies auch in dem Band dokumentiert wird, macht seine Stärke aus.

Dieter Langewiesche leitet das Buch mit einem Artikel unter der Überschrift „Was heißt ‚Erfindung der Nation‘?“ ein. Er geht hier von Benedict Andersons viel zitierter, zuerst auf Englisch 1983 unter dem Titel „Imagined Communities“ erschienener Studie aus. Langewiesche will den Eindruck korrigieren, dass ein Zugriff wie bei Anderson und anderen wegweisenden Vertretern der Nationalismusforschung aus den 1980er-Jahren – nämlich die Nation nicht als etwas überzeitlich Gültiges, sondern als historisch geworden zu betrachten – bahnbrechend neu gewesen sei. Am Beispiel von Schriften Ernest Renans und Elias Canettis macht Langewiesche deutlich, dass ein solches Verständnis der Nation auch in der Hochzeit des Nationalismus am Ende des 19. Jahrhunderts und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts durchaus verbreitet war. Im zweiten Teil seines Vortrags diskutiert er die deutsche Reichsgründung von 1871 als „Erfindung der Nation“ und betont, dass sie unter wesentlichen Gesichtspunkten einen Bruch mit der bisherigen deutschen Geschichte bedeutete, zeitgenössisch aber als Verwirklichung ihrer Bestimmung dargestellt und so auch akzeptiert wurde.

Daran schließt Jost Dülffer mit einem Beitrag zur Bedeutung des Rechts auf nationale Selbstbestimmung in den Friedensregelungen nach dem Ersten Weltkrieg an. Er argumentiert, dass es sich dabei unter den leitenden Prinzipien für die Politik der Großmächte, auch der USA, um ein Prinzip von eher nachrangiger Bedeutung gehandelt habe, das nur dann stärker in den Vordergrund trat, wenn die Großmächte untereinander keine Einigung erzielen konnten.

Holm Sundhaussen behandelt die „Ethnisierung von Staat, Nation und Gerechtigkeit“ auf dem Balkan. Er sieht in dieser Region den Ursprung der Vorstellung, nationale Konflikte in und um Regionen mit gemischter Bevölkerung könnten nur durch – auch zwangsweise praktizierte – Umsiedlungen gelöst werden. Diese Vorstellung erfuhr mit dem griechisch-türkischen Abkommen von Lausanne 1923 völkerrechtliche Akzeptanz. Dies charakterisiert Sundhaussen als „Ethnisierung von Recht und Gerechtigkeit“ (S. 88), da Rechte bzw. ihr Entzug an ethnische Zugehörigkeiten gebunden wurden.

Hans Lemberg erläutert den Versuch in der Zwischenkriegszeit, mit Hilfe der Minderheitenschutzverträge einen völkerrechtlichen Schutz der nationalen Minderheiten in den nach dem Ersten Weltkrieg neu entstandenen Staaten zu etablieren. Trotz aller Unzulänglichkeiten dieses Versuchs kommt Lemberg doch zu einer vergleichsweise positiven Bewertung und wendet sich gegen das Bild, dass das Leben der Minderheiten in Ostmitteleuropa in den 1920er- und 1930er-Jahren allein von Unterdrückung und Verfolgung gekennzeichnet gewesen sei. Er sieht im internationalen Minderheitenschutz der Zwischenkriegszeit durchaus positive und erfolgversprechende Ansätze, die sich aber in den wenigen Jahren zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg nicht wirklich hätten entfalten können. Tatsächlich sei die mit den Pariser Friedensverträgen etablierte Ordnung durch die zunehmend aggressivere Politik Deutschlands unter Hitler und durch das allgemein abnehmende Vertrauen zerstört worden, dass ein dauerhaftes Zusammenleben von Mehrheit und Minderheit möglich sei, nicht aber durch die existierenden Konflikte zwischen Mehrheiten und Minderheiten in den ostmitteleuropäischen Staaten.

Daran schließt der Beitrag von Mathias Beer zur „nationalen Purifizierung“ in Europa während und nach dem Zweiten Weltkrieg an. Beer zeigt, wie das NS-Regime Umsiedlungen und Vertreibungen großen Ausmaßes als Teil einer geplanten „völkischen Neuordnung“ in Gang setzte, die zunehmend brutaler umgesetzt wurde und vielfach mit Massenmord verbunden war. Er sieht auch den Holocaust im Kontext dieser Politik. Der „Gedanke der Entmischung“ (S. 132), der schon vor dem Zweiten Weltkrieg als Weg zur Lösung von Nationalitätenproblemen akzeptiert worden sei, habe dann aber auch, verstärkt durch die Erfahrungen des Krieges, bei den Überlegungen der Alliierten für eine Neuordnung nach dem Zweiten Weltkrieg Pate gestanden. Dies betraf nun insbesondere die deutsche Bevölkerung im östlichen Europa und in den Gebieten Deutschlands, die an Polen angeschlossen wurden. Umsiedlungen fanden aber auch zwischen dem nach Westen verschobenen Polen und der Sowjetunion, zwischen Ungarn und seinen Nachbarn und an anderen Orten statt.

Während die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts von einer wachsenden kulturell-nationalen, häufig mit Zwang und Gewalt umgesetzten Homogenisierung der Staaten gekennzeichnet war, scheint die Zeit seither durch verschiedene, diese Homogenität und die Macht des Nationalstaats auflösende Entwicklungen charakterisiert zu sein. Zwar können die Kriege im ehemaligen Jugoslawien in den 1990er-Jahren und die damit verbundenen „ethnischen Säuberungen“ als eine Fortsetzung der Tendenzen zur Homogenisierung der Nationalstaaten während der ersten Hälfte des Jahrhunderts gesehen werden. Sie fanden nun aber keine völkerrechtliche Legitimierung mehr. Vielmehr enthielt das Dayton-Abkommen von 1995 für Bosnien-Herzegowina ein Rückkehrrecht für Flüchtlinge und Vertriebene; es brach also mit dem durch das Lausanner Abkommen von 1923 etablierten Modell.

Entwicklungen, die der Homogenisierung der Nationalstaaten und ihrer Macht in der Gegenwart widersprechen, werden in zwei weiteren Beiträgen thematisiert, verbunden mit der Frage nach möglichen Konsequenzen. Dieter Oberndörfer hält vor dem Hintergrund der prognostizierten demographischen Entwicklung in Deutschland während der kommenden Jahrzehnte ein engagiertes Plädoyer dafür, eine vermehrte Zuwanderung zu ermöglichen. Otfried Höffe diskutiert die Konsequenzen der Globalisierung für den demokratischen Nationalstaat. Er fordert die Modernisierung des nationalstaatlichen Selbstverständnisses und seine Ergänzung durch eine „Weltrepublik als föderale und subsidiäre Einheit“ (S. 208), um die Errungenschaften der liberalen, sozialen und partizipatorischen Demokratie auch unter den Bedingungen der Globalisierung erhalten zu können.

In einem weiteren Aufsatz behandelt Egbert Jahn die verschiedenen, miteinander konkurrierenden Entwürfe des Selbstverständnisses der 1991 aus der Sowjetunion hervorgegangenen Russländischen Föderation. Er unterscheidet hier zwischen einem Selbstverständnis Russlands als russischem Nationalstaat, als multinationalem Staat oder aber als Erbin der imperialen Traditionen des Zarenreiches und der Sowjetunion.

Insgesamt betrachten die Beiträge das Verhältnis von Nation und Staat und die Frage der Ethnisierung des Nationalstaats vorwiegend unter politikgeschichtlichen und damit verbundenen staats- und völkerrechtlichen Fragestellungen; sie gehen den größeren, strukturellen Veränderungen nach. Stärker alltagsgeschichtliche, an den Erfahrungen und Haltungen der Menschen anknüpfende Forschungsansätze, die die Thesen der Beiträge gewissermaßen „von unten“ erweitern oder kontrastieren könnten, enthält der Band hingegen nicht. In den Literaturlisten, die die einzelnen, nur mit knappen Anmerkungen versehenen Beiträge ergänzen, ist allerdings weiterführende Literatur zu finden, die es interessierten Leserinnen und Lesern ermöglicht, sich mit der Spezialforschung vertraut zu machen.

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