A. Flüchter: Zölibat zwischen Devianz und Norm

Cover
Titel
Der Zölibat zwischen Devianz und Norm. Kirchenpolitik und Gemeindealltag in den Herzogtümern Jülich und Berg im 16. und 17. Jahrhundert


Autor(en)
Flüchter, Antje
Erschienen
Köln 2006: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
463 S.
Preis
€ 54,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Margareth Lanzinger, Institut für Geschichte, Universität Wien

Antje Flüchter untersucht in diesem aus ihrer Dissertation hervorgegangenen Buch den Stellenwert, der dem Priesterzölibat in verschiedenen Phasen der Konfessionalisierung beigemessen wurde: von Visitatoren, Verfassern von Kirchenordnungen, weltlichen Herrschern, geistlichen Obrigkeiten, von führenden Mitgliedern der Pfarrgemeinden und nicht zuletzt von den Priestern selbst. Die Frage danach, wie der Zölibat in diesem historischen Kontext durchgesetzt wurde, ist von spezifischem Interesse, da es sich hierbei für die katholische Kirche – neben dem Laienkelch – um eines der beiden zentralen Elemente ihrer konfessionellen Identität und Abgrenzung gehandelt hat. Der gewählte Untersuchungsraum, die niederrheinischen Herzogtümer Jülich und Berg, weist in diesem Zusammenhang eine Besonderheit auf: Die dortigen Herzöge vertraten im 16. Jahrhundert eine von Erasmus von Rotterdam inspirierte via media, das heißt, sie legten sich in konfessionellen Fragen nicht fest, sondern nahmen eine neutrale Haltung in Streitpunkten ein, auch in Bezug auf die Priesterehe. Diese Offenheit, von der älteren Historiographie als Zeichen der Schwäche interpretiert, wertet Antje Flüchter in ihrem Buch im Sinne einer eigenständigen kirchenpolitischen Linie überzeugend um.

Diese Art des sich Positionierens erforderte eine immer wieder neue Auseinandersetzung mit konfessionellen Fragen und schlug sich in umfangreichem Quellenmaterial nieder, das Einschätzungen des Zölibats nachzeichnen lässt. Mit Implikationen und Grenzen des spezifischen Entstehungskontextes von Visitations- und Verwaltungsakten geht die Autorin reflektiert um. Ihr Anspruch, die Sicht der Priester und der Frauen, die oft in langjährigen Beziehungen lebten, sowie der Gemeindemitglieder zu erfassen, ist sehr wichtig, um einem einseitig normzentrierten Zugang entgegen zu steuern. Auch wenn sich dieser Anspruch aufgrund der obrigkeitlich gefilterten Überlieferung nur zum Teil einlösen lässt, kann eine solche Herangehensweise das Spektrum der Fragestellungen und damit den interpretatorischen Rahmen dennoch gewinnbringend erweitern und differenzieren, wie die Studie zeigt. Neben Kirchenordnungen und theologischen Schriften wurden des Weiteren Beschwerdebriefe, Suppliken und Prozessprotokolle ausgewertet, welche die Perspektiven auf verschiedene Detailfragen ergänzen.

Das Buch ist in sieben Abschnitte gegliedert. Im Einleitungsteil definiert Antje Flüchter verschiedene Beziehungsformen zwischen Priestern und Frauen und skizziert die jülich-bergische Kirchenpolitik in groben Zügen. Darüber hinaus fragt sie nach den institutionellen Zwischengewalten der Herrschaft, um das Durchsetzen von Normen nicht als linearen und disziplinierenden top-down-Akt zu sehen, sondern als eingebunden in ein komplexes Gefüge an Interessen und Kommunikationswegen. Darauf folgen weitere einführende Kapitel. Das zweite behandelt Positionen und Diskussionen bezüglich des Zölibats in chronologischer Abfolge: "von der alten Kirche bis zur Reformation", in der Reformation und im Kontext des Konzils von Trient. Die Autorin führt unter anderem Regelungen und Sanktionen seit dem 2. Laterankonzil 1139 im Zusammenhang mit Priesterkonkubinaten aus und fragt nach den Begründungen des Zölibats. Diese waren von Vorstellungen der Reinheit und Konzepten der Amtsführung geprägt, nicht zuletzt aber auch von Interessen ökonomischer Natur: Kirchengut sollte nicht im Erbgang "entfremdet werden" (S. 54f.). Mit der Reformation, der Möglichkeit der Priesterehe und der grundsätzlichen Aufwertung der Ehe als von Gott gewolltem Stand trat die Diskussion um den Zölibat in eine neue und kontroverse Phase. Das Konzil von Trient formulierte seinerseits die Grundlagen der katholischen Reform. Das Ideal des "guten Hirten" und Seelsorgers wurde besonders hervorgehoben und damit der besondere Status des Priesters, der auch in seiner Lebensführung zum Ausdruck kommen sollte. Im Unterschied zur protestantischen Kirche rangierte Enthaltsamkeit in der katholischen Werteskala über der Ehe. In diesem Spannungsfeld standen in der Folge die Auseinandersetzungen um den Zölibat. Kapitel drei führt näher in die Vorgeschichte der jülich-bergischen landesherrlichen Kirchenpolitik ein, die bereits in vorreformatorischer Zeit ein wichtiges Handlungsfeld konstituierte. Sie war vom Bestreben gekennzeichnet, sich die Zuständigkeit in religiösen Belangen inklusive der Jurisdiktion und der Lebensführung der Kleriker zu sichern und den diesbezüglichen Aktionsradius des Kölner Erzbischofs zu begrenzen, was nicht ohne Streit abging. Eine Voraussetzung für die eigenständige Kirchenpolitik der Herzöge war laut Flüchter, dass die Landdechanten als wichtige Zwischeninstanz dem Landesherrn verantwortlich waren.

Die Kapitel im Kernteil des Bandes sind der via media gewidmet: ihren Anfängen und der Hochphase unter Wilhelm V. (1539-1566), ihrem Kontext im Spannungsfeld einer "konfessionalisierten Umwelt" zwischen 1567 und 1614 und ihrem Ende mit der Katholisierung im 17. Jahrhundert (Kapitel vier, fünf und sechs). Damit vertritt Antje Flüchter eine Chronologie, die von der der bisherigen Forschungsmeinung abweicht, nach der sich bereits ab den 1560er-Jahren der Schwenk in Richtung Katholisierung vollzog. Die via media zielte auf einen Ausgleich zwischen den Konfessionen und damit auf gesellschaftliche Stabilität ab. Sie war auf eine humanistisch-erasmische Grundlage gestützt, deren Schwerpunkt weniger auf theologischen Wahrheiten als auf Nächstenliebe lag, und bot somit einen relativ weiten Handlungsraum für die herzogliche Politik. Einzelne Etappen und Reformschritte auf normativer Ebene arbeitet Antje Flüchter detailliert heraus, ebenso die Praxis der Vermittlung und Kontrolle. Deutlich wird, dass die klerikale Amtsführung sowie die Regelung wirtschaftlicher Konfliktbereiche im Zentrum der Bemühungen standen – so auch in den Kirchenordnungen von 1525 und 1532. Der Zölibat war hier kein Thema, in Schriften rund um die Kirchenordnungen wurde er hingegen sehr wohl diskutiert und eingefordert – so in einem Memorial der jülich-bergischen Räte und in den Vorarbeiten für die Instruktionen zur Visitation (S. 142). Die landesherrliche Visitation von 1533 legte ihren Fokus auf die Umsetzung der Kirchenordnung, also vor allem auf Mängel in der Amtsführung. Die Frage der Beziehung von Priestern zu Frauen nahm auch in den dafür ausgearbeiteten Instruktionen keine zentrale Position ein und wurde in den Berichten nur ausnahmsweise und wenig konkret angesprochen. Auffällig ist dennoch die Betonung, dass bei dem einen oder anderen Priester die Mutter oder eine Schwester als Magd arbeite oder dass er keine Konkubine habe – der Zölibat als Normerwartung klingt hier zumindest an. Aus dem Material lässt sich schließen, dass etwa ein Fünftel der Priester in dieser Zeit im offenen Konkubinat lebte. Der Zölibat wurde in weiterer Folge wohl als herzoglicher Wunsch deklariert, aber nicht als Notwendigkeit (S. 182), auch unter dem Vorzeichen, dass noch nicht klar war, ob die Priesterehe nicht doch freigestellt würde. Nach der Mitte des 16. Jahrhunderts zielten Edikte und Verordnungen tendenziell auf die Stärkung des katholischen Glaubens, der Seelsorge und des religiösen Lebens in den Gemeinden. Die Kontrolle bei den Visitationen und Inspektionen war in dieser Zeit deutlich auf Ausbildung und Qualifikation der Seelsorger gerichtet; entsprechende Examinationen sind in den Visitationsprotokollen dokumentiert (S. 303). In dieser Zeit scheinen fast 40 Prozent Priester auf, die im Konkubinat lebten, ein Drittel davon mit Kindern – über die sich die Gemeindevertreter aber trotzdem zufrieden äußerten. Zu Klagen kam es in der Regel nur dann, wenn andere Probleme, etwa nachlässige oder problematische Amtsführung, mit im Spiel waren. Auch in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts war der Zölibat nicht Mittelpunkt der herzoglichen Kirchenpolitik.

Die Folgezeit stand dann im Zeichen der zunehmenden konfessionellen Abgrenzung. Ab den 1650er-Jahren scheinen Konkubinate in den Visitationsprotokollen praktisch nicht mehr auf – zu einem Zeitpunkt, an dem die Obrigkeit die Durchsetzung des Zölibats nachdrücklich forderte. Doch sind für diese Zeit um so mehr Konfliktfälle zwischen Geistlichen und ihren Gemeinden dokumentiert, die nicht ganz in das Bild passen, dass Ende des 17. Jahrhunderts eine Verinnerlichung des Zölibats unter den Geistlichen bzw. ein Unrechtsbewusstsein diesbezüglich in den Gemeinden vorgeherrscht und es nur einige wenige "schwarze Schafe" gegeben habe (S. 339). Die Haltung gegenüber Priesterkonkubinaten hat sich aber wohl dahingehend verändert, dass deren Geheimhaltung nun angebracht schien. Den Abschluss des Bandes bildet ein Abschnitt, der die wichtigsten Ergebnisse nochmals zusammenfasst.

Das systematische Durchforsten des Materials in Hinblick auf das Thematisieren und mehr noch auf das Nichtthematisieren des Zölibats macht den Prozesscharakter dieser Konfessionalisierungsfrage ebenso deutlich wie die Notwendigkeit einer akribischen Herangehensweise, führt jedoch auch zu gewissen Wiederholungen. Mit Bedacht auf eine theoretische Fundierung des Zugangs bezieht die Autorin sowohl instrumentelle als auch symbolische Aspekte in ihre Analyse ein. Das Norm-Praxis-Verhältnis wird dabei über Kommunikation und Inszenierung gefasst, auch von Disziplinierung ist immer wieder die Rede – die Differenziertheit im Auswerten des Materials und in der Darstellung lässt dieses Gerüst bisweilen zu eng erscheinen. Insgesamt gesehen ist es eine fundierte Studie. Sie fügt sich in die Reihe neuerer Forschungen ein, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Konfessionalisierung in ihrer Vielschichtigkeit zu thematisieren.

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