T. Stamm-Kuhlmann (Hrsg.): Pommern im 19. Jahrhundert

Titel
Pommern im 19. Jahrhundert. Staatliche und gesellschaftliche Entwicklung in vergleichender Perspektive


Herausgeber
Stamm-Kuhlmann, Thomas
Reihe
Veröff. d. Historischen Kommission für Pommern V 43
Erschienen
Köln 2007: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
333 S.
Preis
€ 37,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Sienell, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Archiv

Der von Thomas Stamm-Kuhlmann herausgegebene Sammelband enthält Aufsätze von 13 Autoren und vereinigt deren Beiträge zu einem Symposium, das im Oktober 2005 in Greifswald stattgefunden hat. In seiner Einführung betont Stamm-Kuhlmann einerseits die Bedeutung Pommerns für das preußische Selbstverständnis, andererseits aber auch die ausgebliebene Industrialisierung Pommerns, das im 19. Jahrhundert ganz überwiegend agrarisch dominiert blieb. Zum besseren Verständnis dafür muss der Blick nicht allein auf Pommern konzentriert bleiben, sondern im Kontext zur gesamtstaatlichen Entwicklung gesehen werden. Die Pluralität von Faktoren, die für eine Tendenz in die eine oder andere Richtung verantwortlich ist, macht es jedem Historiker schwer, die Gründe greifbar zu machen. Der Gefahr eines teleologischen Geschichtsbildes ist dabei entgegenzutreten. Ein behutsamer Umgang mit dem Begriff der "Modernisierung" ist notwendig. Geschichte hängt immer an einzelnen Persönlichkeiten, die sich entsprechenden Einfluss erworben haben, um Dinge zu lenken. Daher ist es nur konsequent, wenn in nahezu allen Aufsätzen exponierte Akteure im Mittelpunkt der Darstellung stehen.

Entsprechend dieser Überlegungen beschäftigen sich einige der Beiträge mit grundsätzlichen Fragen der Veränderungen in Preußen (Beck, Hinz, Kiesewetter, Brophy und Freytag) und einige mit der spezifischen Situation in Pommern (Holtz, Wagner, Wlodarczyk, Mellies und Greißler). Mit den (personellen) Verflechtungen zwischen Pommern und der Rheinprovinz beschäftigen sich drei Beiträge (Weise, Düwell und Inachin).

Hermann Beck, Florida, leitet den Band mit einem knappen Abriss über konservative Politik respekive Politiker (Josef Maria von Radowitz und Hermann Wagener) und ihre mitunter weit auseinander liegenden Positionen gegenüber den "Modernisierungstendenzen" in Preußen ein (S. 13-29). Er weist dabei auch auf bemerkenswerte Parallelitäten zwischen politisch Entfernten, wie beispielsweise zwischen dem Konservativen Wagener und dem Sozialisten Lassalle hin und erwähnt auch noch die Rezeption konservativer Ideen durch die Nationalsozialisten.

Bärbel Holtz, Berlin, behandelt die "Personalpolitik" der Berliner Zentrale hinsichtlich der obersten Verwaltungsbehörden Pommerns zwischen 1815 und 1858 (S. 31-76). Die Frage, unter welchen Aspekten die Ämter des Regierungspräsidenten von Stralsund, Köslin und Stettin und das des mit letzterem in Personalunion geführtem Amt des Oberpräsidenten vergeben wurden, untersucht Holtz aufgrund der Aktenüberlieferung des Staatsministeriums, das dem Monarchen Vorschläge zu unterbreiten hatte. Sie kann feststellen, dass offenbar kein besonderes System verfolgt wurde. Die bisherige Karriere und eine persönliche Beziehung zu Pommern waren ebenso unerheblich für die Ernennung wie die politische Ausrichtung der Prätendenten, die in aller Regel wenig erfreut über eine Versetzung nach Pommern waren; nach 1848 wurden die Auseinandersetzungen zur Durchsetzung eines Kandidaten härter.

Über die Möglichkeiten, die ein Oberpräsident hatte, Impulse mit langfristiger Wirkung zu setzen, berichtet Johannes F. Weise, Schwerin, in seiner biographischen Studie über Johann August Sack (1764-1831), der eine Intrige hinter seiner Versetzung vom wichtigen Rheinland in die Provinz Pommern vermutete, sich dann aber ganz seiner Aufgabe widmete und erfolgreich arbeitete (S. 77-89).

Die beiden Aufsätze von Kurt Düwell, Düsseldorf, und Kyra T. Inachin, Greifswald, über die "Provinzialstände als Entwicklungsakteur" anhand der Beispiele Rheinprovinz (Düwell, S. 91-109) und Pommern (Inachin, S. 111-128) ergänzen einander. Beide behandeln die Provinzialstände bis in die 1840er-Jahre hinein; in der Rheinprovinz waren sie "bloße Konsultanten" (S. 106) in zumeist wirtschafts- und handelspolitischen Fragen und auch in Pommern waren ihre Kompetenzen zu stark eingeschränkt, um effektiver für das Land arbeiten zu können. Die "vergleichende Perspektive", von der im Untertitel des Bandes die Rede ist, muss der Leser hier freilich selbst leisten, da beide Aufsätze für sich isoliert stehen und der Vergleich eben nicht geboten wird.

Patrick Wagner, Halle/Saale, betrachtet das Verhältnis zwischen den ostelbischen Junkern und den Bauern vor dem Hintergrund politischer Partizipation. Seine differenzierte Darstellung reicht über den pommerschen Raum hinaus vergleichend bis nach West- und Ostpreußen und Schlesien und ist sicherlich einer der überzeugendsten des Bandes.

Von Edward Wlodarczyk, Szczecin, stammt ein vergleichender Beitrag über die kommunale Selbstverwaltung in Danzig und Stettin um 1900 (S. 147-163), der unter anderem die Zusammensetzung des Stettiner Stadtrates mit dem Danziger vergleicht und nicht zuletzt durch die Einbeziehung von Archivalien aus Berlin, Greifswald und Stettin zu bemerkenswerten Ergebnisse kommt.

Die folgenden beiden Beiträge beschäftigen sich mit dem Schulwesen in Preußen (Renate Hinz, Dortmund, S. 167-208) bzw. in Pommern (Dirk Mellies, Greifswald, S. 209-232). Das Elementarschulwesen steht im Mittelpunkt der Ausführungen von Hinz, die mit zahlreichen Graphiken von einem Blick über alle preußischen Provinzen hinsichtlich Schulbesuchsquote, Lehrerausbildung und Ausgaben für das Elementarschulwesen nach Pommern schwenkt und dort zwischen dem eher rückständigen ländlichen und progressiveren städtischen niederen Schulwesen unterscheidet. Auf Pommern und die staatliche Schulpolitik im städtischen und ländlichen Raum konzentriert sich die Darstellung von Mellies. Er kann feststellen, dass das Stadt-Land-Gefälle durchaus analog zu anderen Provinzen zu sehen ist. Bei Indikatoren wie der Analphabetenrate und der Höhe des Lehrergehaltes befindet sich Pommern im Mittelfeld; ausgeprägter als katholische oder polnischsprachige Gebiete, aber hinter anderen protestantischen Gebieten sowie westlichen Provinzen zurückbleibend.

Der Aufsatz von Hubert Kiesewetter, Eichstätt, über "Industrialisierung und ausgebliebene Industrialisierung in Preußen" (S. 233-252) fungiert gleichsam als Einführung zu den Eisenbahn-Beiträgen von James M. Brophy, Delaware, über "Eisenbahnbau als Modernisierungsstrategie?" in Preußen im zweiten und dritten Viertel des 19. Jahrhunderts (S. 253-273) und Andreas Geißler, Berlin, über den Bau regionaler Bahnen in Pommern 1880-1914 (S. 275-294). Kiesewetter wendet das von ihm entwickelte Faktorenmodell (gegenüber dem Zentrum-Peripherie-Modell) auf Preußen bzw. Pommern an. Als Ursachen für die ausgebliebene Industrialisierung Pommerns sieht er die geringe Bevölkerungsdichte, das Fehlen von Steinkohlevorkommen, eine kleine und verspätet eingerichtete Streckenlänge der Eisenbahn und schließlich die landwirtschaftliche Verschuldung bzw. den vergleichsweise geringen Anstieg des Bodenverkehrswertes. Brophy erkennt, dass die Eisenbahnpolitik in Preußen "akzidentiell" (S. 255) gestaltet wurde und nicht mit den Modernisierungsetappen der preußischen Wirtschaftspolitik (Reformära/Vormärz, Take-off, 1870er-Jahre) korrespondierte. Die Initiativen zum Eisenbahnbau nahmen überwiegend von privater Seite ihren Ausgang. In Pommern – so erhellt sich aus Geißlers Aufsatz – profitierte das Land von der Einrichtung des als sehr erfolgreich zu bezeichnenden Eisenbahnfonds, der nach dem Ausbau der überregionalen Bahnverbindungen bis Ende der 1870er-Jahre den Bau von Nebenbahnstrecken ermöglichte. Zwei private Bahnlinien und drei staatliche konnten bereits in den 1880er-Jahren eröffnet werden, einige weitere kamen in den folgenden Jahren noch dazu.

Der Band schließt mit einem Beitrag von Nils Freytag, München, zu der Frage "Mentalitäten als Modernisierungshindernisse?" (S. 295-311). Er bietet zunächst einen Überblick über die Mentalitätengeschichte als Forschungsfeld und anschließend einen knappen Abriss über mögliche Quellen hierzu. Zu Pommern hat dieser Beitrag – sieht man von ein paar einleitenden Zitaten ab – leider keinen Bezug.

Der von der Historischen Kommission für Pommern herausgegebene Band beeindruckt durch die durchwegs hohe Qualität der Beiträge, die sich als aktuell und am Puls der Forschung präsentieren. Fast alle Autoren verwenden archivalische Quellen – zumeist aus dem Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin-Dahlem – oder gedruckte Primärquellen. Nicht wenige der Autoren konnten aus ihren rezenten Arbeiten zu ihren jeweiligen Themen schöpfen, was sich in einem souveränen Stil in der Darstellung niederschlägt (zum Beispiel Düwell, Inachin, Wagner, Kiesewetter, Geißler u. Freytag). Aber auch die Aufsätze über derzeit aktuelle Forschungsunternehmungen, in denen auf noch zu klärende Fragen hingewiesen wird (zum Beispiel Holtz u. Mellies) dokumentieren die Aktualität des Bandes und erzeugen Vorfreude auf die weiteren Ergebnisse der Autorinnen und Autoren.

Das Fehlen eines Registers ist durchaus kein Mangel für diesen Band, der mit einer aktuellen Bibliographie zum Thema schließt (S. 313-332). An einigen Stellen scheint die Auswahl der Beiträge unter konzeptionellen Aspekten diskussionswürdig zu sein. Die Aufsätze von Düwell und Freytag haben bestenfalls geringe Bezüge zu Pommern. Die im Untertitel angesprochene "vergleichende Perspektive" wird immerhin in rund der Hälfte aller Aufsätze erfüllt. Die übrigen Aufsätze, die für sich wertvolle Analysen unterschiedlicher Aspekte der Entwicklungen in Pommern liefern, hätten vom Herausgeber in einem Epilog oder einer ausführlicheren Einleitung komparatistisch ausgewertet werden können. Dem Untertitel wird der Band daher nur bedingt gerecht; den Autoren ist für ihre gelungenen Beiträge zur pommerschen Landeskunde Anerkennung und Dank auszusprechen.