A. Bautz: Sozialpolitik statt Wohltätigkeit?

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Titel
Sozialpolitik statt Wohltätigkeit?. Der Konzeptionswandel städtischer Fürsorge in Sankt Petersburg von 1892 bis 1914


Autor(en)
Bautz, Annegret
Reihe
Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 68
Erschienen
Wiesbaden 2007: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
221 S.
Preis
€ 58,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Beate Althammer, Sonderforschungsbereich 600 "Fremdheit und Armut", Universität Trier

An der Wende zum 20. Jahrhundert profilierten sich die europäischen Großstädte als Vorreiter einer neuen Wohlfahrtspolitik, die über die traditionelle Armenfürsorge hinausging. Im Zuge von Industrialisierung und Binnenmigration ballten sich in ihnen die sozialen Probleme in besonders augenfälliger Weise; sie verfügten aber auch über die materiellen und personellen Ressourcen für innovative Lösungsstrategien. In den letzten zwei Jahrzehnten haben etliche Fallstudien zu Städten etwa des Deutschen Reichs oder der Habsburgermonarchie den Aus- und Umbau des kommunalen Wohlfahrtswesens samt Defiziten und Schattenseiten nachgezeichnet.1 Nun hat Annegret Bautz eine Studie vorgelegt, die mit einer analogen Fragestellung an die russische Metropole Sankt Petersburg herangeht. Sie will untersuchen, inwieweit die städtische Selbstverwaltung unter dem Druck des sozioökonomischen Wandels die Prinzipien der Armenfürsorge veränderte beziehungsweise jenseits davon sozialpolitische Initiativen ergriff, die den Unterschichten zugute kamen. Bautz will dabei nicht nur das gesamte Spektrum der wohlfahrtsrelevanten Aufgabenfelder berücksichtigen, sondern auch Veränderungen des Selbstverständnisses und der Problemwahrnehmung der gesellschaftlichen Eliten aufzeigen. Ihr zentrales Anliegen ist es zu belegen, dass die Verantwortlichen ein Bewusstsein für das qualitativ Neue an den Armutsphänomenen des einsetzenden Industriezeitalters entwickelten und dass dieser Bewusstseinswandel zu neuen Fürsorgekonzepten führte, die sich nicht mehr nur an die traditionelle Zielgruppe der arbeitsunfähigen Armen richteten.

Nach dem einleitenden Kapitel, das Fragestellung, Forschungsstand und Quellenlage skizziert, gliedert sich die Arbeit in drei Teile. Der erste thematisiert die rechtlichen Rahmenbedingungen und die institutionelle Ausgestaltung der russischen sowie der Petersburger Armenfürsorge zu Beginn des Untersuchungszeitraums. Ein längerer Abschnitt ist den Bettlerkomitees gewidmet, die der Staat in den 1830er-Jahren in den beiden Hauptstädten eingerichtet hatte.2 Daneben werden die übrigen Träger institutionalisierter Armenhilfe knapp vorgestellt, von den ständischen Korporationen, die auch in den letzten Jahrzehnten des Zarenreichs eine zentrale Funktion behielten, über die rasch expandierenden privaten Wohltätigkeitsorganisationen, die Kirchengemeinden und die kaiserlichen Stiftungen bis hin zu den lokalen Selbstverwaltungsorganen, die im Kontext der Reformen der 1860er-Jahre entstanden waren. Die Petersburger Stadtverwaltung trat somit erst seit den 1870er-Jahren als eigenständiger Akteur im heterogenen Gefüge der lokalen Armenfürsorge auf, das sich zwar insgesamt dynamisch entwickelte, aber doch ein nur äußerst dürftiges Sicherungsnetz bildete.

Der zweite Teil versucht, zunächst eine Vorstellung von dem Problemdruck zu vermitteln, der in der Haupt- und Industriestadt Sankt Petersburg durch die massive Zuwanderung vom Land und die niedrigen Einkommen der Unterschichten entstanden war. Weitere Abschnitte befassen sich mit der von Ärzten angestoßenen Debatte über hygienische Missstände in den Wohnquartieren der Armen und der polizeilichen Wahrnehmung von Armut, wie sie sich in den Jahresberichten des Stadthauptmanns niedergeschlagen hat. Der längste Abschnitt resümiert sodann die staatlichen Bemühungen um eine Reform der Armen- und Bettlergesetzgebung, die unter dem Eindruck der Hungersnot von 1891/92 einsetzten. Bautz entfernt sich also erneut von der städtischen Ebene, wobei in den zuständigen Regierungskommissionen jedoch auch städtische Vertreter saßen und die diskutierten Reformen die Interessen der Städte unmittelbar betrafen. Heftig umstritten war insbesondere die Frage, ob weiterhin die bäuerliche Herkunftsgemeinde für Migranten, die in der Stadt verarmten, aufzukommen habe oder ob zum Wohnortsprinzip übergegangen werden solle. Da die Gesetzesreform nicht zustande kam, blieb, anders als in den meisten westeuropäischen Staaten, das Herkunftsprinzip maßgebend.

Der letzte Teil wendet sich den Organen, Handlungsspielräumen und sozialpolitischen Initiativen der Petersburger Selbstverwaltung zu. Im Zentrum steht die Überführung des bisher staatlichen Bettlerkomitees in die städtische Verantwortung und der damit verbundene Aufbau eines Systems der offenen, also anstaltsexternen, Armenfürsorge kurz nach der Jahrhundertwende. Petersburg folgte dabei dem Vorbild Moskau, wo man sich wiederum am Elberfelder System orientiert hatte. Allerdings blieb das neue System weit hinter den ursprünglichen Erwartungen zurück, so dass kaum von einer durchgreifenden Neugestaltung des Fürsorgewesens gesprochen werden kann. In den abschließenden Abschnitten schließlich werden einige sozialpolitische Aktivitäten der Stadtverwaltung jenseits der Armenfürsorge angesprochen, von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen im Gefolge der Unruhen von 1905 über Wohnungsbauprojekte (deren Realisierung sich jedoch auf den Bau einiger Nachtasyle beschränkte) bis hin zur Expansion des städtischen Volksschul- und Gesundheitswesens. Vor allem in diesen letzten beiden Bereichen konnte die Stadt merkliche Fortschritte erzielen – trotz eines nach wie vor deutlichen Rückstands gegenüber westeuropäischen Großstädten, der sich etwa an Einschulungsraten oder Sterbeziffern ablesen lässt. In ihrer knappen Bilanz insistiert die Autorin darauf, dass in Teilen der städtischen Eliten tatsächlich ein Bewusstseinswandel stattgefunden habe, obgleich viele der als wünschenswert erachteten Reformen an begrenzten finanziellen Mitteln und diversen Widerständen scheiterten.

Annegret Bautz hat eine beeindruckende Menge an – vorwiegend publizierten – Quellen ausgewertet, die belegen, dass soziale Fragen im Russland der Jahrhundertwende ähnlich intensiv debattiert wurden wie in anderen europäischen Staaten. Es ist kein geringes Verdienst der Studie, dieses Material zusammengetragen und daraus Grundzüge der Petersburger Wohlfahrtsgeschichte herausdestilliert zu haben, denn in der Historiographie zu Russland scheint es, mit einer Ausnahme 3, kaum einschlägige Vorarbeiten zu geben. Deshalb wäre es unfair, hier die gleichen Maßstäbe anzulegen wie an eine weitere Fallstudie zum Wohlfahrtswesen einer deutschen Stadt. Hinzu kommt, dass Bautz keinen Zugang zum Petersburger Stadtarchiv hatte. Dass sie so gut wie gar nichts über den Alltag der armenpolitischen Institutionen und über die Armen selbst zu berichten weiß, ist wohl zumindest teilweise diesen schwierigen Umständen anzulasten. Dennoch kann die Arbeit auch gemessen an ihren eigenen Ansprüchen nicht durchweg überzeugen. Irritierend wirkt vor allem, dass Bautz immer wieder von Bewusstsein und von Mentalitäten spricht, ohne klar zu machen, was sie darunter eigentlich versteht und wie es methodisch zu fassen wäre. Die entsprechenden Abschnitte beschränken sich auf die Darlegung von Meinungsäußerungen, losgelöst von allen Faktoren, die die Ausprägung von „Mentalität“ erklären könnten. Außerdem leidet die Arbeit an einer nicht sehr stringenten Präsentationsweise, deren Unübersichtlichkeit durch ausufernde Fußnoten noch verstärkt wird. Ein Index, der bei der Orientierung hätte helfen können, fehlt. Dankenswerterweise sind jedoch alle Zitate übersetzt, so dass das Buch auch für Leser ohne Russischkenntnisse zugänglich ist.

Trotz dieser Kritikpunkte hat Bautz einen wichtigen Baustein zur Geschichte der Sozialpolitik geliefert, an den einerseits zukünftige Arbeiten zu Russland anknüpfen können und der andererseits Anregungen für längst überfällige vergleichende und transfergeschichtliche Untersuchungen bietet. Obwohl sie diesen Faden nicht explizit aufgreift, wird deutlich, dass die russischen Wohlfahrtsexperten in den transnationalen Fachdiskurs eingebunden und über ausländische Entwicklungen bestens informiert waren. Insofern erstaunt es nicht, wenn ihre Argumente und Lösungsvorschläge vielfach international gängigen Mustern folgten. Wenn Gemeinsamkeiten, Unterschiede, wechselseitige Beeinflussungen oder auch Rivalitäten und Abgrenzungen beim Entwurf von Reformkonzepten systematisch analysiert würden, dürfte sich auch die mögliche Bedeutung von „Mentalitäten“ genauer abschätzen lassen.

Anmerkungen:
1 So z.B. Paul Brandmann, Leipzig zwischen Klassenkampf und Sozialreform. Kommunale Wohlfahrtspolitik zwischen 1890 und 1929, Köln 1998; Wilfried Rudloff, Die Wohlfahrtsstadt. Kommunale Ernährungs-, Fürsorge- und Wohnungspolitik am Beispiel Münchens 1910-1933, Göttingen 1998; Susan Zimmermann, Prächtige Armut. Fürsorge, Kinderschutz und Sozialreform in Budapest. Das „sozialpolitische Laboratorium“ der Doppelmonarchie im Vergleich zu Wien 1873-1914, Sigmaringen 1997.
2 Vgl. hierzu jetzt auch Hubertus Jahn, Das St. Petersburger Bettlerkomitee, 1837-1917, in: Beate Althammer (Hrsg.), Bettler in der europäischen Stadt der Moderne. Zwischen Barmherzigkeit, Repression und Sozialreform, Frankfurt am Main 2007, S. 91-111.
3 Adele Lindenmeyr, Poverty is not a vice. Charity, society and the state in imperial Russia, Princeton 1996.

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