Des Parisiens sous l'occupation

Des Parisiens sous l'occupation

Veranstalter
Bibliothèque historique de la ville de Paris
Ort
Paris
Land
France
Vom - Bis
20.03.2008 - 01.07.2008

Publikation(en)

Paris bibliothèques; Roger Viollet (Hrsg.): Les Parisiens sous l'occupation. Photographies en couleur d'André Zucca. Paris 2008 : Édition Gallimard, ISBN 978-2-07-012021-5 176 S., zahlr. SW- und 200 Farbabb. € 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniela Kneißl, Deutsches Historisches Institut Paris

„Ich werde also von einem Buchstaben sprechen.“ Mit diesem Satz beginnt Jacques Derridas Aufsatz über die „différance“, die man korrekt mit „e“, also „différence“ schreibt. Der rein grafisch existierende, weil unhörbare Unterschied zwischen den Vokalen „e“ und „a“ ist, wie Derrida ausführt, nicht mehr Teil des sinnlich Erfahrbaren, sondern manifestiert sich als ein „seltsamer Raum“, der zwischen Sprechakt und Schrift angesiedelt ist.1 Auch im Falle der Pariser Ausstellung mit Fotografien von André Zucca muss man zunächst über einen einzelnen Buchstaben sprechen, der im Ausstellungstitel nachträglich geändert wurde: Aus „Les Parisiens sous l’occupation“ (Die Pariser unter der Besatzung) wurde Ende April, nach gut einem Monat Ausstellungsdauer, „Des Parisiens sous l’occupation“ (Pariser unter der Besatzung). Dieser Unterschied ist grafisch sichtbar und sogar hörbar – aber ist er in der Ausstellung sinnlich erfahrbar, oder bleibt er doch auf den „seltsamen Raum“ der öffentlichen Auseinandersetzung beschränkt?

Die hitzige Diskussion, von der auch in der deutschen Presse wiederholt berichtet wurde, drohte in den letzten Wochen mehrfach zu entgleisen, obwohl die Zucca-Ausstellung zunächst eher als Ausläufer einer anderen Ausstellung gesehen und nur wenig wahrgenommen wurde. Bis zum 31. März nämlich lief im Hôtel de Ville noch die seit Anfang Dezember 2007 kostenlos zugängliche Fotoausstellung „Paris en couleurs“. Die dort präsentierte Vielfalt des schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts farbig fotografierten Paris war durchweg positiv, teils sogar euphorisch aufgenommen worden. Im Katalog waren für die Zeit von 1940 bis 1944 gerade einmal zehn Seiten reserviert2, wo es über André Zucca heißt, dass seine Bilder „erstrangige Dokumente für das Pariser Leben unter der Besatzung“ seien (S. 98). Diese Sichtweise könnte als Motto über dem Ausstellungskonzept der Bibliothèque historique stehen.

Im Untergeschoss der Bibliothek werden auf recht engem Raum 270 Bilder präsentiert, die nach Aufnahmeorten gruppiert sind. Der Rundgang gleicht also einer „Entdeckungsreise“ in die Vergangenheit der Pariser Stadtviertel, in denen so vieles unverändert geblieben ist. Dies ist die unterschwellige Botschaft der Ausstellung: Krieg und Besatzung haben das Gesicht der Stadt nicht entscheidend verändert. Die Gegenwart der Deutschen, so unübersehbar sie ist, scheint sich fast ausschließlich auf einer vordergründigen Ebene abzuspielen: Propagandaplakate an Mauern, deutschsprachige Wegweiser und Beschilderungen an Gebäuden sowie die stets an ihrer Uniform zu erkennenden Deutschen. Das besetzte Paris wirkt mit den vielen Fahrradfahrern zwar etwas provinziell, bietet alles in allem aber ein Bild entspannter Gelassenheit. Bilder von Menschen, die über die Boulevards flanieren, Cafés bevölkern oder sich am Seinestrand sonnen, überwiegen zahlenmäßig bei Weitem. Menschen, die vor Geschäften Schlange stehen oder auf dem Markt nach Resten suchen, sind dagegen selten. Der Mangel der Kriegsjahre lässt sich meist nur erahnen bzw. erscheint in Form von Metaphern wie Schuhen mit Holzsohlen, die gleichwohl mit Anmut getragen werden.

Sah so das Leben der Pariserinnen und Pariser unter der Besatzung aus? Christophe Girard jedenfalls, seit den Kommunalwahlen (am 9. und 16. März) Kulturbeauftragter der Stadt, war schockiert: Am 17. April ordnete er die Entfernung der Ausstellungsplakate an und forderte die Schließung der Schau.3 Der gerade im Amt bestätigte Pariser Bürgermeister Bertrand Delanoë genehmigte dagegen am 21. April die Fortsetzung, allerdings unter der Bedingung, die Besucher besser über die Besonderheit der Bilder und ihr Verhältnis zum Alltag unter der deutschen Besatzung aufzuklären. Seither wird jedem Besucher am Eingang ein „Warnhinweis“ (Avertissement) ausgehändigt, der die als unzureichend kritisierten Informationstafeln im Ausstellungsraum ergänzen soll.4 Der Text stellt eine Kurzfassung von Pierre Azémas Einleitung im Katalog dar und betont noch einmal, dass Zuccas Farbbilder nicht für die deutsche Zeitschrift „Signal“ gedacht waren5, für die er seit 1941 arbeitete, und deshalb nicht als Propagandabilder gelten könnten. Die Fotos seien vielmehr Dokumente für den Blick eines „germanophilen Ästheten“. Zudem wird darauf verwiesen, dass die Farbfilme der 1940er-Jahre nur bei ausreichendem Sonnenlicht ein befriedigendes Ergebnis erbrachten, was wohl als ausreichende Erklärung für die auffallend heitere Atmosphäre betrachtet wird.

Andere Fragen bleiben nach wie vor unbeantwortet. Seit dem 16. September 1940 waren in der deutsch besetzten Zone Aufnahmen im Freien verboten; Berufsfotografen mussten eine Genehmigung einholen und diese regelmäßig erneuern lassen. Alle Bilder mussten vor der Veröffentlichung zudem die deutsche Zensur durchlaufen (S. 5). Konnte Zucca unter diesen Bedingungen einfach fotografierend die Stadt durchstreifen? Wurden ihm – als einzigem französischem Fotografen überhaupt – die teuren und seltenen Farbfilme wirklich für private Zwecke ausgehändigt? Françoise Denoyelle, Autorin einer Geschichte der Fotografie unter dem Vichy-Regime6, bestreitet dies vehement.

Der Katalog bleibt in Bezug auf Zuccas Rolle ausweichend: Als Mitarbeiter von „Signal“ sei Zucca „requiriert“ worden.7 Eben „nicht germanophob“ (S. 7) sei er gewesen und auch nicht gerade durch seinen Philosemitismus hervorgetreten (S. 10). Auf zwei Fotografien erscheinen Pariser, die den gelben Stern tragen müssen – alte Menschen, die wirken, als seien sie zufällig vor die Linse der Kamera geraten: eine Frau auf einem verwackelten Foto; ein Mann im Hintergrund eines Bildes. Pierre Azéma glaubt dennoch, in einigen Bildern Ansätze von Kritik zu sehen, wie im Falle eines von hinten aufgenommenen Trupps deutscher Soldaten, die nicht schnurgerade marschieren und daher „wenig preußisch“ wirken (S. 8). „Erstaunt“ zeigt er sich angesichts eines mit Schweinevierteln überladenen Karrens, fotografiert 1942, als die wöchentliche Fleischration für Erwachsene bei 120 Gramm lag. Die Fotos zeigen also, was der Fotograf sehen wollte, aber auch, was er lieber nicht sehen wollte: durch die weitgehende Abwesenheit und durch die Art, wie es nachlässig, fast unwillig fotografiert wurde. Dieser Eindruck entsteht auch bei den, wie Azéma es nennt, „eher banalen“ Fotos, die Zucca von der feiernden Stadt nach der Befreiung aufnahm, als seine Karriere ein jähes Ende gefunden hatte. Warum aber konnte es überhaupt dazu kommen, dass Zuccas Fotografien als quasi neutrale Dokumente präsentiert wurden? Michel Guerrin, Journalist und Fotoexperte der Zeitung „Le Monde“, sieht die Ausstellung als Beleg für die immer noch bestehende Weigerung, sich mit allen Facetten der Kollaboration zu befassen.8 Die von Zucca ins Bild gesetzte Normalität des Alltags würde damit eine historische Alibifunktion erfüllen.

Im Zuge der Kritik an der Ausstellung wurden seit Mitte Mai Vorträge von Fotografieexperten verschiedener Disziplinen gehalten, die um folgende Themen kreisten: Ist die Fotografie eine verlässliche historische Quelle? Wie soll man Fotografien ausstellen? Was ist fotografische Wahrheit? Zu ergänzen wäre die Frage: Warum präsentiert man Fotografien in historischen Ausstellungen? Anlass dieser Ausstellung war der Abschluss der Restaurierung und Digitalisierung der 1986 von der Bibliothèque historique erworbenen Fotografien.9 Beabsichtigt war also eine Leistungsschau, die zudem ein voyeuristisches Verlangen nach immer neuen Bildern befriedigen soll und der man nachträglich ein schlecht durchdachtes Konzept überstülpte.10 Ohne Kontextualisierung durch andere Bilder oder Dokumente ist es aber zwangsläufig dem Betrachter überlassen, zu der selektiven Perspektive des Fotografen eine kritische Haltung einzunehmen und über die Ränder dieser sorgfältig ausgewählten Szenen trügerischer Normalität hinauszublicken. Für den Betrachter, der sich dem verweigert, bleibt der Unterschied zwischen den beiden Lesarten der Ausstellung („Les Parisiens“ bzw. „Des Parisiens“) letztlich doch nur ein rein grafischer.

Anmerkungen:
1 Derrida, Jacques, Die différance, in: Engelmann, Peter (Hrsg.), Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart, Stuttgart 1990, S. 76-113.
2 Chardin, Virginie, Paris en couleurs de 1907 à nos jours, Paris 2007, S. 98-107 („Visages de Paris pendant la guerre“). Der Katalog enthält darüber hinaus Farbbilder des deutschen Soldaten und Amateurfotografen Walter Dreizner; vgl. hierzu auch: Denoyelle, Françoise, Walter Dreizner, un amateur sous influence. Des télécommunications à la photographie, in: Francia 33 (2006) H. 3, S. 85-94; Martens, Stefan; Nagel, Friedrich Rudolf, Walter Dreizner: Ein deutscher Soldat erlebt die Befreiung von Paris im August 1944, in: Militärgeschichtliche Zeitschrift 65 (2006), S. 505-544.
3 Die Bibliothek untersteht der Stadt Paris. Bei der Eröffnung der Ausstellung am 20. März war Girard noch nicht im Amt.
4 Das Ansichtsexemplar des Katalogs wurde dagegen – zweifellos wegen des nun geächteten alten Titels – aus dem Ausstellungsraum entfernt.
5 Zu Signal vgl. Rutz, Rainer, Signal. Eine deutsche Auslandsillustrierte als Propagandainstrument im Zweiten Weltkrieg, Essen 2007 (rezensiert von Wigbert Benz: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2007-2-116>).
6 Denoyelle, Françoise, La photographie d’actualité et de propagande sous le régime de Vichy, Paris 2003.
7 Diese Formulierung wird auch im Katalog (S. 7) in Anführungsstriche gesetzt.
8 Guerrin, Michel, La photo, la propagande et l’histoire, in: Le Monde, 27./28.4.2008, S. 2.
9 Schon kurz nach der Erwerbung wurden einige der Bilder veröffentlicht in: Perrault, Gilles, Paris sous l’occupation. Commentaires de Jean-Pierre Azéma. Iconographie et réalisation d’Eliette Cabaud, Paris 1987, S. 235-244.
10 Ein geplantes kritisches Werk über André Zucca kam bis heute nicht zustande, wobei sich die Autoren und die Familie Zucca gegenseitig die Schuld zuweisen. Vgl. dazu Guerrin, Michel, Comment a échoué une exposition critique des photos de Paris occupé, in: Le Monde, 25.4.2008, S. 24.

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