M. Rüthers: Moskau bauen von Lenin bis Chruscev

Cover
Titel
Moskau bauen von Lenin bis Chruscev. Öffentliche Räume zwischen Utopie, Terror und Alltag


Autor(en)
Rüthers, Monica
Erschienen
Anzahl Seiten
363 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Oksana Bulgakowa, Berlin

Der Titel des Buches spielt mit Karl Schlögels „Moskau lesen“ (1984). Dessen Art, Spuren in der Stadttopographie zu deuten, inspirierte Monika Rüthers Hermeneutik einer sozialen Topographie. Die von ihr ausgesuchten öffentlichen Räume Moskaus sind Schauplätze der sozialistischen Moderne: Flaniermeile, Verkehrsknotenpunkt, Schwarzmarkt, eine traditionelle (Arbat) und eine neue Wohngegend (Tscheremuschki).1

Rüthers situiert ihre Arbeit an der Kreuzung von Raumsoziologie und Visual Culture Studies. Das reich illustrierte und schön gestaltete Buch wurde 2006 als Habilitationsschrift an der Universität Basel angenommen, und das erste Kapitel trägt noch die Spuren des akademischen Ursprungs dieses Vorhabens – die Einführung in existierende und von der Autorin nur teilweise aktivierte Analysemodelle. An die Herkunft des Buches erinnert auch die unvermeidliche akademische Fußnotenkultur: Um zu belegen, dass im Englischen Club nach 1917 ein Revolutionsmuseum untergebracht wurde, bedarf es eines Verweises auf Karl Schlögel; für die Richtigkeit der Angaben darüber, wer im Gebäude des Mossowet vor 1917 residiert hatte, muss Timothy Colton geradestehen. Diese Spuren verschwinden in den darauf folgenden essayistischen Kapiteln, in denen wiederum der Hang zur metaphorischen Einprägsamkeit mitunter im Widerspruch zu historischen Realitäten steht.

Die Namen zweier Staatsmänner im Titel des Buches definieren die zeitlichen Grenzen, auch wenn sich die Rolle Lenins als sozialer Architekt nur bei einer einzigen Entscheidung zurückverfolgen lässt – der Verlegung der Hauptstadt nach Moskau. Ob Lenin sich des kulturologischen Gewichts dieser Weichenstellung bewusst war, erfahren wir in dem Buch nicht. Aber die pro-westlichen Bolschewiki hatten auf diese Weise das ‚Pro-Slawische’ usurpiert und zwei Stränge vereinigt, die in der russischen Kultur schon lange eine Opposition bildeten und auf zwei Orte verteilt waren. Das ursprünglich Russische und das neuzeitlich Fremde nahmen in der Gegenüberstellung von Moskau und Petersburg ‚topographische’ Gestalt an. Das Zentrum des Buches bildet jedoch nicht dieser alter Topos. Im Mittelpunkt stehen zwei Modernisierungskonzepte – das der 1930er-Jahre und jenes der späten 1950er-Jahre –, die eher mit den Namen Stalin und Chruschtschow verbunden sind und in zwei Straßen Gestalt annahmen: Die Planung des Nowy Arbat als „Konsummeile“ markierte ein anderes Konzept der Modernisierung als das der Zeremonialachse Gorki-Straße.

Beim Lesen der sich wandelnden sozialen Topographie geht es Monika Rüthers um die Kreuzung von Ort, Sinngebung und Bedeutung, die in der Kollision zwischen den von oben oktroyierten Strukturen mit ihrer symbolischen Implikation und den Sinngebungen durch die soziale Praxis von unten entsteht. Diese Überlagerung des Stadtraums durch strukturell verschobene Systeme wird im Titel als ‚Utopie, Terror und Alltag’ zusammengefasst. Der Inhalt des Buches ist hingegen reicher als diese Verkürzung. Es geht um den Wechsel der Leitbilder, um die Kluft zwischen der urbanen Planung und den sich parallel entwickelnden sozialen Netzen, um die Intentionen der einen und die Handlungen der anderen.

Die Utopien mit ihren latenten Strukturen werden anhand von Bauplänen und politischen Erklärungen dargestellt, die Konstruktion der Bedeutung von oben wird in verschiedenen Bilderwelten aufgeschlüsselt (Photos, Zeitschriftengestaltung, Postkarten, Werbung) und die reale Nutzung, also das soziale Handeln, durch Berichte, Romane, Memoiren rekonstruiert. Um die Geschichte der Orte einprägsam durch Oppositionen zu verdeutlichen, arbeitet Monica Rüthers in ihrem Buch die Brüche heraus.

So wird die Twerskaja-Gorki-Straße, die an der Achse jener direkten Verbindung zwischen Petersburg und dem Herz des alten Moskaus, dem Kreml, liegt, in ihrer Entwicklung vom Straßenstrich in den 1920er-Jahren zur Prachtstraße der 1930er-Jahre und zum Ausstellungsort alternativer Jugendkultur der späten 1950er-Jahre porträtiert. Der Lubjanka-Platz wird nicht als Verkehrknotenpunkt, sondern als paradoxe Ortung des Terrors (mit dem Hauptgebäude von Tscheka/NKWD/KGB), der subversiven Kultur (welche die Autorin in den Dichterlesungen im Polytechnischen Museum zu Anfang der 1960er-Jahre verwirklicht sieht) und des Konsums (situiert im Kaufhaus „Detski mir“, 1957 eröffnet) gesehen. Sucharewka, zwischenzeitlich Kolchosnaja-Platz, wird als Inbegriff des sozialen Raums des Schwarzmarktes untersucht (mit Tausch- und Handelspraktiken, Kommunikationsformen und Machtverhältnissen, beherrscht durch Schmuggler, Diebe, Obdachlose, Bettler usw.). Der Arbat wird als private Mythologie in der Spannung zwischen der Intimität (der Hinterhöfe, der Familientraditionen) und der offiziellen Fassade (Stalins Durchfahrtsstraße) und als Beispiel für die auseinander fallenden Lebenswelten der alten und der neuen sozialen Eliten aufgeschlüsselt. Der Südwesten, Nowye Tscheremuschki, wird im Rahmen des Chruschtschow-Wohnungsbauprogramms analysiert – als gescheiterter Versuch zur Schaffung eines offenen Raums des sozialen Kontakts im Wohnviertel. Dafür entstehen mit der nicht vorgesehenen, berühmten Küche der Moskauer Intelligenzia neue private Kommunikationsräume.

Die metaphorische Verdichtung dieser Gegensätze liest sich sehr unterhaltsam. Anstelle der informellen Interaktion im offenen Raum entsteht die klaustrophobische Küchenkommunikationskultur des Tauwetters. Die Verfasserin hat einen ausgeprägten Sinn für diese Zuspitzungen: Die Säuberung der Stadt von alten Gebäuden wird als Metapher für politische Säuberungen gesetzt. Auch die Bildanalysen sind im Buch treffend.

Problematisch erscheint mir dagegen das Zusammenführen von Bildern und Narrativen. Die Vermittlung der Erfahrung wird hier durch die Zeugnisse ausländischer „Beobachter“ – Reisender, Touristen, Korrespondenten – gegeben: den Agenten ohne kulturelles historisches Gedächtnis. Die Moskauer selbst kommen in dem Buch kaum vor.2 Die identitätsstiftenden Erlebnisse werden von amerikanischen und deutschen Forschern vermittelt. Ausländer, die Lieblingsfiguren der Formalisten, erlauben uns, die Räume zu verfremden, sie visuell zu erleben, doch sie können wohl kaum an die Stelle der zerfallenen Erinnerungsgemeinschaften treten; sie sind der Kulturtradition fremd und kennen die Brüche nicht. Bild- und Dokumentarfilmmaterial über die Moskauer Rekonstruktion gibt es reichlich, aber die Oral History scheint nicht aufgearbeitet.

So schön die direkte Platzierung des Konsums, des Terrors und der Subversion an einem Ort, Lubjanka, auch klingt – eine solche Nutzung verlief asynchron. Der Terror beherrschte die 1930er-Jahre, der Konsum die 1970er- Jahre und die ‚Subversivität’ die frühen 1960er- Jahre. Die Prostitution florierte in der Gorkistraße nicht nur in den 1920er-Jahren, sondern auch später noch, an jenen Orten des Verkehrs mit betuchten Kunden aus den großen Hotels. Einige Topoi wurden von der Autorin nicht aufgeschlüsselt. An der Lubjanka befand sich nicht nur das Polytechnische Museum, der „Ort Andersdenkender“, sondern vielmehr der Bücherschwarzmarkt um das Denkmal von Iwan Fjodorow, wo man nicht Wosnesenki, sondern auch Tam- und Samisdat kaufen konnte. Neben dem Kinderkaufhaus „Detski mir“, das die Bedürfnisse seiner Besucher nur teilweise decken konnte, machten sich die Schieber mit allen möglichen Konsumgütern breit, und beide Märkte florierten ungeachtet der Nachbarschaft zum KGB. Wenn auf S. 125 vom „selbst erfundenen Tag der Verfassung am 5. Dezember“ die Rede ist, ahne ich, dass das historische Gedächtnis sogar aus den Büchern von Historikern verschwindet, denn seit Ende der 1930er-Jahre und bis 1977 wurde der 5. Dezember als offizieller „Tag der Verfassung der UdSSR“ gefeiert.

Vor uns liegt ein Buch voller Anregungen und Ansätze, das noch weiter geschrieben werden müsste. Das gewählte Material erlaubte es Monika Rüthers zu analysieren, wie die Architekturutopien in Bildkonstruktionen belebt wurden. Doch wie das historische Gedächtnis durch den Raum transformiert, verschüttet, persifliert oder verklärt wurde, bleibt weitgehend ausgespart. Das muss der Leser auffüllen, der selber mit dem Ort Moskau und seinen Räumen vertraut ist.

Anmerkungen:
1 Henri Lefebvre, der stark die Situationisten beeinflusst hatte, schlug in seinem Buch Production d’espace (1974) vor, Raum als Produkt sozialer Praxis zu betrachten, die den „abstrakten, rohen, natürlichen” Ort mit Sinn und Bedeutung ausstattet. Seitdem steht Raum als eine soziale, symbolische und historische Konstruktion im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit von Forschern (z.B. Pierre Bourdieu, Pierre Nora, Marc Augé, Reinhart Koseleck). Die Autorin ist sich dessen bewusst und verweist auf die meisten dieser Vorgänger, auch auf Karsten Gehrke, Richard Stites, Mikhail Epstein, Jeremy Smith, Ekaterina Gerasimova, um nur einige zu nennen, die sich vor allem mit dem russischen Raum auseinandergesetzt haben.
2 Für die Erfahrungen um die Twerskaja-Gorki-Straße werden in den Zeugenstand gerufen: Alfred Kurella, Ruth von Mayenburg, Henri Béraud, Walter Benjamin, Armin T. Wegner, Eulalie Piccard, Erwin Sinko, Ernst Derendiger, Lion Feuchtwanger, Hermann Pörzgen, Leo Grulilow, Paul Thorez, Hélène und Pierre Lazareff, Harald Hamrin, Gerd Ruge. Ergänzt werden sie durch Fedor Stepun, Jelena Bonner, Anatoli Rubinow und Wladimir Bukowski, auch Boris Jampolskis Roman Kommunalka wird zitiert.

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