M. Zimmermann (Hrsg): Zwischen Erziehung und Vernichtung

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Titel
Zwischen Erziehung und Vernichtung. Zigeunerpolitik und Zigeunerforschung im Europa des 20. Jahrhunderts


Herausgeber
Zimmermann, Michael
Erschienen
Stuttgart 2007: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
IV, 591 S.
Preis
€ 80,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrich Opfermann, Aktives Museum Südwestfalen, Siegen

Michael Zimmermann, der Anfang 2007 allzu früh verstarb, führte als Herausgeber dieser Aufsatzsammlung in einem Teilprojekt zur Erforschung der Geschichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft eine Vielzahl von Autoren und Aspekten von Zigeunerforschung und Zigeunerpolitik im 20. Jahrhundert zusammen. Die DFG hatte bereits vor 1933, danach aber noch vermehrt die rassenhygienische Forschung mit hohen Beträgen gefördert. Die Rassenhygienische Forschungsstelle (RHF) als zentrale nationalsozialistische Ausforschungsinstitution zur „Zigeuner-“ und „Asozialenfrage“ genoss ab 1937 in der Förderpolitik der DFG eine privilegierte Stellung.

Drei Problemaufrisse stehen am Beginn. Dabei sticht die weit ausgreifende, hoch konzentrierte Einführung in das Themenfeld durch Zimmermann selbst hervor. Daneben stehen ein Beitrag zur literarischen Diskursivierung der Zigeunervorstellungen in der frühen Neuzeit von Klaus-Michael Bogdal und ein weiterer zu Herausbildung eugenischer und rassenhygienischer Diskurse in Wissenschaft und Politik im 19. Jahrhundert von Jakob Tanner.

In einem zweiten Teil folgen Studien zu Zigeunerpolitik und Zigeunerdiskursen in einer Reihe von Staaten Südost-, Mittel-, West- und Südeuropas. Zeitlich gehen sie teilweise zurück bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts und reichen durchweg bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Ausnahmslos ergibt die Darstellung des Forschungsstands zu den 1930er- und 1940er-Jahren, dass Eugenik, Rassehygiene und Rassenbiologie und die daran anschließenden bevölkerungssanitären Konzepte - anders als im Deutschen Reich, in Österreich (hierzu Gerhard Baumgartner/Florian Freund) und in der Schweiz (Thomas Meier) - ansonsten in Europa von geringer Bedeutung waren. Ob Rumänien (Viorel Achim) in der Zeit der Diktatur der Eisernen Garde oder das franquistische Spanien (Walther L. Bernecker), Länder mit jeweils großen Roma-Minderheiten: die rassetheoretischen Konzepte, wie sie schon vor 1933 im deutschsprachigen Raum von erheblicher Bedeutung gewesen waren, hatten hier wenig Einfluss in Forschung und Politik. Das bedeutete, dass sich in Bulgarien (Elenea Marushiakova/Vesselin Popov) die Repression auf einen mehr verkündeten als umgesetzten Arbeitsdienst beschränkte. In Rumänien lebte die größte Roma-Minderheit in Europa. 1942 deportierte das Antonescu-Regime etwa 12 Prozent der rumänischen Roma wie auch Juden und Protestanten in das von der Sowjetunion eroberte Transnistrien. Auch wenn viele der Verschleppten die dortigen Lager nicht überlebten, eine akribisch-systematische, an Rassekriterien ausgerichtete kollektive Erfassung und Entrechtung der Roma war dem nicht vorausgegangen. Selbst die Transnistrien-Deportation als äußerste Form der Verfolgung war, so Viorel Achim, von Rasseforschern nicht mit bewirkt worden und folgte auch nicht einer ethnischen, sondern einer soziografischen Kategorisierung, was ihr Grenzen zog.

Und selbst in nächster geografischer wie kultureller Nachbarschaft zum Deutschen Reich, in den Niederlanden, blieben „eugenics in general [...] a marginal phenomenon during the first half of the 20th century“ (S. 250), wie Leo Lucassen in seinem Beitrag feststellt. Im besetzten Westeuropa, in Frankreich (Denis Peschanski), in Belgien und in den Niederlanden entsprang die Verfolgung der Roma deutscher Initiative und wurde durch die oft widerwillige Umsetzung der nationalen Behörden abgemildert, so dass die Zahl der in die Vernichtung Deportierten gering blieb. Abgesehen von der Internierung einer kleinen Zahl aus dem besetzten Elsass-Lothringen abgeschobener Sinti gab es in Vichy-Frankreich keine Maßnahmen gegen „Nomaden“. Ausführlich gehen die südosteuropäischen Verfasser auch auf Zigeunerpolitik und Zigeunerdiskurse in der sozialistischen Phase ihrer Herkunftsländer ein. Eine ausführliche Fallstudie über „Die Roma und der ungarische Kommunismus 1945-1989“ legt in diesem Abschnitt Michael Stewart vor.

Es folgt im dritten Teil eine Darstellung der die nationalsozialistische Zigeunerverfolgung tragenden zentralen staatlich-institutionellen Kräfte und ihrer Politik. Eingeleitet wird sie durch einen Beitrag von Guenter Lewy zu „Heinrich Himmler, the SS Office Ahnenerbe and the Gypsy Question“. Leider sind kaum sechs der zwanzig Seiten vom Titel abgedeckt. Den größeren Teil seines Aufsatzes verwendet Lewy dazu, seine im Fachdiskurs als fragwürdig beurteilte These von der Nachrangigkeit der nationalsozialistischen Verfolgungspolitik gegen „Zigeuner“ im Vergleich mit der Shoa sowie seine Ablehnung zu verteidigen, die Vernichtung der europäischen Roma als Genozid zu qualifizieren.1

Akribisch geht Michael Zimmermann die Chronologie der Entscheidung für die Deportation in die Vernichtung der Jahre 1942/43 durch, benennt die einzelnen Schritte, entwirrt das Knäuel widersprüchlicher Motive und Interessen zwischen Reichskriminalpolizeiamt (RKPA), RHF, Parteikanzlei und Himmlers SS-„Ahnenerbe“. Mit dem Deportationsbefehl habe sich vor allem die Kripoführung durchgesetzt. Der Befehl sei „faktisch [...] ein Todesurteil“ gewesen, „allerdings eines, das unausgesprochen blieb“ (S. 415). So habe der Mord zur gerechtfertigten „kriminalpräventiven“ Haft bagatellisiert werden, und Handlungsträgern wie Außenstehenden habe man Nichtverantwortlichkeit suggerieren können. Tatsächlich sei innerhalb der Kripo auf allen Ebenen der Hierarchie klar gewesen, dass die Lebensbedingungen in Bialystok oder Auschwitz-Birkenau so organisiert waren, dass sie zum Tode führten. Zimmermann geht den Angaben Lewys zur Zahl der Opfer nach und korrigiert sie. Lewy ließ das Schicksal der nicht nach Birkenau Deportierten unbeachtet. Zimmermann trägt die Zahlen detailliert nach. Er erinnert an die anderen Lager, an die Todesmärsche, an die SS-Einheit Dirlewanger und an die Zwangssterilisierten. Er erinnert an die Todesrate von 86 Prozent der österreichischen Roma. Wie einige der anderen Autoren thematisiert Zimmermann auch die Geschichte der Jenischen. Sie seien umso mehr gefährdet gewesen, je weniger „jenisch“ sie gewesen seien und je mehr sie mit höheren „Zigeunerblutanteilen“ in die Reichweite der rassistischen Zigeunerdefinition hätten geraten können.

In den Aufsätzen von Martin Luchterhandt, Eve Rosenhaft und Karola Fings stehen die Ausforschungsarbeit der RHF und ihre diskursiven, administrativen und forscherischen Verflechtungen innerhalb des von Zimmermann beschriebenen „wissenschaftlich-polizeilichen Komplexes“ im Mittelpunkt. Luchterhandt verweist darauf, dass manchen Angaben ihres Leiters Robert Ritter auch deshalb wenig zu trauen ist, weil er bei der Darstellung seiner Tätigkeit zur Hochstapelei neigte und selbst „winzigste Ergebnisse“ zu großen Meldungen aufblies. Karola Fings fragt nach dem Einfluss der „gutachtlichen Äußerungen“ der RHF bei der Selektion für die Vernichtungsdeportationen. Sie bezieht sich auf die Entscheidungspraxis in Köln und in anderen Orten im Rheinland. Sie sieht in den Gutachten ein Element in einem komplexen Zusammenhang. Der sehr unterschiedliche Umgang mit ihnen mache eins deutlich: dass „die nationalsozialistische Rassenpolitik [...] ‚von unten’ erheblich mitgeprägt“ wurde. Sie habe „dort beständig auf dem Prüfstand“ gestanden, sei „je nach Sachlage von den Entscheidungsträgern korrigiert und immer wieder [...] verhandelt“ worden (S. 458).

Patrick Wagner schließlich bettet die Zigeunerverfolgung in den weiteren Kontext der in der nationalsozialistischen Kripo vorherrschenden gesellschaftspolitischen Vorstellungen ein, der Utopie von einer durch kriminalbiologische Prävention verbrecher- und folglich verbrechensfreien Gesellschaft. Im Kriegsverlauf sei als ein aktuelles Verfolgungsmotiv die Angst vor einem „Dolchstoß“ durch „wie 1918 eine Heimatfront der Spitzbuben“ (so Hitler, Zitat S. 383) hinzugetreten.

Im vierten Abschnitt werden Kontinuitäten und Brüche in Kriminalwissenschaft, Zigeunerpolitik, Zigeunerdiskurs und Sozial- und Kommunalpolitik nach 1945 diskutiert. Imanuel Baumann legt einen Abriss der Entwicklungen in der deutschen Kriminalwissenschaft im 20. Jahrhundert vor. Den kriminalwissenschaftlichen und -politischen Umgang mit der „Zigeunerfrage“ thematisiert er nicht, stellt vielmehr den Umgang mit Jugenddelinquenz in den Mittelpunkt. Er beschreibt die Verschiebung des Sozialen ins Biologische, wie sie im ausgehenden 19. Jahrhundert aufkam und sich durchzusetzen begann, als ein nicht NS-spezifisches Konzept, das seine Hochzeit im Nationalsozialismus hatte, aber bis weit in die westdeutsche Nachkriegszeit hinein anerkannt blieb. Erst im Laufe der 1960er- und 1970er-Jahre sei es zu einem allmählichen Paradigmenwechsel gekommen, seien an die Stelle der Konstruktion einer vor allem biologisch fixierten „kriminellen Persönlichkeit“ „normativ“ orientierte Deutungsmuster getreten.

Gilad Margalit stellt in seinem Beitrag zu „Zigeunerpolitik und Zigeunerdiskurs“ in der Bundesrepublik ein Nebeneinander von Kontinuität und Diskontinuität fest: In der Mehrheitsbevölkerung und in den Behörden seien antiziganistische Haltungen unbeachtlich des Genozids weiterhin lebendig und bestimmend geblieben. Anders in den Spitzen der Politik. Hier habe die Tabuisierung des Rassismus durch die Alliierten für eine gewisse Vorsicht im Umgang mit „Zigeunern“ und zumindest für eine gewandelte Rhetorik gesorgt. Entschädigungsforderungen sei man freilich mit Hilfe der lange herrschenden Auffassung innerhalb der Justiz von einer erst mit der Auschwitz-Deportation einsetzenden rassistisch motivierten Verfolgung aus dem Weg gegangen. Während die jüdische Minderheit mit einem philosemitischen Bonus ausgestattet gewesen sei, habe für „Zigeuner“ nach wie vor der Malus der volkstümlichen Vorurteilskomplexe gegolten.

Peter Widmann schließlich beschreibt an den Fallbeispielen Freiburg und Straubing Entwicklung und Veränderung der westdeutschen Sozialpolitik gegenüber „Zigeunern“. Er kommt zu dem Schluss, dass die sozialen Brennpunkte, die die Kommunalpolitik an der Peripherie der Städte erzeugte, die gängigen mehrheitsgesellschaftlichen Vorurteilshaltungen gegenüber den angeblich „asozialen“ Bewohnern stabil hielten, indem sie dem antiziganistischen Ressentiment im Augenschein eine Grundlage und Legitimation schufen. Widmann betont die Bedeutung der Akteure vor Ort, der „Lokalpolitiker und Verwaltungsbeamte[n] wie [der] Angehörige[n] der Minderheit“ (S. 531) für die inhaltliche Gestaltung der Minderheitenpolitik entweder als Verfestigung des Ausschlusses oder im Sinne von Chancengleichheit und Integration.

„Zwischen Erziehung und Vernichtung“ ist insgesamt eine ebenso umfassende wie gründliche Gesamtdarstellung der Zigeunerpolitik und Zigeunerforschung im 20. Jahrhundert. Sie belegt die beachtliche Entwicklung, die die Forschung zum Thema im letzten Jahrzehnt gemacht hat. Daran hatte der Herausgeber entscheidenden Anteil.

Anmerkung:
1 Siehe Guenter Lewy, „Rückkehr nicht erwünscht“. Die Verfolgung der Zigeuner im Dritten Reich, München 2001. Siehe auch Michael Zimmermann: Rezension zu: Lewy, Rückkehr, 2001; in: <http://www.fritz-bauer-institut.de/rezensionen/nl21/zimmermann.htm.> (05.02.2009).

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