D. Maul: Menschenrechte, Sozialpolitik und Dekolonisation

Cover
Titel
Menschenrechte, Sozialpolitik und Dekolonisation. Die Internationale Arbeitsorganisation (IAO) 1940-1970


Autor(en)
Maul, Daniel
Reihe
Veröffentlichung des Instituts für Soziale Bewegungen, Schriftenreihe A: Darstellungen, Band 35
Erschienen
Anzahl Seiten
447 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Klaas Dykmann, Zentrum für Höhere Studien, Universität Leipzig

Die historische Analyse internationaler Organisationen steckt noch in den Kinderschuhen. Traditionelle Institutionengeschichten, die meist ereignis- und rechtsgeschichtlich solide ausfallen, aber für eine umfassendere und vielschichtigere Perspektive oft weniger tauglich sind, bilden noch immer die Mehrheit in diesem Forschungsbereich. Studien wie die nun veröffentlichte Dissertation von Daniel Maul sind daher höchst willkommen. Der Untersuchungszeitraum (die 1940er Jahre bis 1970) fällt zusammen mit den entscheidenden Phasen der Dekolonisation, in welchen besonders die Diskussionen über Menschenrechte und Entwicklung bedeutend waren. Die entsprechenden Debatten in der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zu betrachten ist eines der Hauptziele von Daniel Maul, wobei er hier in der Tat Pioniergeist andeutet, indem er beabsichtigt, auch die Perspektiven postkolonialer Studien bei der Analyse der Geschichte einer internationalen Organisation zu berücksichtigen.

Die Internationale Arbeitsorganisation ist selbst unter den Sonderorganisationen der Vereinten Nationen eine Ausnahmeerscheinung: Als seit 1919 bereits dem Völkerbund unterstellte Einrichtung war sie die einzige, die nach 1945 in das UNO-System aufgenommen wurde. Eine weitere Eigenheit der ILO ist, dass neben Regierungsvertretern auch jeweils ein Repräsentant der Arbeitgeber und -nehmer auf den Internationalen Arbeitskonferenzen mitreden dürfen – dies machte jene Zusammenkünfte im Gegensatz zu anderen UN-Institutionen zu einem Schauplatz nicht nur ideologischer und staatspolitischer Debatten (Stichwort Nord-Süd- und Ost-West-Konflikt), sondern auch zum Austragungsort innergesellschaftlicher Auseinandersetzungen.

Der Leser wird durch eine ausführliche und klar strukturierte Einleitung gut in das Thema eingeführt. Ziel der Arbeit ist es laut Verfasser, die ILO als „Akteur und Seismograph im Dekolonisationsprozess zu untersuchen“ (S. 16). Maul beabsichtigt – neben einer ideengeschichtlichen Durchleuchtung der Dekolonisationsprozesse in der ILO – auch einen Beitrag zur Geschichte des Menschenrechtsgedankens und der Entwicklungsidee zu leisten (S. 19). Diesem hohen Anspruch wird das Buch, um es vorweg zu sagen, größtenteils gerecht. Doch wäre eine stärkere Problematisierung der Begriffe „Menschenrechte“ und „Entwicklung“ besonders in der ansonsten gelungenen Einleitung angebracht gewesen. In welchem Ausmaß das internationalen Organisationen im allgemeinen und der ILO im besonderen zugrundeliegende Verständnis von „Arbeit“ (im Sinne von Lohnarbeit) auf einem genuin westlichen Konzept beruht, das nur bedingt auf andere Gesellschaften übertragbar ist, wäre hier eine Frage, die sich aus Perspektive der postcolonial studies stellte. Eine grundlegende Hinterfragung der Anwendbarkeit dieser westlichen Konzepte in außereuropäischen Staaten im Sinne der postcolonial studies bleibt demnach weitgehend aus (S. 18f.). Der Verfasser verweist auf die Erweiterung des Menschenrechtskonzepts von den bürgerlichen und politischen (d.h. „klassischen“) sowie den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten hin zu den „Solidarrechten“ der „dritten Generation“. Dennoch wird nicht deutlich, was im Folgenden unter dem Begriff verstanden wird: doch nur Individualrechte oder die breite Auslegung des Terminus? Ebenso scheint der Entwicklungsbegriff trotz einiger kritischer Bemerkungen (S. 396, 402) positiv besetzt: Durch eine „universalisierte“ Entwicklung gerieten demzufolge auch (post-)koloniale Bevölkerungen in den Genuss von mehr Mitsprache und Rechten (S. 392). Inwieweit das Verständnis eines „westlichen“ Entwicklungsmodells auch auf außereuropäische Kulturen übertragbar ist bzw. ob letztgenannte diesem überhaupt nachstreben sollten, bleibt weitgehend offen.

Maul versteht es, die Spannungen zwischen Normierungsbestrebungen der ILO, den Interessen der westlichen Regierungen, der Sowjetstaaten sowie den aufstrebenden Ländern der Dritten Welt anschaulich darzustellen. Ihm gelingt es, die unterschiedlichen „Diskursfelder“ (im Sinne Frederick Coopers, S. 24) zwischen Nord-Süd-Konflikt, Ost-West-Gegensatz und innerinstitutionellen Auseinandersetzungen herauszuarbeiten. Dies ist besonders lobenswert, da sich die Historiographie zur Dekolonisation meist nur auf internationale Organisationen als Aushandlungsorte konzentrierte, diese aber selten auch als Akteure in diesem Prozess betrachtete. Sicherlich wäre ein Fallbeispiel einer Illustration der ILO-Politik noch zuträglich gewesen – die Studie jedoch konzentriert sich ganz auf die Debatten, die in der Arbeitsorganisation geführt wurden.

Daniel Maul kommt zu dem Schluss, dass es die ILO trotz vieler Widrigkeiten, Versäumnisse und Fehler im Untersuchungszeitraum vermochte, als internationaler Akteur den veränderten Rahmenbedingungen zu entsprechen und einen wichtigen Beitrag im Dekolonisationsprozess und in der Menschenrechtsdebatte zu leisten (S. 404).

Die grundlegende Frage, ob seit den 1960er Jahren der genuin „westliche“ Charakter internationaler Organisationen, also auch der ILO (Definition von Arbeit/Entwicklung/Menschenrechten, Verständnis von Bürokratie, Bedeutung von Normen, (Arbeits-)Standards und Statistiken z.B.), von den ehemaligen Kolonien erfolgreich herausgefordert wurde, ist nicht audrücklicher Gegenstand von Mauls Untersuchung (siehe S. 406). Diesbezüglich spricht der Autor von einer „geteilten Geschichte“, „dessen Bewertung sich einfachen dichotomischen Mustern wie universell und partikular oder westlich und nicht-westlich entzieht.“ (S. 406).

Mauls Studie kann sicherlich als zu detailliert kritisiert werden, da zuweilen recht ausführlich spezielle Arbeitsthemen oder diplomatische Auseinandersetzungen behandelt werden. Der Autor schafft es jedoch immer wieder, den Zusammenhang zur allgemeinen Arbeitspolitik und Ausrichtung der ILO deutlich zu machen. Dies hat den Vorteil, dass zum einen die stark detaillierten Abschnitte übersprungen werden können und zum anderen gerade diese für Spezialisten interessanten Abhandlungen, die auf unermüdlicher Archivarbeit gründen, sich nicht wie sonst in eher allgemeinen Schlussfolgerungen erschöpfen.

Ein inkonsequenter Umgang mit englischen und deutschen Bezeichnungen bzw. Übersetzungen ist zwar zuweilen etwas lästig, stört jedoch den generell angenehmen Lesefluss nicht.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass trotz der nicht vollständig befriedigend untersuchten Dimension im Sinne postkolonialer Studien die gut geschriebene, wenngleich für manche vermutlich zu detailverliebte Untersuchung äußerst lesenswert ist – sowohl im Hinblick auf den Inhalt als auch den Aufbau und die Sprache.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Kooperation
Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
Klassifikation
Epoche(n)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension