Cover
Titel
La France antimunchoise. Genèse, Phénoménologie et fonction décicionnelle d`un complexe historique en 1947/48


Autor(en)
Hartleb, Torsten
Erschienen
Anzahl Seiten
99 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marie-Bénédicte Vincent, Université d’Angers

Der kommunistische Putsch in Prag am 25. Februar 1948 erfolgte in einem Land, das schon 10 Jahre zuvor die internationale Aufmerksamkeit gelenkt hatte. Frankreich hatte damals durch die Münchner Verträge (29.-30. September 1938) vor Hitlers Forderungen in den Sudeten kapituliert, ohne dabei den späteren Zweiten Weltkrieg verhindert zu haben. Die Erinnerung an dieses kollektive Trauma im französischen Bewusstsein und seine Rolle in der äußeren Politik Frankreichs 1948 untersucht Torsten Hartleb in diesem kleinen Buch, das die originale Fassung einer 1993 unter der Leitung von Serge Berstein (Institut de Sciences Politiques, Paris) verfassten D.E.A. (Diplomarbeit, d.h. ehemaliger Vorstufe der Doktorarbeit in Frankreich) ist. Letzteres erklärt, warum der Text in französischer Sprache erschienen ist.

Für die Franzosen war die Parallele zwischen 1938 und 1948 zugleich eine geographische und eine personelle (durch die Anwesendheit des Präsidenten Benès auf der politischen Bühne und eines Teiles der französischen Hauptakteure von 1938, wie Georges Bidault oder Leon Blum). Torsten Hartlebs These ist aber, dass es sich hier nicht nur um eine Analogie handelt, sondern dass die Erinnerung an die Münchner Verträge von 1938 einen richtigen “Komplex” bildet, der die öffentliche Wahrnehmung der 1948er Ereignisse und die außenpolitischen Entscheidungen Frankreichs beeinflusste.

Diese kulturgeschichtliche Analyse befasst sich also mit dem negativen Erinnerungsort munichisme (Münchner Geist), der in Frankreich auf folgende Haltungen verweist: Verrat eines Verbündeten, Angst vor dem Krieg, trügerischer Pazifismus, Appeasement statt Widerstand, moralischer Fehler mit katastrophalen Folgen (die Münchner Verträge gelten als Vorspiel von 1940, der schwersten nationalen Krise des 20. Jahrhunderts). Bis heute ist munichisme ein Schimpfwort in der französischen politischen Sprache geblieben. Torsten Hartleb behandelt drei Hauptelemente dieses Komplexes: seine Entstehung 1948 in Frankreich, seine verschiedenen Äußerungen in der öffentlichen Meinung und seinen Einfluss auf die Außenpolitik des Landes.

Interessant ist zuerst zu bemerken, dass der Münchner Komplex vor den Prager Ereignissen von Februar 1948 entstanden ist. Die Gründe liegen in der inneren Lage Frankreichs, die die öffentliche Meinung vorbereitet hat. Seit dem Austritt der Kommunisten aus der Regierung im März 1947 ist die nationale Übereinstimmung der Libération gebrochen. Die Franzosen haben das Gefühl, eine Krise zu erleben, verbunden mit der Feststellung nationaler Ohnmacht wegen totaler Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten. Es entwickelt sich eine Angst vor einem neuen Krieg zwischen den Supermächten. Diese Stimmung führt zu einer neuen Deutung der Münchner Verträge von 1938: die Erinnerung an dieses Ereignis spaltet sich zwischen Diabolisierung (seitens der Gaullisten, der Kommunisten und der pazifistischen Linke) und Rehabilitierung seitens der neuen Rechten. So rechtfertigt zum Beispiel der ehemalige Sozialist Paul Faure, der 1938 den Münchner Verträgen im Namen des Pazifismus zugestimmt hat, diese Haltung noch zehn Jahre später, während der ehemalige Außenminister Georges Bonnet die Kapitulation Frankreichs vor Hitler wegen der militärischen Schwäche des Landes immer noch für notwendig hält. Wenn alle Elemente zur Widerentstehung des Münchner Komplexes schon Anfang 1948 vorhanden sind, liegt der äußere Katalysator selbstverständlich im “Prager Schlag” vom 20.- 25. Februar 1948, welcher mit Benès Zustimmung zur Konstituierung einer neuen Regierung führt, in der die Kommunisten in der Mehrheit sind und die die erste Stufe in der Verwandlung der Tschechoslowakei in eine Volksdemokratie des Ostblocks darstellt.

Die Analyse der verschiedenen Äußerungen des Münchner Komplexes (was der Autor etwas pompös seine «Phänomenologie» nennt) bildet den zweiten Teil. Torsten Hartleb macht eine Typologie der mannigfachen Stellungsnahmen der Presse und der öffentlichen Debatten, die in den politischen Institutionen der Vierten Republik stattgefunden haben, hauptsächlich in der Assemblée nationale am 27. Februar 1948 und im Conseil de la République am 10. März 1948. Er stellt dabei die beiden Haupttendenzen des Néo-munichisme und des Néo-antimunichisme dar. Hinter jeder Tendenz identifiziert er die politischen Parteien der Zeit.

In diesem Zusammenhang deckt sich der Néo-munichisme mit dem Lager der radikalen Rechte, die den Präsident Benès selbst wegen seiner linken Politik beschuldigt: für die radikale Rechte ist nämlich der Hauptfeind nicht der Kommunismus, sondern die liberale Demokratie, die in der Tschechoslowakei wie in Frankreich zur nationalen Dekadenz führt. In dieser Deutung wäre das schwache Frankreich 1938 wie 1948 zum Pazifismus gezwungen.

Dagegen erscheint der Néo-Antimunichisme (Frankreich solle gegenüber den Prager Ereignissen nicht passiv bleiben) heterogener: hinter dieser Haltung treffen sich paradoxerweise die Ideologien des Gaullismus, des Kommunismus und des links stehenden Neutralismus. Jede geistige Strömung deutet aber seine Stellungnahme anders.

Der Gaullismus gründet seine Argumentierung auf Antikommunismus und zieht eine Parallele zwischen Hitlers Methoden 1938 und Gottwalds 1948. Stalin und Hitler werden in den Kommentaren gleichgestellt. Diese Haltung kann als Geburtstunde des Antitotalitarismus in Frankreich betrachtet werden und führt zum Proamerikanismus. Es die mehrheitliche Tendenz.

Umgekehrt begründen die Kommunisten ihren Antimunichisme mit ihrem traditionellen Antikapitalismus. In ihrer Beweisführung werden die Westmächte, vor allem die Vereinigten Staaten, als kapitalistische Länder mit dem Dritten Reich verglichen. Ähnlich wie Hitler 1938 droht das Bündnis der Westmächte 1948 der Unabhängigkeit und der Demokratie der Tschechoslowakei, während diese Demokratie von der UDSSR verteidigt wäre. Nach den Kommunisten sollte sich Frankreich gegen den Westblock engagieren.

Für die linken, nichtkommunistischen Intellektuellen (die «Neutralisten» wie Torsten Hartleb sie nennt), die sich um die Zeitschriften Esprit (Emmanuel Mounier) und Les temps modernes (Jean-Paul Sartre) sammeln, wird dagegen keine Parallele zwischen 1938 und 1948 gezogen. Ihr Antimunichisme ist vielmehr eine Ablehnung der Logik der Bipolarität. Frankreich solle zwar auf den Zusammenhang des Kalten Krieges reagieren, aber nicht einem oder dem anderen Block folgen. Ihr dritter Weg wäre der reformerische Sozialismus und die Einigung Europas nach föderalistischem Modell, um die tiefe Veränderung der Gesellschaft zu verwirklichen, die nach dem Zweiten Weltkrieg nicht stattgefunden hat.

Welches war der Einfluss dieses Münchner Komplexes in der Außenpolitik Frankreichs? Mit Hilfe von Archivalien des Quai d’Orsay und von Papieren einiger führender Politiker wie des Präsidenten Vincent Auriol und des Außenministers Georges Bidault zeigt Hartleb, dass die französische Diplomatie über die politische Situation in der Tschechoslowakei schon vor den Prager Ereignissen sehr gut informiert war. Juli 1947, als die Tschechoslowakei von der UdSSR gedrungen wurde, die finanzielle Hilfe des Marshall Plans zu abzulehnen, ist der Ausgangspunkt für zahlreiche Vergleiche mit Hitlers Betrug des Landes durch Botschafter Maurice Dejan in Prag, René Massigli in London, Louis de Monicault in Wien, oder Georges Catroux in Moskau. Nach dem “coup de Prague” äußern viele Politiker ihre Angst vor einem neuen Weltkrieg. Diese Angst führt zur Annäherung an die Vereinigten Staaten (Georges Bidault schreibt an Georges Marshall am 4. März 1948) und zur Unterzeichnung des Brüsseler Pakt vom 17. März 1948 (ein militärisches Bündnis zwischen Frankreich, Großbritanien und dem Benelux). Dieser Pakt wird von Torsten Hartleb als “Antimünchner Reaktion” gedeutet. Seiner Meinung nach ist er der Beweis, dass der Münchner Komplex als force profonde (tiefwirkende Kraft in der Terminologie des Historikers Jean-Baptiste Duroselle) auf die Entscheidungen der Außenpolitik Frankreichs wirkt (S. 80). Die Folge ist die Verankerung des Landes im westlichen Block.

Zu betonen ist aber, dass Frankreich sich im Bezug auf diesen Komplex von England und den Vereinigten Staaten unterscheidet: in diesen beiden Ländern herrscht zwar in der öffentlichen Meinung der gleiche Antikommunismus wie in Frankreich, aber ohne dass die Erinnerung an 1938 eine effektive Rolle in der inneren und äußeren Politik spielt. Die Vereinigten Staaten und England glauben nicht an einen baldigen neuen Krieg, eine Haltung, die in Frankreich durch die Brille des Münchner Komplexes als eine gefährliche Täuschung betrachtet wird!

Die Kraft dieses kleinen Buches liegt in seiner klaren, überzeugenden These. Es ist nur schade, dass eben seine Knappheit nicht das Zitieren von mehr Beweisen aus der Presse der Zeit ermöglicht. Nicht so wirkungsvoll erscheinen mir dagegen die verschiedenen Schemata und Diagramme, vielleicht weil das französische Publikum nicht daran gewöhnt ist. Aber wie kann man überhaupt die Variation in der Intensität des Münchner Komplexes im Februar und März 1948 messen (S. 39)? Was kann als Gradeinteilung der Diagramme gebraucht werden? Diese Fragen werden im Buch nicht gelöst. Die Studie auf der moyenne durée weiterzuführen, um das Wiederauftauchen des Münchner Komplexes bei der Krise von Suez (1956), dem Algerien Krieg (1954-1962) oder der Krise der Euromissilen (1980er-Jahre) zu untersuchen, wie in der Einleitung angedeutet, könnte auf jeden Fall sehr interessant sein.

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