P. Birke: Wilde Streiks im Wirtschaftswunder

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Titel
Wilde Streiks im Wirtschaftswunder. Arbeitskämpfe, Gewerkschaften und soziale Bewegungen in der Bundesrepublik und Dänemark


Autor(en)
Birke, Peter
Erschienen
Frankfurt am Main 2007: Campus Verlag
Anzahl Seiten
376 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Knud Andresen, Hamburg

Transnationale Forschung ist in Mode gekommen, Arbeiten über Streiks nicht. Peter Birke hat mit seiner Hamburger Dissertation beides miteinander verknüpft: Er untersucht so genannte ‚wilde’, also nicht durch Tarifrecht gedeckte Streiks in den Jahren 1949 bis 1974 in der Bundesrepublik Deutschland und in Dänemark. Da Birke die Arbeitskämpfe als Teil sozialer Proteste fasst, versteht er darunter auch Formen der Arbeitsverweigerung wie ‚Arbeit nach Vorschrift’.

Er nimmt zwei Länder in den Blick, die in der Streikforschung – deren Höhepunkte allerdings schon gut drei Jahrzehnte zurück liegen – als streikschwache Länder gegenüber den streikfreudigen südeuropäischen oder angelsächsischen Ländern verstanden wurden. Die institutionellen Voraussetzungen ließen dies erwarten: In beiden Gesellschaften spielten Gewerkschaften in stark verrechtlichten industriellen Beziehungen eine große Rolle und dominierten im Sinne einer tripartistischen Rollenteilung die Lohnforderungen der Arbeitnehmer. Unterschiede bestanden in der gewerkschaftlichen Struktur: Während in der Bundesrepublik die Einheitsgewerkschaften im industriellen Sektor weitgehend uneingeschränkt agierten, war in Dänemark ein stärker branchen- und berufsgruppenbezogener Organisationsaufbau – so auch für Frauen oder Ungelernte – vorhanden. In den langen 1960er-Jahren wurden die Tarife überwiegend zentral ausgehandelt. Die Gewerkschaften folgten lange Zeit dem fordistischen Lohnkompromiss, Lohnerhöhungen an die Produktivitätssteigerung zu binden. Zudem befürworteten sie in beiden Ländern die tayloristische Modernisierung der Produktion.

In fünf Abschnitten skizziert Birke die Entwicklung, wobei er jedes Land einzeln betrachtet und am Ende der Kapitel eine zusammenfassende Bewertung vornimmt. Von 1950 bis 1957 prägten noch stärker politische Auseinandersetzungen – so um das Betriebsverfassungsgesetz 1952 in der Bundesrepublik – auch wilde Streiks. Von 1957 bis 1963 fand insgesamt ein Rückgang von legalen Streiks statt, ebenso bis 1968, was allerdings mit einem prozentualen Anstieg von wilden Streiks einherging. Birke kann nachweisen, dass diese „Hochkonjunkturstreiks“ (S. 335) eine so genannte zweite Lohnrunde etablierten, mit der die Beschäftigten übertarifliche Leistungen durchzusetzen versuchten. Bei Vollbeschäftigung und steigenden Gewinnen war dies zumeist von Erfolg gekrönt. Da die Konflikte häufig nur lokal, zum Teil nur innerhalb einzelner Abteilungen eines Betriebes stattfanden, nennt Birke sie unsichtbar. Die in der Definitionen von Birke genannten Verweigerungsformen wie ‚Arbeit nach Vorschrift’ lassen sich daher kaum nachweisen.

Es ist das Verdienst von Birkes Arbeit, die Bedeutung lokaler Konflikte herauszuarbeiten. Auch wenn es nur selten zu übergreifender Koordination von wilden Streiks kam, sind doch Gemeinsamkeiten im Vorgehen und der Kritik an fordistischen Arbeitsbedingungen feststellbar. Dabei ist das umfangreich ausgewertete Quellenmaterial vor allem der bundesdeutschen und dänischen Gewerkschaften bei weitem nicht erschöpfend. Birke räumt ein, dass eine Vielzahl von wilden Streiks gar nicht erfasst wurde, da ein Merkmal die Kürze der Aktionen war (S. 39f.); diese Lücke wäre wohl allein über mikrohistorische Arbeiten aufzuhellen. Hinzu kamen andere Faktoren: Durch hohe Fluktuationen war in den Betrieben bereits nach wenigen Jahren kaum noch Wissen über ältere Streikaktionen vorhanden. Beispielsweise fand bei Ford in Köln beim großen Streik 1973 kaum Austausch über wilde Streiks Anfang der 1960er-Jahre statt. Auch wandelten sich die Akteursgruppen: Spielten in den 1950er-Jahren in der Bundesrepublik Bergleute und in Dänemark Werftarbeiter eine wichtige Rolle, traten sie bei den Streiks Anfang der 1970er-Jahre nur noch am Rande auf. Dies mag mit dazu beigetragen haben, dass die langen 1960er-Jahre in der Streikforschung für beide Länder als weitgehend streikfreie Zeit betrachtet wurden. Diesen Befund kann Birke überzeugend korrigieren.

Einen Bruchpunkt untersucht Birke im vierten Kapitel, das die Zeit um 1969 umfasst, als eine ‚Streikwelle’ Europa erfasste. In der Bundesrepublik waren es die „September-Streiks“ 1969, in Dänemark die zeitlich gestreckte „Ein-Krone-Kampagne“ 1969/70, die zu einem sprunghaften Anstieg von wilden Streiks führte. Die Lohnforderungen waren linear, dass heißt auf größere Verteilungsgerechtigkeit innerhalb der unterschiedlichen Lohngruppen gerichtet. Zugleich wurden die Arbeitsbedingungen in den tayloristischen Fabriken angegriffen. Im letzten Kapitel, welches die Streikwelle um 1973 in den Blick nimmt, wird gezeigt, dass migrantisch geprägte Streiks besonders in der Bundesrepublik die Auseinandersetzungen prägten, während in Dänemark zwischenstaatliche Arbeitsmigration nur eine marginale Rolle spielte.

Birke spricht bei diesem Zeitabschnitt von einem „wirkliche(n) Bruch“ in der Arbeitskampfgeschichte, da der Fordismus als „kohärentes, zusammenhängendes und hegemoniefähiges Gesellschaftsmodell“ (S. 273) nun unter Kritik geriet. Die Lohnzurückhaltung in der Bundesrepublik oder die staatlichen Lohneingriffe in Dänemark gerieten in den 1970er-Jahren ins Wanken, die Lohnforderungen erhöhten sich. Birke wertet den Zeitabschnitt als Sichtbarwerdung der bereits vorher virulenten Arbeitskonflikte. Mit der einsetzenden Weltwirtschaftskrise gewannen die Gewerkschaften jedoch die Kontrolle über die Arbeitskämpfe weitgehend zurück: Verstärkt wurden nun Warnstreiks eingesetzt. Mit der Diskussion um die ‚Humanisierung der Arbeit’ wurde die Kritik an der tayloristischen Arbeitsorganisation aufgegriffen. Diese Entwicklung gilt für beide Ländern. Allerdings hat die Streikfreude in Dänemark nach 1970 zugenommen, das Land gehört inzwischen zu den Spitzenreitern der Streikstatistik.

Wenn Birke auch verstärkende Einflüsse – besonders in Dänemark – der Neuen Linken und der Studierenden ausmachen kann, wird deutlich, dass die wilden Streiks weitgehend getrennt von den neuen sozialen Bewegungen ihren Ausgang nahmen. Über die betrieblichen Konflikte hinausreichende politische Motive spielten selten eine Rolle. Birke plädiert daher dafür, die Ungleichzeitigkeit der sozialen Kämpfe stärker in den Blick zu nehmen, er spricht von einer „Diffusion“ der Arbeitskämpfe, da gerade durch die Gewerkschaften nur bedingt vertretene Beschäftigtengruppen wie Migranten, Frauen und auch Jugendliche häufig Protagonisten von wilden Streiks waren. Wilde Streiks im Wirtschaftswunder zeigen, dass der soziale Kompromiss von Sozialpartnerschaft und Wohlfahrtsstaat auch in der Hochkonjunkturphase brüchig war.

Birke kann belegen, dass die Gewerkschaften in beiden Ländern zumeist an einer Ausgrenzung oder diskursiven Integration der wilden Streiks als falsche, aber zumindest berechtigten Unmut äußernde Aktionen interessiert waren und sie nicht als „Artikulation legitimer sozialer Ansprüche“ (S. 98) verstanden. Hier wäre aber die institutionelle Rolle der Gewerkschaften als industrielle Großorganisation zu berücksichtigen. Es ist nicht überraschend, dass die Gewerkschaften 1960 gegen den Vorwurf der Arbeitgeberseite, die Beschäftigten seien faul, den Fleiß ihrer Klientel betonten. Der Vorwurf der „Eindimensionalität“ (S. 98) gewerkschaftlicher Argumentationen müsste auf breiterer Basis geprüft werden. Birke selbst macht deutlich, dass zum Beispiel die IG Metall auf wilde Streiks, die häufig im Metallbereich stattfanden, Anfang der 1960er-Jahre mit einer „betriebsnahen Tarifpolitik“ reagierten.

Mit der Arbeit soll auch ein Beitrag zur Vorgeschichte der mit „1968“ verbundenen Proteste geleistet werden. Nicht zu Unrecht verweist Birke darauf, dass die Rolle der Arbeiterinnen und Arbeiter in dieser Aufbruchsphase der Bundesrepublik in der Vielzahl der Publikationen kaum in den Blick genommen wurde.1 Wenn auch die Aktivitäten studentischer Gruppen in Richtung Betriebe nach 1969 zunahmen, waren sie doch in der Regel nicht auslösendes Moment für wilde Streiks. Deutlich wird vielmehr, dass die unruhigen 1970er-Jahre mehr Öffentlichkeit und Sympathie für Arbeitskämpfe brachte, was eher als Nachwirkung von 1968 zu betrachten ist.

Birke gelingt es in seiner Arbeit, Einzelfälle und Gesamtstatistik miteinander klug zu verbinden und angenehm lesbar zu präsentieren. Für die lange brachliegende Arbeitskampfforschung geradezu ein Neubeginn. Detaillierte Einzelstudien zu Betrieben oder Regionen würden es jedoch erst ermöglichen, auch weitergehende Fragen zu Geschlechter- und Familienverhältnissen, zu biographischen Prägungen und kulturellen Einflüssen aufzuhellen und mehr Formen der Arbeitsverweigerung zu erfassen. Dies erfordert angesichts der mehr als schwierigen Quellenlage aber erhebliche Anstrengungen. ‚Wilde Streiks im Wirtschaftswunder’ bietet hierfür eine profunde Grundlage.

Anmerkung:
1 Eine Ausnahme ist der Tagungsband mit europäischer Ausrichtung: Gehrke, Bernd; Horn, Gerd-Rainer (Hrsg.), 1968 und die Arbeiter. Studien zum ‚proletarischen Mai’ in Europa, Hamburg 2007.

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