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Titel
Mythos Südsee. Das Bild von der Südsee im Europa des 18. Jahrhunderts


Autor(en)
Meißner, Joachim
Anzahl Seiten
324 S.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Yomb May, Neubeuern

Bis heute erfreut sich der Topos „Südsee“ nicht nur in der Tourismusindustrie großer Beliebtheit. Auch in kulturwissenschaftlichen Untersuchungen wird er nach wie vor intensiv thematisiert. Dieser Herausforderung stellt sich ebenfalls Joachim Meißner in seiner 2006 erschienenen Dissertation mit dem Titel „Mythos Südsee. Das Bild von der Südsee im Europa des 18. Jahrhunderts“. Hinter der schlichten Überschrift verbirgt sich jedoch ein Erkenntnisanspruch, der auf eine völlig neue Akzentsetzung abzielt: Die doppelte Intention der Arbeit besteht darin, zum einen die „Konstitutionsbedingungen“ (S. 9) des Mythos zu problematisieren und zum anderen der komplexen Frage nachzugehen, „in welchen Funktionen und Erscheinungsformen der Mythos politische Diskurse beeinflusst“ (S. 10). Beide Momente bestimmen in ihrer Komplementarität die inhaltliche Ausrichtung der methodisch interdisziplinär angelegten Studie. Sie gliedert sich in vier Hauptkapitel, deren Erkenntnisziele die Bereiche Konstruktion, Kodifizierung und Instrumentalisierung der Südsee abdecken.

Schon im ersten Kapitel widmet sich Meißner der Frage nach der Konstruktion der Antipode. Entgegen der weithin verbreiteten Auffassung des Zeitalters der Aufklärung als Überwindung der Mythen durch die Vernunft und Rationalität weist Meißner nach, dass sich das 18. Jahrhundert ebenfalls durch den Entwurf mythisch angehauchter „künstlicher Horizonte“ (Michaela Holdenried) auszeichnet, wobei der Mythos „terra australis“ eine exponierte Stellung einnimmt. Meißner zufolge entspringt die entsprechende Rezeption der Südsee in zeitlicher, räumlicher, kultureller und anthropologischer Hinsicht „einem Konglomerat verschiedenster Thesen, Mythen und Legenden“ (S. 29), deren Filiationen sich bis in die Antike zurückverfolgen lassen. Sodann führt die genaue Analyse der „attributiven Ausstattung“ (S. 30) der Südsee zu der These, dass der Südseemythos des 18. Jahrhunderts „Produkt einer manipulativen Rezeption des Mythos vom goldenen Zeitalter“ (S. 25) darstellt.

Anknüpfend an diesen Befund, der zentrale „Selbstverständigungsdiskurse“ (S. 10) markiert, bemüht sich Meißner im zweiten Kapitel „Die Landschaft“ (S. 51-118) um die Konkretisierung der von Lévi–Strauss theoretisch begründeten „Funktions- und Arbeitsweise des Mythenproduzenten“ (S. 19). Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei den in Weltumsegelungen mitfahrenden Zeichnern und Malern, die Meißner entsprechend der Terminologie Lévi-Strauss´ der Gruppe der „bricoleurs“ zuordnet. Hier konstatiert er, dass der Mythos Südsee erst durch die ikonografische Stilisierung der Pflanzen und Menschen zu exotischen Topoi und deren „Anbindung […] an den klassischen Mythos vom goldenen Zeitalter“ (S. 67) figuriert werden konnte. Bemerkenswert dabei ist die Feststellung, dass die Anpassung und Neusemantisierung neoklassizistischer Topoi zu einem potenzierten „Bildprogramm“ führte, das „den ästhetischen Vorgaben der Zeit“ (S. 70) diente. Um nun diesen manipulativen Umgang mit der Südsee-Landschaft erkenntnistheoretisch adäquat erfassen zu können, führt Meißner den sinnvollen Terminus „imperiale Malerei“ (S. 70) ein. Mit ihm legt er überzeugend dar, dass die Forschungsexpeditionen der Aufklärungszeit „eine politische Funktion zu erfüllen“ (S. 72) hatten, an die auch die mitreisenden Künstler gebunden waren. Demnach besteht die suggestive Bedeutung der damaligen Landschaftsmalerei darin, mittels der ethnografischen Bilder die europäische Überlegenheit plastisch zu simulieren, um nicht zuletzt auch die Kunst für koloniale Ansprüche nutzbar zu machen. Selbst wenn Meißner bei der Auflösung der Südsee-Wirklichkeit in der politischen Metaphorik durchaus auch ein Instrument „politischer und gesellschaftlicher Kritik“ (S. 118) erkennt, so macht er doch plausibel, dass die „politische Konnotation“ (S. 128) der Südsee dem Ziel diente, koloniale Assoziationen zu wecken, die sich per se eines pervertierten Menschenbildes bedienen.

Das dritte Kapitel greift dann die Frage nach der Schöpfung exotischer Menschenbilder auf, wobei hier jedoch der Topos des Wilden im Mittelpunkt der Darstellung steht. Ausgehend von der These einer Korrelation zwischen Landschaft und „Wilden“ in der Südsee-Ikonografie des 18. Jahrhunderts zeigt Meißner, dass der Topos „Wilder“, der abwechselnd mit den Epitheta „edel“ oder „böse“ inszeniert wurde, in eine „bipolare Wahrnehmung der Exoten“ (S. 124) zerfällt. Die Porträts der Südsee-Insulaner interpretiert Meißner weder als eine naive Bewunderung noch als Ausdruck einer blinden Abgrenzung, vielmehr liest er an ihnen eine kolonial begründete „politische Ästhetik“(S. 124) ab. Ihre ideologische Sprengkraft sieht er nicht nur in der den Insulanern unterstellte „Anerkennung der europäischen kulturellen Überlegenheit“ (S. 146), sondern auch in dem darin kultivierten, zählebigen kolonial-rassistischen Bewusstsein, dass die „schwarze Rasse […] zu beherrschen und auszubeuten“(S. 146) sei. Hier zeigt Meißner, wie der doppelgesichtige Mythos des „edlen“ oder „bösen“ Wilden manipulativ in den Dienst einer dichotomisierenden Anthropologie gestellt wurde, bei der „Weiß und Schwarz“, „Europäer“ und die „Anderen“ – entgegen aller Vernunft – als Erscheinungsformen eines unversöhnlichen Dualismus innerhalb einer hierarchisierten Wertungsskala festgeschrieben wurden.

Im anschließenden vierten und letzten Kapitel „Die Utopie“ (S. 203-272) werden zunächst die antagonistischen philosophischen Positionen zum Naturzustand und Fortschritt, die in den Thesen Rousseaus eine deutliche Zuspitzung erreichten, erörtert. Meißner geht davon aus, dass die Südsee zwar allein schon wegen der dort vermuteten „terra australis incognita“ viel früher eine ideale Projektionsfläche utopischer Konstrukte à la goldenes Zeitalter bereit hielt, sie löste ihm zufolge jedoch seit der Entdeckung der Insel Tahiti einen „Wandel des Utopischen“ (S. 210) aus, der vorzugsweise in der „Naturalisierung der Südseeutopie“ (S. 218) seinen Niederschlag finden sollte. Dabei differenziert Meißner die „Südseeutopien“, die nicht nur in der utopischen Literatur, sondern auch in Reiseberichten und Bildern verbreitet wurden, sowohl nach ihrer diskursiven Ausprägung als auch nach ihrer Funktion. Hier weist er zugleich darauf hin, dass die „Südseeutopisten“ des 18. Jahrhunderts eine „natürliche Verbindung von Mensch und Natur“ (S. 219) fortsetzten, die zwar auch politisch geladen, vielfach jedoch gegen die „Lebensweise des Hofes“ (S. 219) gerichtet war. Allerdings ist die in solchen Utopien suggerierte Aufwertung der Südsee ein Trugschluss, weisen doch derartige Entwurfe Merkmale „paradiesisch-arkadischer Wunschvorstellungen“ (S. 228) auf, die sich weder in der Kontemplation von Alterität noch in der Kritik der zivilisatorischen Evidenz erschöpften, sondern vielmehr als Stimulus für die sexuelle und politische Eroberung des Paradieses rezipiert wurden.

Damit werden dann auch bereits Unzulänglichkeiten sichtbar, die sowohl die Konzeption als auch den Inhalt der Untersuchung betreffen. In konzeptioneller Hinsicht ist vor allem die aufbautechnisch ungeschickte Platzierung der erkenntnistheoretischen Überlegungen zum Mythos zu bemängeln. Irritierend ist, dass der theoretische Ansatz, von dem die Arbeit ausgeht, einer begonnenen Beschreibung des Südsee-Mythos nachgestellt ist. In inhaltlicher Hinsicht wirken ausschweifende Ausführungen etwa über den Fürsten Franz von Dessau oder über die „preußische Soldatendisziplin“ (S. 101) langatmig und gehen zum Teil weit über das behandelte Thema hinaus. Anzumerken ist zudem: Wenngleich die „kolonialen Aspirationen“ (S. 179) der Entdeckungsfahrten der damals konkurrierenden Seemächte Frankreich und England als politisches Auftragsprogramm ausgemacht werden können, so verdienen doch auch die durch diese Unternehmungen erzielten wissenschaftlichen Pionierleistungen und ihre Verbreitung in den damaligen intellektuellen Netzwerken eine entsprechende Würdigung, die der Leser in dieser Arbeit leider nur im Ansatz findet.

Doch sieht man von diesen Desiderata ab, so stellt Meißners flüssig geschriebene Dissertation einen historisch kritischen Beitrag zum Verständnis des Missversverhältnisses zwischen europäischem „kolonialem Anspruchsdenken“ (S. 200) und außereuropäischen Kulturen im Allgemeinen und der Südsee im Besonderen dar. Zweifellos liegt der Erkenntnisgewinn dieser Studie darin, die Südsee insgesamt als Gegenstand politischer Diskurse und die damaligen Darstellungsmodi der Inselwelt als politische Inszenierung beziehungsweise als Ausdruck einer „diskursiven Selbstvergewisserung“ (S. 275) zu beleuchten. Durch die Aufdeckung politischer Motive nicht nur in den entsprechenden narrativen, sondern auch in den künstlerischen Konnotationen macht Meißner zum einen das dramatische Ausmaß der kolonialen Vereinnahmungstechniken augen- und sinnfällig. Zum anderen lenkt er einen kritischen Blick auf die vielfache politische Instrumentalisierung der Südsee im Prozess der Aufklärung. Gerade als politisches Thema erschließt Meißner aus den europäisch-südpazifischen Kulturbegegnungen des 18. Jahrhunderts ein spannendes Forschungsfeld, das bisher zu Unrecht vernachlässigt wurde.

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