J. Feichtinger u.a. (Hrsg.): Schauplatz Kultur - Zentraleuropa

Cover
Titel
Schauplatz Kultur - Zentraleuropa. Transdisziplinäre Annäherungen


Herausgeber
Feichtinger, Johannes; Großegger, Elisabeth; Marinelli-König, Gertraud; Stachel, Peter; Uhl, Heidemarie
Reihe
Gedächtnis – Erinnerung – Identität 7
Erschienen
Innsbruck 2006: StudienVerlag
Anzahl Seiten
472 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ute Rassloff, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas, Universität Leipzig

Als Moritz Csáky 1994 den Grazer Spezialforschungsbereich „Moderne – Wien und Zentraleuropa um 1900“ 1 ins Leben rief, band er zwei zentrale Aspekte zu einem Forschungsdesign zusammen: die ökonomischen und technischen Transformationen im ausgehenden 19. Jahrhundert, die nicht nur zu Vereinheitlichungen, sondern auch zu gesellschaftlicher Segmentierung führten, und regionalspezifische Kriterien Zentraleuropas wie die langfristig bestehende ethnisch-kulturelle und sprachliche Heterogenität des Habsburgerreiches. Ausgehend von dem in der Wiener Moderne um 1900 festgemachten Dreh- und Angelpunkt entfaltete Csákys Arbeitsgruppe ihre längst über Österreich hinaus geschätzten Forschungen zu „Zentraleuropa als komplexem kulturellem System“.2

Der SFB „Moderne“ ist bereits Geschichte. Doch mehr als zehn Jahre nach seiner Gründung bot der 70. Geburtstag Moritz Csákys seinen Schülern, Mitarbeitern sowie einem großen Kreis sympathisierender Forscher Gelegenheit, die Produktivität dieses Ansatzes erneut unter Beweis zu stellen. Die Bilanz ist beeindruckend, liefert sie doch in einem Panorama von 47 Beiträgen aus zahlreichen kulturwissenschaftlichen Disziplinen einen Überblick über Themen und Methoden der Zentraleuropa-Forschung im Geiste Moritz Csákys. Abgerundet wird das Werk durch Helmut Konrads kurze Geschichte des Grazer Sonderforschungsbereichs und Gotthard Wunbergs Würdigung der Wiener Kulturwissenschaften. Bei den konzeptionellen Überlegungen, Thesen und pointierten Fallstudien3 wechseln sich „österreichische“ Perspektiven rege mit denen aus den Nachfolgestaaten der Habsburger Monarchie ab. Die gesamte „Blütenlese“ wird durch vier Leitlinien strukturiert, deren häufige Überlappungen bewusst einkalkuliert sind.

Die erste Leitlinie „Kultur – Gedächtnis – Identität“ steht im Zeichen eines weiten, kommunikationstheoretischen Begriffs von Kultur als einem „Ordnungssystem“, in dem durch Prozesse der Erinnerung, der Aneignung und Zuweisung von Inhalten kontinuierlich Identitätsbildungen stattfinden. Dass der Eigengesetzlichkeit und Materialität von Erinnerungsmedien eine große Bedeutung beigemessen wird, zeigen mehrere theoretische Reflexionen beispielsweise zur historischen Ausstellung, zur Fotografie oder zum Sichtbarmachen von Gedächtnislücken durch Interventionen im öffentlichen Raum. Von der unterschiedlichen Erinnerungsbildung in West- und Osteuropa nach 1989 ausgehend, schlägt Aleida Assmann als Regeln für einen konsensualen Umgang mit Erinnerungen die Unterscheidung von Erinnerung und Argument vor, dazu ein Schuld-Aufrechnungsverbot, ein Opfer-Konkurrenzverbot und ein Gebot der Kontextualisierung, um von einer trennenden zu einer geteilten Erinnerung zu kommen. Betont Heidemarie Uhl den Palimpsestcharakter der sozialen Gedächtnisbildung ganz allgemein, so belegt Emil Brix diesen am Beispiel der neuen EU-Beitragsländer, die auf kulturelle Traditionsbestände der Donaumonarchie zurückgreifen, deren zumindest geographischer Teil sie einmal gewesen sind. Demnach ist ein „vaterländischer“ österreichischer Code über die Jahrhunderte entwickelt worden. Zu seiner Formierung sind etwa Denkmäler der Tonkunst, Landschaftsmalereien im 19. Jahrhundert oder in der Zwischenkriegszeit das Barock (Werner Suppanz) mit seiner tendenziellen Anti-Modernität, Katholizität und Latinität herangezogen worden. Doch dieser „vaterländische“ Code wurde und wird in Zentraleuropa von weiteren, gleichzeitig bestehenden Erinnerungskulturen ergänzt oder konterkariert. Anschaulich macht das Peter Stachel in seinem spritzigen Beitrag „Franz Joseph Superstar“. Der schon in der Vergangenheit auratisierte Kaiser erlebt gegenwärtig nicht nur seine touristische Vermarktung in Wien, sondern auch eine Renaissance in Tschechien, im polnischen Krakau oder in Norditalien. Dies bewertet Stachel treffend als Beleg für „interferierende und oftmals auch konkurrierende Erinnerungskulturen, die sich weder in eine große und homogene zentraleuropäische Meisterzählung noch in eine additive Summe regionaler oder nationaler Gedächtniskollektive schlüssig auflösen lassen“ (S. 101). Wie dieser Umstand schon beim Aufbau einer „patriotischen“ Heldengalerie im frühen 19. Jahrhundert zu Tage trat, zeigt Waltraud Heindl anhand der Habsburger Suche nach „einer Gestalt, die von allen Völkern des Reiches gleichermaßen verehrt werden konnte und weder Eifersucht noch Beleidigungen bei den anderen produzierte“ (S. 110). Eine solche war außerhalb der Dynastie nicht zu finden – andererseits wurde aber damals gerade der dynastische Habsburger Code zunehmend von der Sprache der aufkommenden Nationen der „Wiedergeburt“ ausgespielt – so Wolfgang Müller-Funk in seinen Überlegungen zur Konstruktion eines österreichischen kulturellen Gedächtnisses am Beispiel des Wiener Heldenbergs.

Anknüpfend daran wird auch unter der zweiten Leitlinie „Pluralität – Transnationalität – Postkolonialismus“ nochmals betont, dass der „Kulturraum Zentraleuropa“ in Vergangenheit und Gegenwart von einer „Vielzahl verschiedener Codes, Symbole und Zeichen geprägt ist, die das Vokabular eines verbindenden, transnationalen Kommunikationszusammenhangs“ (S. 12) darstellen. Diese „transnationalen“ Symbole seien durch die Nationalbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts oftmals eindeutig national kodiert und vereinnahmt worden. Dies wird an mehreren Fallstudien zur Selbst- und Fremdwahrnehmung aus der Innen- ebenso wie der Außenperspektive Österreichs exemplifiziert. Grenzüberschreitend sind Dietmar Goltschniggs Beobachtungen zum unterschiedlichen Umgang mit Heinrich Heine in Deutschland und Österreich ebenso wie Werner Sollers Erkundungen zur veränderten Wahrnehmung Österreich-Ungarns in den Baedekern vor und nach 1900. Informationen über die aktuelle Re-Interpretation der Jahre des Zweiten Weltkriegs in Slowenien steht Ernst Bruckmüllers Wahrnehmung Sloweniens von Österreich aus gegenüber, die der Autor selbst als Blick vom Zentrum auf die Peripherie charakterisiert.

Der Band bietet allerdings auch andere Ansätze. Ein erster ist die Mikroanalyse, wie Elena Mannová mit ihrer ausdifferenzierten Studie über den Geburtsort des Jubilars, Levoča / Leutschau / Lőcse – der heute in der Slowakischen Republik liegt – beispielhaft belegt. Sie unterstreicht, dass die Lebenswelt der Leutschauer, von denen viele in drei Sprachen kommunizierten, entlang der nationalen Trennungslinien „eindeutig nicht geteilt war“ (S. 229). Trotzdem sind hier – vor allem in den letzten hundert Jahren – „ungarländische“, „deutsche“, „slowakische“ oder „tschechoslowakische“ Partialgedächtnisse mit ideologischer Absicht institutionalisiert worden.

Ein zweiter Weg wird im Aufgreifen postmoderner kulturwissenschaftlicher Konzepte gesucht. So vertritt Helga Mitterbauer in ihrem emphatischen Plädoyer für eine transkulturelle Literaturwissenschaft den Standpunkt, dass man der Polyphonie und der polyzentralen Struktur Zentraleuropas am ehesten mit Konzepten der Postcolonial Studies gerecht werde, welche die aktuellen globalen Verflechtungsprozesse beschreiben, die sich schon in den kulturellen Vermischungen der Wiener Moderne um 1900 angekündigt hätten.

Diese Gedanken sind mit der dritten Leitlinie des Bandes „Moderne – Postmoderne – Globalisierung“ unmittelbar verbunden. Von der „prä-poststrukturalistischen Aufhebung des Subjekts“ (S. 271) bei Robert Musil zieht Michael Rössner ebenfalls eine Verbindung zur Überwindung des Eurozentrismus in den Postcolonial Studies, wobei er insbesondere einen Vergleich der zentraleuropäischen Kultur mit Lateinamerika empfiehlt. Johannes Feichtinger findet den für die Postmoderne typischen „Verlust der Zentralwerte“ schon bei Hermann Broch vorgeprägt. Transnationale Aspekte der Wissenschaftsgeschichte beschäftigen den Anthropologen Andre Gingrich, der an die koloniale Rolle Habsburgs gegenüber dem islamischen Orient (im Falle Bosniens) erinnerte. Mit dem Konzept des „frontier orientalism“ geht er der Frage nach, inwiefern die eigene Erfahrung von Multiethnizität und Mehrsprachigkeit bei österreichisch-ungarischen Forschern eine differenziertere Sicht auch auf andere Kulturen fördern konnte. Ähnlich suggeriert Volker A. Munz, dass die Wiener Sprachphilosophie um die Jahrhundertwende auch durch die in der Monarchie erlebte Multiethnizität und linguale Heterogenität hatte inspiriert werden können.

Mit der vierten Leitlinie „Performanz – Repräsentation – Theater“ wird das Theater als Ort des Gedächtnisses und Medium der Erinnerung gefasst. Im Theaterschaffen Zentraleuropas sind wohl sämtliche im Band angesprochenen Kommunikationssituationen deutlich gespiegelt worden. Darüber hinaus aber kommen gesellschaftliche Prozesse der Gedächtnisbildung und Identitätsstiftung generell nicht ohne die Praktiken des Performativen aus. Mit Recht machen die Autoren daher das Konzept von Performanz und Repräsentation über die theaterhistorische Forschung hinaus für kulturwissenschaftliche Fragestellungen geltend, nicht nur am Beispiel der nationalen oder der grotesken Oper oder an der Textsorte „Szenar“, sondern auch am (barocken) höfischen Fest als einem der effizientesten Medien der politischen Kommunikation, am Konzept des Performativen in der Kulturtheorie Hermann Bahrs oder auch am Umbruch in der aktuellen deutschsprachigen Theaterszene, den Elisabeth Großegger unter den Stichworten Literaturtheater, Performance und Aktionstheater sowie einer neuen Suche nach Authentizität umreißt.

Wird nach dem innovativen Potenzial des Zentraleuropakonzepts von Moritz Csáky gefragt, so ist vor allem seine Anschlussfähigkeit an aktuelle kulturwissenschaftliche Forschungstendenzen hervorzuheben. Gleich zwei einleitende Studien gehen aus der Perspektive deutscher Ostmitteleuropaforschung darauf ein. Für Rudolf Jaworski liefert Csákys Ansatz einen neuen Blick auf die ostmitteleuropäische Erinnerungslandschaft. Habe diese stets ein diffuses, zerklüftetes und widersprüchliches Erscheinungsbild geboten, das sich kaum in ein Kontinuum einordnen lässt, so könnte dies auch die Folge einer unbewussten historiographischen Reproduktion nationalkulturell und ethnozentrisch definierter Identitätsmuster sein. Moritz Csákys Forschungsansatz biete hier die Chance, auch Ähnlichkeiten zu erkennen, etwa die „weitaus weniger spektakulären Seiten eines verträglichen Mit- und Nebeneinanders der verschiedenen Nationalitäten“ (S. 66), die in der Überlieferung einfach weniger Beachtung gefunden haben als die öffentlichkeitswirksamen Differenzen und Dissonanzen. Philip Ther nimmt in seinem Plädoyer für den Begriff „Zentraleuropa“ schließlich die Antwort auf eine Frage vorweg, die sich dem Leser schon bei einer ersten Durchsicht des Bandes stellt. Wird unter Zentraleuropa tatsächlich genau jenes geographische Gebiet verstanden, das einst Österreich-Ungarn umfasste, und soll durch die räumliche Komponente des Untersuchungsansatzes der historische Zerfall der Habsburgermonarchie und die Gründung der Nachfolgestaaten aufgefangen, mithin der staatlichen Diskontinuität eine für Geschichtsdarstellungen verwertbare regionale und kulturelle Kontinuität entgegengesetzt werden? Um hier einem vorschnellen Ja Einhalt zu gebieten, nimmt Ther nochmals einen Vergleich zwischen „Zentraleuropa“ und „Ostmitteleuropa“ vor. Zwar sieht er in beiden Raumkategorien einen Ausweg aus dem methodischen Nationalismus, weil beide die Überschreitung staatlicher und nationaler Grenzen voraussetzen und die Multiethnizität betonen. Beruhe aber der Begriff „Ostmitteleuropa“ auf einer strukturgeschichtlichen Definition, so hebe Csáky die Bedeutung der Kommunikation und Interaktion hervor. Weil ihm das ermögliche, Ansätze der Postcolonial Studies und postmoderne Konzepte wie Hybridität und Fluidität leichter zu integrieren und neue Wege der Transferforschung zu eröffnen, wandle sich Zentraleuropa unter seiner Hand von einem Forschungsgegenstand in ein Forschungskonzept. Gerade dies rechtfertigt es dann für ihn, einen „möglichen Wissenstransfer aus Österreich in die Bundesrepublik“ (S. 55) anzuregen.

Anmerkungen:
1 Moritz Csáky, Der SFB Moderne – Wien und Zentraleuropa um 1900. Oder Warum es sich lohnt, sich mit der Moderne um 1900 zu beschäftigen, in: newsletter Moderne 1 (1998), 1, S. 2-5.
2 „Zentraleuropa“ beschreibt Csáky hier als einen übergreifenden kulturellen Kommunikationsraum, in dem „zwar unterschiedliche ‚nationale‘ kulturelle Traditionen nachzuweisen sind, in denen sich jedoch neben solchen Unterschieden auch gemeinsame oder analoge Elemente, Codes, ‚Vokabeln‘ vorfinden, gleichsam eine Metasprache, die trotz der konkreten sprachlich-kulturellen Differenzen allen verständlich ist.“ Moritz Csáky, Mitteleuropa / Zentraleuropa – ein komplexes kulturelles System, in: Österreichische Musikzeitschrift, 2005, Nr. 1/2, S. 9-16.
3 Vgl. sämtliche Autoren unter <http://www.studienverlag.at/titel.php3?TITNR=4216> (15.02.2009).

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