Titel
Politics, Pauperism and Power in Late Nineteenth-Century Ireland.


Autor(en)
Crossman, Virginia
Erschienen
Anzahl Seiten
256 S.
Preis
50.00 £
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Inga Brandes, Fachbereich III, Neuere und Neueste Geschichte, Universität Trier

Irland galt lange als „Armenhaus Europas“. Daher überrascht es, dass von dortigen Historikern ein zentrales Feld der modernen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte – Armut, Fürsorge und Sozialpolitik – nahezu unbestellt geblieben ist. Die englische Historikerin Virginia Crossman (Oxford Brookes University) hat nun, als erste seit vielen Jahren1, eine historische Untersuchung zur irischen Armenfürsorge (Irish poor law) vorgelegt.

Es geht ihr um „die Bedeutung“ des „Machttransfers von Landbesitzern (landowners) zu Grundpächtern (landholders)“ während des Land War2, und zwar sowohl für die „irische Politik“ als auch „für die Armen“ (S. 3). Um die „Nationalisierung der lokalen Armenverwaltung“ (Feingold) zu erkunden, untersucht Crossman ausgewählte Zuständigkeitsbereiche wie etwa den sozialen Wohnungsbau oder die Katastrophenhilfe. Die sechs thematisch organisierten Kapitel des Buches beruhen hauptsächlich auf British Parliamentary Papers, zeitgenössischen Zeitungsartikeln, Nachlässen von Politikern oder den Chief Secretary’s Registered Papers.3

Da die irische Armenhilfe als unzureichend erforscht gelten kann, war es vielleicht vernünftig, sich auf die 1880er- und 1890er-Jahre zu beschränken. Leider fehlt eine explizite Begründung für diese Periodisierung. Insgesamt hat Crossman sich eher von der Politik- und Ideengeschichte anregen lassen als von Forschungsfragen und -ansätzen der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Deswegen bleibt auch die Einbettung ihrer Protagonisten in übergreifende sozioökonomische Zusammenhänge – irische ebenso wie britische – blass. Stattdessen werden die Intentionen und Standpunkte von Chief Secretaries oder Mitgliedern des irischen Local Government Boards (im Folgenden LGB) rekonstruiert.

Kapitel eins zeichnet die Entwicklung des irischen Armenfürsorgesystems seit 1838 nach. Erstmals werden die administrativen Strukturen, Aufgaben und Zuständigkeitsbereiche des LGB im Detail beschrieben. Das LGB beaufsichtigte die lokalen Armenräte (boards of guardians), um sicherzustellen, dass deren Entscheidungen im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben blieben. Die Überlieferung des LGB wurde zwar 1922 fast vollständig zerstört, dennoch gelingt es Crossman, die Leitmotive administrativen und politischen Handelns dieser zentralen Armenbehörde im Spannungsfeld zwischen Regierung in Westminster, Chief Secretary und den lokalen Armenräten herauszuarbeiten. Deutlich wird dabei die funktionale Komplexität und Widersprüchlichkeit der administrativen Aushandlungsprozesse nachgezeichnet.

Angelehnt an Feingold beschreibt Crossman in Kapitel zwei die allgemeinen Zusammenhänge zwischen irischem Nationalismus und der „Transformation“ (S. 36) des Armenfürsorgesystems seit den späten 1870er-Jahren. Nach Crossman habe „der wachsende Einfluss von gewählten Armenräten“ flächendeckend zu einem „offeneren und zugänglicheren Stil der Armenverwaltung“ (S. 50f.) geführt.

Diese These wird in Kapitel drei am Beispiel der Armenräte von New Ross und Athy empirisch unterfüttert. Es wird minutiös beschrieben, wie die beiden nationalistisch dominierten Armenräte bedenkenlos ihre neu gewonnene Macht in der Lokalverwaltung zu Gunsten der nationalistischen Landliga (land league) einsetzten und ihr so halfen, ihre Forderung nach nationaler Selbstverwaltung auf die politische Agenda der britischen Regierung zu setzen. Crossman zeigt auch, wie es dem LGB nach 1886, unter einer konservativen Regierung, die die unerwünschten Aktionen der Armenräte unerbittlich kriminalisierte, unmöglich wurde, seine Politik der Nichteinmischung beizubehalten. Beide Armenräte riskierten ihre Auflösung durch das LGB4, um die Herrschenden zu desavouieren und der Forderung nach nationaler Selbstverwaltung (Home Rule) Legitimität zu verleihen. Obwohl es mit Hilfe der nationalistischen Presse gelang, die symbolische Bedeutung ihres rebellischen Agierens zu maximieren, wurde es nicht, wie erhofft und erwartet, von anderen Armenräten „massenhaft imitiert“ (S. 85). Daraus schlussfolgert Crossman, dass Armenräte zwar systemimmanent das LGB herausfordern konnten, aber „der Macht des LGB das System zu regulieren“ (S. 101) letztlich nichts entgegenzusetzen hatten. Crossman hätte die Überzeugungskraft ihrer weitreichenden Generalisierungen steigern können, wenn sie wenigstens versucht hätte, den hohen Politisierungsgrad der Armenräte von New Ross und Athy in Relation zu den übrigen 161 Armenräten zu erklären, die unbeeindruckt von den Zeitläuften weiter eine ‚Normalverwaltung’ der Armut und der Armen aufrechterhielten. Erst weitere epochenübergreifende, internationale und interregionale historische Vergleiche werden Rückschlüsse darauf zulassen, inwiefern es angemessen ist, von einer „Humanisierung“5 des irischen Armenfürsorgesystems zu sprechen.

Wie die Regierung auf die Agrarkrise der 1880er-Jahre mit Maßnahmen zur Katastrophenhilfe (emergency relief) reagierte, und wie, umgekehrt, die Armenräte diese Hilfe in Anspruch nahmen, wird im vierten Kapitel geschildert. Um den Einfluss der Armenräte auf die Gestaltung des sozialen Wohnungsbaus für Landarbeiter geht es dann im fünften Kapitel. Crossman wendet sich der Arbeiterschutzgesetzgebung (Labourers Acts 1883-1906) zu und untersucht ihren „Ursprung, die Rezeption und Operation“ (S. 145). Crossmans Ausführungen zur Umsetzung dieser Gesetze fördern unerwartete Resultate zutage: 1. Manche Armenräte hatten sich der Implementierung der Landarbeitergesetze sehr verpflichtet und „halfen dabei die Gesetzgebung zu konturieren, indem sie bei der Regierung Lobbyarbeit leisteten, um Änderungen und Anpassungen der Gesetze zu bewirken, und Verbesserungen vorzuschlagen“ (S. 174). 2. Gegen die hergebrachte gesellschaftliche Ordnung kam es bei Konflikten sogar vor, dass sich LGB-Inspektoren und Armenräte gegen die Gutsbesitzer verbündeten. 3. Die Arbeiter hatten ohne die „aktive Unterstützung von einflussreichen Personen vor Ort“ (S. 167) von den Gesetzen nicht viel zu erwarten. Eine Einordnung dieser Ergebnisse in die irische oder internationale Wohlfahrtsstaatsforschung muss der Leser allerdings selbst vornehmen.

Im sechsten Kapitel fragt Crossman danach, ob das passive Wahlrecht für Frauen – seit 1897 konnten sie zu Armenrätinnen gewählt werden – zu einem Wandel in der lokalen Armenpolitik führte. Sie betont, dass weibliche Kandidaten sich häufig als „nicht-politisch“ (S. 196) darstellten, weil sie hofften, so politische und religiöse Gegensätze überbrücken zu können. Waren sie erst einmal gewählt, so beschränkten sich die Armenrätinnen oft auf die Kinder- oder Krankenfürsorge und blieben damit genau innerhalb des engen, durch den zeitgenössischen Geschlechterdiskurs gesteckten Rahmens. Trotzdem eröffnete, nach Crossman, die Präsenz von Frauen in der Lokalverwaltung den Armenräten neue Handlungsspielräume im Verhältnis zum LGB.

Crossmans Werk stellt einen quellenfundierten Beitrag zur Geschichte der Armenverwaltung und -politik in Irland dar. Es hätte freilich eine größere Kohärenz gehabt, wenn eingangs präzise Forschungsfragen formuliert worden wären, wenn zentrale Begriffe wie Armut und Respektabilität vor dem Hintergrund der aktuellen Forschungslage diskutiert und in international vergleichende Forschungskontexte eingebettet worden wären.6 Aus der Perspektive der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte besteht eine weitere Schwäche der Arbeit darin, dass ihr Zahlen und Fakten mangeln, die eine sozioökonomische Verortung der Aktionen und Motive der Protagonisten erlaubt hätten. Außerdem hält Crossman ihr Versprechen, die Perspektive der Armen zu berücksichtigen, nicht ein. Immerhin gewinnt sie aber neue Einsichten in die administrativen Ziele und Praktiken der zentralen Armenbehörde (LGB) im Verhältnis zu Chief Secretaries und Armenräten. Es wird sehr klar: Diese Institution ist bisher als Akteur bei der Implementierung von Sozialpolitik im Irland des 19. Jahrhunderts weithin unterschätzt worden. Die Autorin beleuchtet die Bandbreite der politischen Strategien der lokalen Armenräte ausführlich, wobei sie die Expansion der administrativen Funktionen der Armenverwaltung hin zu einer generellen Lokalverwaltung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Blick behält. Das Buch stellt einen willkommenen Beitrag zur irischen und europäischen Armuts- und Wohlfahrtshistoriographie dar, und weil es in einem sehr leserfreundlichen klaren Stil geschrieben ist, verdient es eine breite Leserschaft.

Anmerkungen:
1 William Feingold, The Revolt of the Tenantry. The Transformation of Local Government in Ireland, 1872-1886, Boston 1984.
2 Seit 1800 gehörte zwar Irland durch den „Act of Union“ integral zum Vereinigten Königreich, doch diese Zugehörigkeit blieb bis zur politischen Unabhängigkeit des irischen Freistaats (1921) stets umstritten. Im Gefolge der Agrarkrise der späten 1870er-Jahre spitzte sich die Auseinandersetzung zwischen irischen Nationalisten, die für die Selbstverwaltung (Home Rule) eintraten, und britischen „Unionisten“ empfindlich zu. Grob gesagt standen sich im „Land War“ arme, katholische, nationalistische Pächter und wohlhabende, protestantische, konservative Landbesitzer gegenüber, wobei jede Seite versuchte, die Macht an sich zu reißen.
3 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war der „Chief Secretary for Ireland“ zum de facto wichtigsten Repräsentanten der englischen Krone in Irland avanciert, durch dessen Büro fast alle lokalpolitischen und administrativen Korrespondenzen „geschleust“ wurden.
4 Nur die irischen Armengesetze (Irish poor laws) erlaubten es der zentralen Armenbehörde (LGB), bei Nichtbefolgung der LGB-Weisungen oder gar offenem Widerstand gegen die Weisungsbefugnis des LGB Armenräte aufzulösen (dissolution). Das geschah allerdings zwischen 1838 und 1921 nur sehr selten.
5 Virginia Crossman, The Humanization of the Irish Poor Laws: Reassessing Developments in Social Welfare in Post-Famine Ireland, in: Andreas Gestrich / Steven A. King / Lutz Raphael (Hrsg.), Being Poor in Modern Europe. Historical Perspectives 1800–1940, Bern 2006, S. 229-250.
6 Vgl. etwa Mel Cousins (Hrsg.), European Welfare States. Comparative Perspectives, London 2005; Bernard Harris / Paul Bridgen (Hrsg.), Charity and Mutual Aid in Europe and North America since 1800 (= Routledge Studies in Modern British History), New York 2008; Steven A. King / John Stewart (Hrsg.), Welfare Peripheries. The Development of Welfare States in Nineteenth and Twentieth Century Europe, Oxford 2007.