H. Bödeker u.a. (Hrsg.): Jenseits der Diskurse

Cover
Titel
Jenseits der Diskurse. Aufklärungspraxis und Institutionenwelt in europäisch komparativer Perspektive


Herausgeber
Bödeker, Hans Erich; Gierl, Martin
Reihe
Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 224
Erschienen
Göttingen 2007: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
489 S.
Preis
€ 69,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Holger Böning, Deutsche Presseforschung, Universität Bremen

Zu den wichtigsten Verdiensten von Rudolf Vierhaus gehört es, einer ganzen Generation von Historikern gezeigt zu haben, dass die deutsche Aufklärung weit mehr war als eine auf die Gelehrten begrenzte Geistesbewegung, sondern ihre Bedeutung auch im Engagement für praktische Reformen, den Gemeinnutz und das Wohl des Nächsten lag. Als praktische Reformbewegung und große Bürgerinitiative wirkte sie in alle Lebensbereiche und veränderte den Alltag. So lag es nahe, zum 80. Geburtstag des großen Historikers ein Kolloquium zum Thema „Aufklärung und Lebenswelt“ zu veranstalten, dessen Thema mit dem Buchtitel etwas präziser beschrieben ist, auch wenn das praktische Wirken der Aufklärer im Grunde nicht jenseits des Diskurses stattfand, sondern eigentlich stets von Debatten über Wege und Ziele des eigenen Engagements begleitet war.

In europäisch vergleichender Perspektive wird nach den praktischen Folgen der Aufklärung in und für Institutionen wie Schulen, Bibliotheken oder Armenhäuser sowie für Praxisfelder wie Politik, Verwaltung, Religion, Bildung, Theater- und Literaturbetrieb gefragt. Entsprechend den Schwerpunkten der kultur-, sozial- und kommunikationshistorischen Aufklärungsforschung hat der Band, wie einleitend betont wird, seine Schwerpunkte bei der „frommen Aufklärung“, bei der Verwaltung und den Reformen vor Ort, bei urbanen Aufklärungsgesellschaften, bei der Aufklärung als Kommunikationsapparat sowie bei den klassischen Kultur- und Bildungseinrichtungen der Aufklärung erhalten. Geographisch ist Europa wie fast immer in der Wahrnehmung westlich orientierter Wissenschaft arg begrenzt auf das Alte Reich, in dem das nördliche Deutschland prominente Berücksichtigung findet, sowie auf Frankreich, England, Dänemark und Italien. Ein Blick wird auch auf Amerika geworfen, doch völlig fehlt das östliche und südöstliche Europa.

Doch auch so sind die 19 Beiträge in ihrer Themenvielfalt anregend. Sie verteilen sich auf die drei Bereiche „Werkzeuge und ihre Praxis: Schrift, Sprache, Formular, Theater, Interpretation, Konversation und Rezeption“, „Apparate und ihre Institutionen: Bildung, Information, Geburt, Leben und Tod“ sowie „Administration und ihre Sozietätsgefüge: Stadt, Gemeinde, Konfession, Club, Feiertag und Mord“. So wie sich unter diese Überschriften eigentlich fast alles subsumieren ließe, so wirkte ja tatsächlich die Aufklärung auf alle Bereiche des menschlichen Lebens.

Mehrere Aufsätze sind den Vermittlungspraktiken und den Medien der Aufklärung gewidmet, der Alphabetisierung in Deutschland und Frankreich, der Oralität in der Wissenschaft, den Vermittlungsmedien Konversation und Reisen am Beispiel Benjamin Franklins oder den Zeitschriften in Göttingen und London, der Reform der Verwaltungssprache, der Auseinandersetzung der norddeutschen Aufklärung mit den Jesuiten, der veränderten Bibelexegese, der Wirkung deutscher Kameralisten bei amerikanischen Ökonomen oder der Rezeption Diderots. Unter den Institutionen werden besonders die Armenanstalten und die Bedeutung des Hamburger Modells als in der Praxis nicht umsetzbares Vorbild behandelt, die Mädchenschulbildung, Entbindungshospitäler und die Geburtshilfe allgemein sowie sehr aufschlussreich die Friedhöfe in der Aufklärung. Geradezu aufregend werden „Geschichten aus dem Archiv“ erzählt, herausgekommen sind dabei Erzählungen zu Aufklärung, Kriminalität und politischer Kultur in Hamburg, Amsterdam und Antwerpen. Hamburg steht auch im Vergleich mit Bordeaux im Mittelpunkt, wenn es um kaufmännische Soziabilität im 18. Jahrhundert geht. Am Beispiel der Feiertagsreduktionen werden Aufklärung und religiöse Praxis in Deutschland und Dänemark verglichen, interessant auch das durch die Aufklärung beeinflusste Verhältnis von Katholiken und Protestanten im Eichsfeld.

Der Band ist verdienstvoll, weil er die praktische Aufklärung in das Zentrum seiner Betrachtungen stellt und Rudolf Vierhaus zu Ehren die Aufklärungsgeschichte dort weiterschreibt, wo es die Herausgeber und Autoren angesichts des erreichten Forschungsstandes für notwendig halten. Unterstrichen wird noch einmal, dass sich die Aufklärung nicht gegen Religion und Theologie vollzog, sondern vielmehr durch sie. Theologische Themen spielten bei aller Akzeptanz bestimmter Formen der Religions- und Christentumskritik weiterhin eine wesentliche Rolle, so dass Aufklärung auch als innertheologisches und innerkirchliches Geschehen zu betrachten ist, was insbesondere auch im praktischen, aus Nächstenliebe gespeisten Engagement vieler Landgeistlicher zum Ausdruck kam.

Zu wünschen wäre für einen ergänzenden Band die Einbeziehung nicht nur weiterer geographischer Räume, denn tatsächlich wirkte die Aufklärung in starkem Maße auch in östliche Richtung – daneben ist die Schweiz für vergleichende Studien besonders ergiebig –, sondern eine noch stärkere Berücksichtigung des großen Feldes einer Presse, die für die praktische Aufklärung so unendlich wichtig war, Zeitungen beispielsweise, in noch stärkerem Maße Intelligenzblätter, die das Gedankengut und die praktischen Impulse der Aufklärung in das letzte Dorf trugen, auch die pädagogische, landwirtschaftliche, naturwissenschaftliche und naturforschende Zeitschriftenliteratur, sodann Institutionen der Aufklärung wie die Allgemeine Deutsche Bibliothek oder die Allgemeine Literaturzeitung, auch die im Dienste praktischer Reformen stehenden Zeitschriften Rudolph Zacharias Beckers oder die für eine politische Öffentlichkeit agierenden Journale August Ludwig Schlözers, ja selbst die Kalender, von denen sich viele in den Dienst der Volksbildung und der populären Aufklärung stellten. Ganz zu Recht zitieren die Herausgeber den Göttinger Entbindungsarzt Osiander: „Es ist nichts nach allen Teilen Vollkommenes in der Welt, und jede Anstalt kommt nur mit den Jahren zu einem höhern Grade von Vollkommenheit. Publizität über das, was geschiehet, führt sie am baldesten zum Ziel.“

Zu berücksichtigen wäre dann auch die große Menge populäraufklärerischer Literatur, die ebenfalls Praxis einer auf die Weitervermittlung neuen Denkens und Handelns bedachten Schicht von Gebildeten war. In diesem Zusammenhang wäre dann auch zu fragen, ob die Aufklärung tatsächlich so dezidiert auf die Stadt beschränkt war oder ob sie nicht auch auf die ländliche Gesellschaft in tiefgreifender Weise gewirkt hat. Einige Desiderata nennen die Herausgeber einleitend selbst, nämlich besonders den großen Bereich der praktischen Umsetzung der Aufklärung in der Ökonomie und im politischen Apparat. Wenig ist auch bekannt, inwieweit Aufklärung sich in den entfaltenden Handelsbeziehungen, Finanzmärkten, Gewerken und Manufakturen niederschlug und in welcher Weise sich Aufklärung in politische Organe umgesetzt hat.