W. Loth: Die Sowjetunion und die deutsche Frage

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Titel
Die Sowjetunion und die deutsche Frage. Studien zur sowjetischen Deutschlandpolitik


Autor(en)
Loth, Wilfried
Erschienen
Göttingen 2007: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
318 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rolf Badstübner, Berlin

Loths 1994 veröffentlichte Publikation zur sowjetischen Deutschlandpolitik1 löste einen intensiven Meinungsstreit aus, in dem zugleich auch die schon ältere Kontroverse um die Stalin-Note von 1952 neu belebt wurde. Nachfolgend hat sich Loth in mehreren Aufsätzen mit Gegenpositionen und -argumenten gründlich und ausführlich auseinander gesetzt und seine Positionen, auch im Kontext neuer Quellen sowjetischer Provenienz, bekräftigt. Diese Kontroversen können vom Leser quasi nochmals nachvollzogen werden.

Der Band enthält sechs seit 1995 veröffentlichte Aufsätze, die, mit drei Originalbeiträgen („Planungen im Zweiten Weltkrieg“, „Die deutsche Frage bei Kriegsende“ und „Stalin, Beria und Chruschtschow“) angereichert, in neun chronologisch geordneten Kapiteln eine, allerdings stark auf die Problematik von 1952 ausgerichtete Darstellung der sowjetischen Deutschlandpolitik vom Zweiten Weltkrieg bis zur Mitte der 1950er-Jahre des vorigen Jahrhunderts bieten. Zwei Anhänge, in denen ausführlich Dokumente zur Entstehung der Stalin-Note sowie knapp ein Malenkow-Memorandum vom Juni 1953 editiert werden, bereichern den Band. In letzterem ist von der (Wieder)Vereinigung „auf der Basis der Umwandlung Deutschlands in einen friedlichen bürgerlich-demokratischen Staat“ (S. 302) die Rede, wobei allerdings offen bleibt, was unter „Umwandlung“ zu verstehen ist.

Gegenüber denen, die der Sowjetunion die Absicht einer Sowjetisierung oder doch zumindest Penetrierung ganz Deutschlands zuschreiben, positioniert sich Loth in der Einleitung folgendermaßen: „Stalins Deutschlandpolitik [...] war gesamtdeutsch angelegt. Dabei war die kommunistische Machtergreifung in Deutschland kein operatives Ziel. Vielmehr sollte zunächst in Kooperation mit den westlichen Besatzungsmächten ein Regime errichtet werden, dass 'die bürgerliche Revolution vollendete', sprich: ein Regime in der Tradition der Weimarer Republik. Wie der Weg [...] zur historisch vermeintlich unvermeidlichen sozialistischen Revolution verlaufen würde, dazu hatte Stalin keine Vorstellungen.“ (S. 7) Zugleich ist es das Anliegen Loths nachzuweisen, dass Stalin in diesem Sinne und in solchem Rahmen ernsthaft an einer Regelung der deutschen Frage interessiert war und dass insbesondere die Note von 1952 ein ernst gemeintes Verhandlungsangebot darstellte. Damit wendet er sich zugleich gegen alle diejenigen, die die Stalin-Note als bloße Propaganda, Kampagne und Störmanöver einordnen und von einer nicht zur Disposition stehenden Einbeziehung von der SBZ/DDR in den sowjetischen Herrschaftsbereich ausgehen.

Loth konnte sich neben eigenen Recherchen vor allem auf die dreibändige Dokumentenedition aus dem sowjetischen Außenministerium2 und auch auf eine neuere Edition zur sowjetischen Politik in Österreich3 (S. 70-73) stützen. Dennoch ist festzuhalten, dass der Stand der Erschließung der sowjetischen Quellen noch immer unbefriedigend ist, da ganze Quellengruppen wie die der SMAD bisher nur selektiv und direkte Überlieferungen des Politbüros und vor allem Stalins selbst bisher gar nicht erschlossen werden konnten. So bilden zweifellos die Unterredungen Stalins mit der KPD- und dann der SED-Führung in Moskau, die nach den Aufzeichnungen Wilhelm Piecks nun auch von sowjetischer Seite protokolliert vorliegen und auf die sich Loth stark stützt, eine wichtige Quelle für die Analyse der Deutschlandpolitik Stalins, doch lassen sich aus ihnen und den anderen erschlossenen Quellen bisher kaum definitive und umfassende Antworten hinsichtlich seiner tatsächlichen Absichten und Erwartungen, seiner Überlegungen und Konzepte, kurz- und langfristigen Ziele ableiten. Das wiegt umso schwerer, als die ständig von Fehlinterpretationen und einer Überforderung Stalins, bürokratischer Schwerfälligkeit und Ineffizienz sowie Vermittlungsproblemen betroffene sowjetische Politik in und gegenüber Deutschland keineswegs das Bild einer stringenten, an einem eindeutigen Konzept ausgerichteten, sondern eher das einer multioptionalen, in sich widersprüchlichen Politik bot. Dies erklärt wohl auch, dass sich sowohl Loth als auch seine Kontrahenten durch den bisherigen Quellen- und Forschungsstand in ihren Auffassungen bestätigt fühlen.4

Aber zweifellos gelingt es dem Autor nachzuweisen, dass Stalin der ihm aufgezwungenen Oststaatsbildung eigentlich widerstrebte, sie hinauszögerte, solange es ging, auf die Ausarbeitung einer gesamtdeutschen Verfassung durch den Volksrat orientierte und die insbesondere von Ulbricht betriebenen volksdemokratischen Forcierungen im Interesse einer gesamtdeutschen Regelung bremste (Die Gründung der DDR, S. 74-100). Danach strebte Stalin eine Neutralisierungsregelung an, die den veränderten Bedingungen Rechnung trug. Dafür ließ er ein ernst gemeintes Verhandlungsangebot etwa zu den von Loth umrissenen Bedingungen ausarbeiten und unterbreitete es (Die Entstehung der 'Stalin-Note', Kap. 6, S. 101-157, sowie Dokumentenanhang S. 237-300). Neutralisierung (vor allem also keine NATO-Bindung!) und Oder-Neiße-Grenze waren allerdings aus Stalins Sicht nicht verhandelbar. Wie kompromissbereit Stalin ansonsten tatsächlich gewesen wäre, das hätte nur in Verhandlungen festgestellt werden können, die jedoch von westlicher Seite blockiert wurden. Andererseits knüpfte Stalin schon in der Note vom 9. April 1952 freie Wahlen in Deutschland an eine Erfüllung des Potsdamer Abkommens an. Dabei war eine unmittelbare Durchführung von Wahlen eigentlich nicht möglich, da nach sowjetischer Auffassung in dieser Hinsicht in Westdeutschland gravierende Defizite bestanden. Vor allem jedoch muss festgehalten werden, dass eine Neutralisierung Deutschlands nunmehr den gesamten Prozess von Westblockbildung und Westintegration in Frage gestellt hätte. Adenauer lehnte jede Art von Neutralisierung Deutschlands strikt ab, engagierte sich intensiv im Sinne von ‚Westintegration first’, was er auf keinen Fall durch Verhandlungen stören oder gar gefährden lassen wollte. Und da sich auch die Westmächte auf das Prinzip Sicherheit vor Deutschland durch dessen enge Einbindung festgelegt hatten und es außerdem nicht für möglich hielten, Deutschland bzw. Westdeutschland aus dem westeuropäischen Integrationsprozess und aus dem atlantischen Bündnis auszuschließen, gab es eigentlich keine echten Chancen für eine Verhandlungslösung.

Das Fenster für eine Neutralisierungsregelung der deutschen Frage war wahrscheinlich nur für eine kurze Zeit, nämlich 1946/47, offen. Gerade dieser Zeitraum, in dem doch wohl die größten Chancen für deutsche Regierungsbildung und Friedensregelung, allerdings in einem anderen historischen Kontext und mit anderen Modalitäten und Ergebnismöglichkeiten als 1952, bestanden, bleibt im Vorliegenden leider ausgespart. Ungeachtet dessen sei festgestellt, dass Loth, gestützt auf gründliche Recherchen, eine hervorzuhebende, anregende und in vielem überzeugende Darstellung der sowjetischen Deutschlandpolitik vorgelegt hat, die den Blick auf alternative Ansätze und Möglichkeiten deutscher (und europäischer) Nachkriegsentwicklung im ersten Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg lenkt und geeignet ist, viele gängige und vorschnelle Stereotypen zu widerlegen oder doch zumindest in Frage zu stellen.

Anmerkungen:
1 Siehe Loth, Wilfried, Stalins ungeliebtes Kind. Warum Moskau die DDR nicht wollte, Berlin 1994.
2 Die UdSSR und die deutsche Frage 1941-1948. Dokumente aus dem Archiv für Außenpolitik der Russischen Föderation. Bearbeitet und herausgegeben von Jochen P. Laufer und Georgij P. Kynin unter Mitarbeit von Viktor Knoll. 3 Bde., Berlin 2004. Während viele darin enthaltene Dokumente durchaus Loths Positionen stützen, sehen das allerdings die Herausgeber anders, wenn sie glauben, schlussfolgern zu können, dass für Stalin immer zentral „die Abschirmung der sowjetischen Einflusszone“, die „Transformation der SBZ zu einer Gesellschaft sowjetischen Typs“ gewesen sei. „Deshalb zielte die gesamtdeutsche Propaganda, einschließlich der Propaganda für einen deutschen Friedensvertrag [...] niemals auf eine tatsächliche Verständigung mit den Westmächten.“ (Bd. 2, Einl., S. XLIX; Bd. 3, Einl., S. LXXXIII).
3 Mueller,Wolfgang; Suppan, Arnold; Naimark, Norman N., Bordjugov, Gennadij (Hrsg.), Sowjetische Politik in Österreich 1945-1955. Dokumente aus russischen Archiven, Wien 2005.
4 Siehe Zarusky, Jürgen (Hrsg.), Die Stalin-Note vom 10. März 1952. Neue Quellen und Analysen. Mit Beiträgen von Wilfried Loth, Hermann Graml und Gerhard Wettig (Schriftenreihe d. VfZ, 84), München 2002. Siehe auch meine Rez. in: ZfG 2 (2002), S. 194f.

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