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Titel
Ungeordnete Unzucht. Prostitution im Hanseraum (12. - 16 Jh.). Lübeck - Bergen - Helsingør


Autor(en)
Hemmie, Dagmar M. H.
Erschienen
Köln 2007: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
476 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Doris Bulach, Regesta Imperii, Abt. Ludwig der Bayer, München

„Mit Rannveig der Roten sollst Du Sex haben, das ist größer als der Penis eines Mannes und kleiner als der eines Pferdes“ – mit diesen direkten wie gleichermaßen kryptischen Worten eines Runenstäbchens des 13. Jahrhunderts aus Bergen beginnt die hier zu besprechende, erste größere Studie zur Prostitution im nördlichen Europa. Ziel der Autorin ist es, anhand von drei großen Seehandelsplätzen des Nordens, von Lübeck, dem dänischen Helsingør und dem norwegischen Bergen „möglichst viele Aspekte der Prostitution“ zu untersuchen (S. 4), wobei die Methode „einer möglichst dichten Beschreibung des Umfelds und aller Faktoren, welche auf die Prostitutionsverhältnisse und die Lebenssituation der betreffenden Frauen einwirkten“ im Vordergrund stand (S. 331). Dazu sollte „mit einem sehr weit gefaßten Begriff des Phänomens ‚Prostitution’“ gearbeitet (S. 29), also auch sonstiges deviantes weibliches Sexualverhalten mit einbezogen werden – ein Ziel, dass Hemmie leider immer wieder aus den Augen verliert, wodurch offenkundig ‚deviantes Verhalten’ zu schnell doch wieder der ‚Prostitution’ zugeordnet wird.

Ein umfangreiches Inhaltsverzeichnis mit 18 Hauptkapiteln und so vielversprechenden Kapitelüberschriften wie „Woher kommst Du, wohin gehst Du? – Wege in die Prostitution“, „Sündenbabel oder Randphänomen? ...“ oder „’Gehen wir zu mir oder zu Dir ...?’ Eine Frage der Lokalität. Stätten der mittelalterlichen Prostitution“ machen zusätzlich gespannt auf die Ergebnisse dieser Studie. Neben Fragen der Definition von Prostitution (S. 23-33) werden ökonomische, soziale und gesellschaftliche Rahmenbedingungen behandelt, neben der „gesundheitlichen Fürsorge“ kommen auch die unehelichen Kinder sowie das Fremd- und Selbstbild der Prostituierten nicht zu kurz, gefolgt von einem abschließenden Kapitel zu den Folgen, die die Verbreitung der Syphilis und die Durchsetzung der Reformation für die Prostitution hatten. Der eigentlichen Studie folgt ein umfangreicher Anhang mit 44 Beilagen, darunter Abschriften einiger publizierter Quellen (z.B. verschiedene Luxusordnungen), aber auch zahlreiche Ausschnitte von unpubliziertem Material vor allem aus dem Helsingører Tingbuch (Mitte/Ende 16. Jahrhundert) oder die Abgaben der „Schoen angesichte“ (Ende 15./Anfang 16. Jahrhundert), verzeichnet im Lübecker Wettejahrbuch (unklar bleibt hier, warum auch die Apfelhökerinnen, also Obstverkäuferinnen, hier aufgenommen wurden), dazu finden sich vier Karten der untersuchten Städte. Ein umfangreiches Quellen- und Literaturverzeichnis sowie ein Personenindex runden die Studie ab.

Die Quellenlage, die Hemmie vorfand, ist, gerade im Vergleich zu süddeutschen Städten sehr dürftig, da der untersuchte Personenkreis „historisch kaum greifbar“ (S. 6) und die Quellen zudem rein männlich und normativ geprägt sind. Dazu kommt, dass auch innerhalb der untersuchten Städte die Quellenlage sehr disparat ist. Stammen sie bei Lübeck aus dem 13., vor allem aber aus dem 15. Jahrhundert, liegt der Schwerpunkt der ganz anders gearteten Quellenüberlieferung aus Bergen und Helsingør im 16. Jahrhundert, was einen Vergleich äußerst schwierig macht.

In den Kapiteln vier bis sieben widmet sich Hemmie den Rahmenbedingungen, den Formen und dem Ausmaß der Prostitution. Dabei zeichnet sie stringent und gut lesbar neben der rechtlichen Stellung verheirateter und unverheirateter Frauen die sozialen und wirtschaftlichen Lebensentwürfe im Ostseeraum nach. Eine gewisse berufliche Selbständigkeit zeigt sie für Ehefrauen und Witwen von Fernhändlern auf (S. 59-61), während das Hauptbetätigungsfeld für ärmere Frauen im Dienstleistungsgewerbe und im Bierschankgeschäft lag. Gerade aber die letzten beiden Gewerbe setzten Frauen schnell dem Verdacht eines „devianten“ Lebenswandels aus. Durch die immer weitere Einengung der Wahlmöglichkeiten für vor allem unverheiratete Frauen, die Hemmie konsequent verfolgt, gewinnt man den Eindruck, dass der Weg in die Prostitution gerade für Frauen aus armen Verhältnissen quasi bedingungslos vorgezeichnet war, ein Weg, der ihnen aber nach Hemmie nur das knappe Überleben sicherte. Auf dieser festen Annahme baut die Untersuchung im Folgenden auf.

Mit Sicherheit waren „die rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen“ in den Städten mit [!] verantwortlich für die Lebensmöglichkeiten und -alternativen für Frauen (S. 331). Jedoch ist es sicher zu kurz gedacht, Faktoren wie beispielsweise die Abschottung der Zünfte allein für die Wahl der Prostitution verantwortlich zu machen. Ebenso war es sicher nicht immer nur „wirtschaftliche Not“ (S. 331), die die Frauen in das Milieu trieb. Auch wenn Hemmie unter Bezug auf die Forschung diese als Haupteinstiegsgrund in die Prostitution sieht (S. 99), sollte abweichend davon über andere Einstiegsgründe (z.B. Ausbruch aus anderen Abhängigkeitsverhältnissen, [überzogene] Erwartung guter Verdienstmöglichkeiten) nachgedacht werden. Die von Hemmie an verschiedenen Stellen betonten geringen Einkommen der Prostituierten kann man durchaus mit ihren eigenen Quellen infrage stellen. Sowohl die Abgaben der „schoen angesichte“ als auch der „Mauerhuren“ brachten der Stadt Lübeck Anfang des 16. Jahrhundert durchaus hohe (zuvor erarbeitete) Summen ein, ebenso in Bergen, wie Hemmie etwas verwundert feststellt (S. 160).

Bleibt die Autorin bis zum siebten Kapitel mit ihren Fragen immer relativ nah an ihren Quellen, ändert sich dies in den folgenden Kapiteln. Nun gleicht sie das Schweigen der Quellen im Norden zu Teilaspekten der Prostitution durch Forschungen aus dem südwesteuropäischen Raum aus, was auf Dauer bei allem Wohlwollen zu etwas ermüdenden Aneinanderreihungen von Beispielen aus der Forschungsliteratur führt. Diese immer länger werdenden kompakten kleinen ‚Kulturgeschichten’ (z.B. zur „Topographie der Unehrlichkeit“, S. 132-134, zu „Pro und Kontra der Badehausprostitution“, S. 144-149, oder zur „Gesundheitliche[n] Fürsorge und Kontrolle“, S. 192-207) kommen teils völlig ohne Bezug zum Norden aus. Hier werden einfach nur Themen abgearbeitet. Umso blasser stehen vor diesen bunten Beispielen dann manchmal fast lieblos die ans Ende einiger Kapitel gestellten Fälle aus den untersuchten Städten da. Weniger wäre hier in jedem Fall mehr gewesen, und die durchaus gut gewählten Quellen aus den einzelnen Städten hätten stattdessen eine tiefere Würdigung unter nur gelegentlicher Heranziehung von Vergleichsbeispielen aus dem Süden verdient. Hemmies insgesamt überzeugende These, dass die Prostituierten im Norden eher „deviant insiders“ als verfemte Außenseiterinnen waren (S. 334), ließe sich dann anhand des vorhandenen Quellenmaterials noch stärker zuspitzen.

Lobend an der Arbeit hervorzuheben ist, dass die norwegischen und dänischen Quellen meist im Text oder den Fußnoten in Übersetzung präsentiert und damit eine Menge neuer Quellen erschlossen werden. Zudem ist Dagmar Hemmie das Verdienst zuzuschreiben, dass sie trotz der dünnen Quellenlage den ersten Schritt zur Untersuchung der Prostitution im Norden Europas geleistet hat. Das Ausmaß von deren Alterität im Vergleich zum Süden (städtische Frauenhäuser im Süden versus eher selbständiges Arbeiten im Norden) deutlicher herauszuarbeiten, stellt allerdings eine Herausforderung an zukünftige Forschungen dar.