D. Kahn: Die Steuerung der Wirtschaft durch Recht

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Titel
Die Steuerung der Wirtschaft durch Recht im nationalsozialistischen Deutschland. Das Beispiel der Reichsgruppe Industrie


Autor(en)
Kahn, Daniela
Erschienen
Frankfurt/Main 2006: Vittorio Klostermann
Anzahl Seiten
556 S.
Preis
€ 79,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Benjamin Obermüller, Bonn

In den letzten zehn Jahren haben zahlreiche Veröffentlichungen zur Wirtschaftsgeschichte des Nationalsozialismus unser Verständnis von den ökonomischen Zusammenhängen und Entwicklungen im Dritten Reich erweitert. Allen voran der Mannheimer Wirtschaftshistoriker Christoph Buchheim hat mit seinen Forschungen hierzu beigetragen. Die älteren Definitionen der NS-Wirtschaft als „Befehlswirtschaft“ oder „Zwangswirtschaft“ ließen sich demnach nicht mehr aufrechterhalten. Seitdem hat es sich in der Forschung durchgesetzt, von einer „gelenkten Marktwirtschaft“ zu sprechen.

In ihrer Dissertation hat sich Daniela Kahn nun den größten Verband der gewerblichen Wirtschaft, die Reichsgruppe Industrie, ausgesucht, um an seinem Beispiel die Steuerung der Organisation der Reichsgruppe und der Wirtschaft insgesamt durch das Recht im Nationalsozialismus zu untersuchen. Dabei beschränkt sich die Autorin auf die rüstungswirtschaftlich relevanten Industriesektoren Chemie, Stahl und Eisen. Anders wäre dieser Untersuchungsgegenstand im Rahmen einer Dissertation wohl auch nicht zu meistern gewesen.

Auf Anordnung des Reichswirtschaftsministers entstand im Januar 1935 die Reichsgruppe Industrie. Sie gliederte sich in sieben Hauptgruppen, 31 Wirtschaftsgruppen sowie mehrere duzend Fachuntergruppen. Bevor jedoch das eigentliche Thema in den Vordergrund rückt, wird dem Leser des Werks schon einiges zugemutet. Die ersten drei Kapitel (120 Seiten) behandeln neben definitorischen Abgrenzungen des Wirtschaftsverfassungsrechts im politisch-soziologischen und rechtswissenschaftlichen Sinne Hinweise auf die Entwicklung des Verbandswesens in Deutschland bis zur Machübernahme Hitlers sowie ein Sammelsurium von wirtschaftstheoretischen Überlegungen der NS-Zeit (Othmar Spann, Carl Schmitt, Ernst Forsthoff u.a.). Die Kernthematik wird anschließend an Hand der gängigen wirtschaftshistorischen Zäsuren (1933, 1936, 1939, 1942) abgearbeitet. Sehr minutiös rekonstruiert Kahn das Zustandekommen der einzelnen Gesetze, die für das deutsche Wirtschaftsleben in dieser Zeit von Bedeutung waren, etwa das Kartellgesetz, das Arbeitsordnungsgesetz, die Devisengesetze etc. Dass die rechtlichen Veränderungen der Jahre 1933-1936 Auswirkungen auf das industrielle Verbandswesen hatten, ist als Zwischenfazit nach mehr als 250 Seiten Text doch sehr mager. Einzig das Kapitel über die Beziehung des Reichsverbandes zu den Kammern der Wirtschaft hebt sich ein wenig hervor. Hier gelingt es der Autorin, auch sprachlich ein wenig an Boden gut zu machen.

Die folgenden Kapitel behandeln die Kriegswirtschaft und das „System Speer“. Neben der Schilderung der Speerschen Amtsführung und dessen ökonomischer Überlegungen analysiert Daniela Kahn hier auch den Stil und die Methode der Wirtschaftsgesetzgebung. Charakteristisch waren dabei zahlreiche neue Definitionen sowie die Verhinderung von Einspruchs- und Klagemöglichkeiten gegen die erlassenen Gesetze. Zudem trat mit zunehmender Kriegsdauer der Erlass zunehmend an die Stelle des Gesetzes. Man spricht in diesem Zusammenhang von einem „Formverlust“ der wirtschaftsrechtlichen Gesetzgebung.

Zusammenfassend stellt die Autorin heraus, dass in der Spätzeit des Nationalsozialismus kaum mehr von „Recht“ gesprochen werden kann, da Wirtschafts- und Rechtsgrundsätze allgemein missachtet wurden. Auffallend ist gerade in den letzten Kapiteln, dass das eigentliche Fallbeispiel der Reichsgruppe Industrie hier viel zu stark in den Hintergrund tritt.

Freilich wird das Dilemma des gesamten Projektes schon die ersten Kapitel offenbart. Denn es ist nachgerade ein Ärgernis, dass hier die NS-Wirtschaft immer noch als „Zwangswirtschaft“ bezeichnet und diese Annahme zur Grundlage der gesamten Arbeit gemacht wird. Die Autorin stützt sich bei diesem Befund nahezu ausschließlich auf zeitgenössische Literatur, und es hat für den Rezensenten den Anschein, als ob Daniela Kahn die Forschung der letzten 25 Jahre nicht nur übergeht, sondern wohl auch nicht kennt. Dass dann von einer „Totalregelung auf einem bestimmten Gebiet“ (S. 20) und umfassenden „Eingriffen“ in die Wirtschaft die Rede ist, verwundet nicht mehr.

Das neunseitige, durch arabische und römische Zahlen sowie Buchstaben gegliederte und dadurch stark verwirrende Inhaltsverzeichnis weist insgesamt zehn Kapitel aus, die in mehr als 180 Unterpunkte gegliedert sind! Bei einem Text von 500 Seiten macht das circa 3,5 Seiten pro Gliederungspunkt. Hier verliert der Leser völlig den Überblick und es entsteht der Eindruck, als ob es sich eher um ein Lexikon oder Handbuch handelt, als um eine Qualifikationsarbeit mit klarer Fragestellung und erkennbar rotem Faden. Die Kurzbiographien am Ende der Arbeit sind zwar immerhin sinnvoll, sie ändern aber nichts am Gesamturteil: Es ist der Autorin leider nicht gelungen, eine wirtschaftshistorisch brauchbare Untersuchung vorzulegen. Zu selten, etwa bei der Darlegung von Stil und Methode der Wirtschaftsgesetzgebung, kann die Autorin wirklich überzeugen. Auch wenn ihr Ansatz ein rechtshistorischer ist, so kann man an den Ergebnissen der wirtschaftshistorischen Forschung nicht einfach vorbeigehen. Dass die wichtigen Werke von Werner Abelshauser, Christoph Buchheim, Albrecht Ritschl und Jonas Scherner fehlen, darf nicht passieren. So fallen die Ergebnisse der Untersuchung hinter den Forschungsstand von 1970 zurück und dürfen, zumindest für Wirtschaftshistoriker, seit langem als bekannt gelten.

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