Titel
Plausible Vielfalt. Wie der Karneval der Kulturen denkt, lernt und Kultur macht


Herausgeber
Knecht, Michi; Soysal, Levent
Erschienen
Berlin 2007: Panama
Anzahl Seiten
284 S.
Preis
€ 16,90
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Matthias Warstat, Institut für Theaterwissenschaft, Freie Universität Berlin Email:

Der Berliner „Karneval der Kulturen“ – längst eine unverzichtbare und fest etablierte Institution im Veranstaltungskalender der Stadt – zählt zu einem Typus von kulturellen Ausdrucksformen, der die Kultur- und Sozialwissenschaften in den letzten Jahren in besonderem Maße fasziniert und beschäftigt hat. Zweifellos handelt es sich bei dem seit 1995 alljährlich am Pfingstwochenende in Kreuzberg stattfindenden Umzug mit Straßenfest und abendlichen Clubevents um eine so genannte cultural performance, das heißt um ein theatrales Ereignis, mit dem die kulturellen Werte einer (oder mehrerer) Gruppe(n) in spezifischer Weise inszeniert und ausagiert werden. Der Berliner Sommerkarneval steht für multikulturelle Vielfalt und postmoderne Leichtigkeit, er ist ein Aushängeschild der alternativen Milieus der Stadt und weist zugleich auf eine selbstbewusste urbane Präsenz von Migrant/inn/en hin, die das Fest als öffentliches Forum nutzen, um eigene kulturelle Traditionen und Identifikationen auszustellen. Aber wie soll man solche kulturellen Aufführungen, die als Spiegel bestimmter Ausschnitte der Gesellschaft nicht nur höchst aussagekräftig sind, sondern dabei auch flüchtig, vielschichtig und unübersichtlich, angemessen analysieren? Ein im Berliner Panama Verlag erschienener Sammelband, herausgegeben von Michi Knecht und Levent Soysal, hat dazu unter dem etwas schwerfälligen Titel „Plausible Vielfalt“ wichtige und bedenkenswerte Vorschläge unterbreitet.

Mindestens drei Perspektiven stehen zur Auswahl: Zum einen kann man cultural performances aus eigener Anschauung wie eine Aufführung analysieren. Zum anderen lässt sich eine Art audience research betreiben und demgemäß versuchen, die Erfahrungen der Zuschauer/innen bzw. des Publikums (etwa durch Befragungen) zu ermitteln. Eine dritte Möglichkeit besteht darin, die Intentionen und das Handeln der Akteure in den Mittelpunkt zu stellen. Die Autor/inn/en des am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin entstandenen Sammelbandes haben sich für diese dritte Herangehensweise entschieden. Eindrucksvoll belegen die Beiträge, welche Erkenntnischancen in einer auf die Akteure, deren Handlungsspielräume und Selbstdeutungen konzentrierten Perspektive liegen.

Kernfrage ist es, wie der „Karneval der Kulturen“ als Institution „denkt, lenkt und Kultur schafft“ – so auch der Untertitel des Bandes. Dabei wird die Veranstaltung keineswegs zum homogenen Kollektivsubjekt stilisiert; vielmehr gelingt es den Autor/inn/en, in der Hinwendung zu einzelnen Akteuren die ganze Komplexität gegenläufiger Motivationen und Praktiken rund um den Karneval herauszuarbeiten. Theoretische Bezüge und übergreifende Kernthesen werden vor allem in zwei Essays der Herausgeber Michi Knecht und Levent Soysal exponiert, die den Rahmen für die fünfzehn aus einem studentischen Studienprojekt hervorgegangenen Einzeluntersuchungen bilden. Drei gut begründete Positionen ziehen sich als roter Faden durch den Band:

1. Die gängigen sozial- und kulturwissenschaftlichen Begriffe zur Klassifizierung von cultural performances reichen nicht hin, um dem neuartigen Phänomen des „Karnevals der Kulturen“ befriedigend auf den Grund zu gehen. Die Veranstaltung ist nicht wirklich karnevalesk im Bachtinschen Sinne, denn von einer Umkehrung kultureller, moralischer oder sozialer Ordnungen kann nicht ernsthaft die Rede sein. Übertrieben wäre es auch, den Teilnehmern eine liminale Erfahrung nach Maßgabe des Turnerschen „betwixt and between“ zuzuschreiben. Soysal empfiehlt stattdessen den vergleichsweise unverfänglichen Begriff des Spektakels, räumt aber ein, dass dieser dringend einer genaueren Bestimmung bedarf: „Wir benötigen [...] eine neue Typologie des Spektakels in der Gegenwart, weil die bestehende Terminologie (Festival, Karneval, Feier) nicht länger dazu taugt, verschiedene Ausprägungen des Spektakels zu unterscheiden.“ (S. 274)

2. Der „Karneval der Kulturen“ ist Ausdruck eines „multikulturellen Denkstils“ (Michi Knecht), verweist jedoch zugleich auf die Aporien, die mit dem Konzept des Multikulturalismus verbunden sind. Denn während multikulturelle Darstellungsformen auf der einen Seite emphatisch für ein kulturelles Miteinander eintreten, befestigen sie auf der anderen Seite kulturelle Differenzen und bedienen dabei illusorische Authentizitätsideale. Man erfreut sich an scheinbar indigenen, faszinierend fremden und erfrischend anderen Lebensformen, ohne sich bewusst zu halten, dass diese in einer globalisierten Welt oft mit erheblichem Aufwand herbeiinszeniert werden müssen. Besonders klar werden die Folgen von Martina Klausner auf den Punkt gebracht: „Wenn ‚der Andere / das Andere‘ primär als Projektionsfläche für eigene Wünsche nach Natürlichkeit, Körperlichkeit, Ursprünglichkeit dient, dann ist die Möglichkeit eines Dialogs von vornherein problematisch und in Frage gestellt.“ (S. 188) Alle Autorinnen und Autoren des Bandes teilen überdies eine verständliche Skepsis gegenüber dem merkwürdigen Konsens der Begeisterung, auf den der „Karneval der Kulturen“ über Partei- und Milieugrenzen hinweg in einer mit Sicherheit nicht durchweg einwanderungsfreundlichen Gesellschaft stößt.

3. Die Geschichte des Berliner Sommerkarnevals wird in „Plausible Vielfalt“ als Prozess der Institutionalisierung, Professionalisierung und (in Grenzen) auch Kommerzialisierung beschrieben – mit allen Licht- und Schattenseiten, die solche typischen Transformationen alternativer Projekte mit sich bringen. Nach und nach haben sich feste Machtstrukturen und Spielregeln etabliert, die längst nicht allen Interessenten einen spontanen und selbst bestimmten Zugang ermöglichen. Kulturbehörden, Tourismusagenturen und private Sponsoren haben das positive Image des „Karnevals der Kulturen“ für sich entdeckt und agieren als mehr oder minder einflussreiche „Paten“ der Veranstaltung im Hintergrund. Als erfolgsverwöhntes Event ist das multikulturelle Volksfest inzwischen eine Ressource, um deren Urheberrecht und Inszenierungshoheit unterschiedliche Akteure konkurrieren. Auch hat sich ein vergleichsweise fest umrissenes Milieu von Aktiven herausgebildet, die Jahr für Jahr an der Gestaltung von Umzug und Straßenfest mitwirken und den Karneval daher für sich als Arbeitsplatz definieren.

Die besondere Stärke des Buches liegt darin, dieses Milieu durch Interviews und teilnehmende Beobachtung erstmals in seinen komplexen Schattierungen transparent zu machen. Wir begegnen etwa der Volkstanzgruppe eines kurdischen Kulturvereins, für deren Mitglieder die traditionelle Folklore kaum mit ihrem alltäglichen Lebensstil vereinbar ist, die aber gleichwohl „von den Adidas in die Ledersandalen“ (S. 198) wechseln, um auf dem Karneval die kulturelle Eigenständigkeit Kurdistans zu demonstrieren. Wir lernen den Trommellehrer Rale Dominique kennen, der eigentlich Ralf Dominick heißt und dessen fast ausschließlich aus Deutschen konstituierte Gruppe „La Foret Sacrée“ auf dem Karneval der Kulturen Trommelmusik aus Guinea präsentiert. Um beim Publikum glaubwürdig zu wirken, bemühen sich die Musiker für öffentliche Auftritte eigens um die Mitwirkung afrikanischer Trommler und Tänzer: „Wenn wir als rein weiße Gruppe auftreten, ist es für viele nicht mehr glaubhaft. Dann sind wir eine rein weiße Gruppe, die halt afrikanisch trommelt. Das hat einen anderen Geist. Weil’s nicht authentisch ist. Wenn jetzt auch schwarze Menschen mitspielen und tanzen [...] hat das beim Publikum einen anderen Anerkennungswert.“ (S. 188) Wir verfolgen die Karnevalsvorbereitungen von bildenden Künstlern aus Afrika, Asien und Südamerika, die sich von der Veranstaltung Zugang zum öffentlichen Raum und Medienpräsenz versprechen und dafür auch bereit sind, bei der Gestaltung von Masken, Kostümen und Schauwagen von ihren eigentlichen künstlerischen Vorlieben Abstriche zu machen. Dem Karneval, das wird dem Leser der durchweg sorgfältig recherchierten Beiträge klar, geht ein komplizierter Aushandlungsprozess um die „Ressource Aufmerksamkeit“ (Coleen Clement) voraus, bei dem alle Beteiligten abwägen müssen, auf welche Kompromisse „zwischen lokalen Bezügen, eigenen ästhetischen Ausdrucksformen, politischen Anliegen und dem jeweiligen künstlerischen Mainstream in den westlichen Metropolen“ (S. 89) sie sich einlassen möchten.

Von den flüchtigen Teilnehmern der dreitägigen Veranstaltung, die nicht in die Vorbereitungsphase involviert sind, bleibt das skizzierte Milieu allem Anschein nach relativ getrennt. Besonders deutlich wird diese Kluft beim sonntäglichen Umzug, der – zumindest für die eigentlichen Akteure – aufgrund seiner minutiösen Verregelung keine wirklich rauschhaften oder transgressiven Wirkungen entfalten kann: „Im konkreten Berliner Sommerkarneval hat das Karnevaleske wenig Platz. Das Publikum verkleidet sich nicht, es gibt wenig Möglichkeiten zur Partizipation, am Ziel des Umzugs […] endet der Karneval für die Aktiven abrupt wie ein Kälteschock. Nirgendwo kann dann mehr weitergefeiert werden, im Gegenteil: Wer mit einem Wagen auf der Strecke unterwegs war, muss nun in Windeseile Aufbauten abräumen, Müll beiseitigen und die Wagen sicher zurückfahren. Die ganze Aufführung ist stärker auf Präsentation denn auf gemeinsames Feiern hin orientiert.“ (S. 22f.) Die Zuschauer des Umzugs schauen von außen auf Präsentationen von Identität, die sie als exotisch genießen, denen sie sich aber nicht zugehörig fühlen dürfen. Die Performergruppen bieten durch Kostümierung und Tanzstil zwar profilierte Eindrücke von Identität, diese sind allerdings, gemessen an den transnationalen Lebenswelten von Migrant/inn/en mit ihren idiosynkratischen kulturellen Transfers und komplexen Hybridformen, bis zur Unkenntlichkeit vereinfacht.

Es ist ein großes Verdienst des Bandes, dem Leser die Perspektiven der Akteure des „Karnevals der Kulturen“ nahe zu bringen, die ihm als Besucher des Festes selbst bemerkenswert wenig zugänglich sind. Lesend ist man immer wieder überrascht, wie wenig man den „Karneval der Kulturen“ selbst als regelmäßiger Zuschauer zu verstehen und zu durchschauen in der Lage war. Es handelt sich – so muss man es wohl zuspitzen – um eine Veranstaltung, die weite Teile ihrer Motivationen, Machtstrukturen, Spielregeln und Sehnsüchte vor den Besuchern verbirgt. Deutlich werden an dem Sammelband allerdings auch die Kosten, die mit einer klaren Präferenz für die Akteursperspektive verbunden sind. Ein wenig vermisst man eine detaillierte Beschreibung des Gesamtereignisses, aus der man die genauen zeitlichen Verläufe, das örtliche Setting und den Zusammenhang der einzelnen Handlungsstränge entnehmen könnte. Diese Aspekte des Ereignisses wären bei einem aufführungsanalytischen Zugang vermutlich deutlicher hervorgetreten. Der weitgehende Verzicht auf eine Befragung „einfacher“ Teilnehmer/innen, die sich nicht als Akteure über mehrere Wochen auf das Ereignis vorbereitet haben, verstellt auch den Blick auf wichtige Komponenten der Erfahrungsdimension: Was erleben und empfinden eigentlich die vielen tausend Besucher/innen, die nur für einige Stunden auf dem „Karneval der Kulturen“ vorbeischauen? Haben ihre rezeptiven Praktiken irgendetwas mit den Intentionen der Macher zu tun oder handelt es sich um ganz eigenständige Nutzungen des Ereignisses, die keine Rücksicht darauf nehmen, wie der „Karneval der Kulturen“ als Institution „denkt, lenkt und Kultur schafft“?

Wer „Plausible Vielfalt“ gelesen hat, sieht den „Karneval der Kulturen“ – das konnte der Rezensent in diesem Jahr an sich selbst feststellen – mit anderen Augen. Indem das Autor/inn/enteam die karnevalesken Suggestionen von Authentizität und Spontanität gründlich dekonstruiert, werden ganz andere Zeit- und Diskursebenen erahnbar: Das Wissen um Vor- und Nachbereitungsphase, Verteilungskämpfe und Aufmerksamkeitsökonomien, Verhandlungen und Ausschlussmechanismen sorgt dafür, dass man auf dem Fest nichts mehr als selbstverständlich wahrnimmt. Dem Spaß am „Karneval der Kulturen“ tut das übrigens keinen Abbruch. Ein wenig verwundert deshalb die betont pessimistische Wendung, für die sich die meisten Autor/inn/en des Sammelbandes im Resümee ihrer jeweiligen Argumentation entscheiden: Sie bemängeln, dass Input und Output, Kosten und Nutzen, aus Sicht der Akteure nicht im Gleichgewicht seien. So investierten viele Sommerkarnevalisten ein beträchtliches Maß an Freizeit, Kreativität und Geld in die Vorbereitung von Wagen, Kostümen und Darbietungen, ohne dass sich ihre Leistung im herkömmlichen Sinne amortisieren würde. Sicher: Man kann dieses Engagement als Selbstausbeutung apostrophieren – zumal es hier um Akteure geht, die von derselben Gesellschaft, die sich einmal im Jahr an multikulturellen Performances erfreut, im Alltag nicht besonders gut behandelt werden. Man kann in der Vorbereitungsintensität aber auch schlicht eine Spielart jener Verausgabung erkennen, ohne die kein gelungenes Fest auskommt. Ganz gleich ob Rosenmontagszug, Gemeindefest oder Schützenparade – allerorten werden in öffentliche Feste freiwillig Ressourcen gepumpt, die sich am Ende nicht auf Heller und Pfennig auszahlen. Würde diese Besonderheit einer Ökonomie des Festlichen – das Vergnügen am eigenen Engagement und an der lustvollen Verausgabung – in dem Band stärker berücksichtigt, so entstünde wohl ein noch vollständigeres Bild des nach wie vor beeindruckend erfolgreichen „Karnevals der Kulturen“: Es soll in dessen Rahmen nicht allein Vielfalt plausibilisiert, sondern auch Differenz genossen werden. Differenzen zu genießen ist aber ein Vergnügen, das ohne Verausgabung und Selbstillusionierung allem Anschein nach nicht zu haben ist.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Kooperation
Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension