J. Mittag u.a. (Hrsg.): Das Spiel mit dem Fußball

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Titel
Das Spiel mit dem Fußball. Interessen, Projektionen und Vereinnahmungen


Herausgeber
Mittag, Jürgen; Nieland, Jörg-Uwe
Erschienen
Anzahl Seiten
592 S.
Preis
€ 27,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Uta Andrea Balbier, Deutsches Historisches Institut, Washington D.C.

“Was zählt is auf’m Platz!” Dies ist eine der viel zitierten Fußballer-Weisheiten, von denen der Leser oder die Leserin sich nach der Lektüre des umfassenden Sammelbandes von Jürgen Mittag und Jörg-Uwe Nieland getrost verabschieden kann. Die 33 Aufsätze des Bandes zeigen den Fußball vielmehr in seinen komplexen Verflechtungen mit Politik, Wirtschaft, Kultur und den Medien. Die von den Herausgebern vorgegebene Fragestellung zielt auf die unterschiedlichen Formen der Instrumentalisierung des Fußballs. Der Fußball wird zudem als eine Projektionsfläche politischer, sozialer, kultureller und wirtschaftlicher Bedeutungen analysiert.

Das Kompendium bündelt eine in den letzten Jahren zunehmend bunte Forschung rund um das ehemals eindeutig schwarz-weiße Leder. Fünf Themenkomplexe strukturieren den Band: Zunächst wird der Fußball als Spiegelbild historischer Prozesse untersucht, anschließend nach seiner Instrumentalisierung durch die Politik gefragt, seine Inanspruchnahme durch Medien und seine Interaktion mit der Kultur durchleuchtet und schließlich seine Funktion als Wirtschaftsfaktor analysiert. Auffällig ist, dass sich nur drei Autorinnen in der ansonsten erfreulich heterogenen Liste der Beitragenden finden.

Dass die aktuelle Fußballforschung fernab von einer Ergebnis- oder Vereinsgeschichte liegt, unterstreicht der theoretische Anspruch vieler Beiträge. Der diskursgeschichtlich interessante Aufsatz von Rudolf Oswald weist die Verschränkung der sporttheoretischen und volksgemeinschaftlichen Diskurse in Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nach. Michael Groll baut seine Überlegungen zum Zusammenhang von Fußball, nationaler Identität und Politik überzeugend auf den Konzepten „Erinnerungsort“ und „kollektives Gedächtnis“ auf. Lothar Mikos analysiert Fankulturen im Wandel der Moderne im Anschluss an Benedict Andersons „Imagined Communities“. Holger Beßlich führt in seinem Beitrag die Kategorien Ästhetik, Performativität und Theatralität ein, um sich den Abläufen im Stadion aus kulturwissenschaftlicher Perspektive zu nähern. Grundlegend für den Band ist zudem der Artikel von Markus Stauff. Er hinterfragt den Begriff der Instrumentalisierung des Fußballs kritisch und weist darauf hin, dass Fußball nicht als isoliertes Phänomen, sondern nur als integraler Bestandteil gesellschaftlicher Problemstellungen zu begreifen ist.

Sehr lesenswert sind auch die Beiträge, in denen Fans wie Skeptikern Vertrautes neu oder anders erzählt wird. Stefan Goch seziert historisch präzise den Mythos vom Arbeiterfußball im Ruhrgebiet. Roman Horak löst die „Schmach von Cordoba“ aus dem eigentlichen Spielgeschehen heraus, indem er sie in eine langfristige zeithistorische Analyse des schwierigen Verhältnisses zwischen Österreich und Deutschland im Allgemeinen und in den internationalen Fußball im Besonderen einbettet. Georg Ismar erinnert in seinem Beitrag zur Instrumentalisierung des Fußballs in Südamerika daran, dass die Dribbelkünste von Pelé und Maradona neben ihrer ästhetischen auch eine teils dramatische politische Dimension hatten. Merten Haring leuchtet die unterschiedlichen staatlichen und gesellschaftlichen Interessen hinter dem boomenden Phänomen der Sportwetten aus.

Zudem ist dem Band anzurechnen, dass er auch die Nischen der Fußballforschung ausleuchtet – etwa, wenn Stefan Moitra die Bedeutung des Fußballs in den Filmen „Das Wunder von Bern“, „Bend it like Beckham“ und „Sixty Six“ analysiert. Christoph Jacke und Marcus S. Kleiner vergleichen in ihrem Beitrag die Fußballmagazine „Kicker“, „11Freunde“ und „Rund“ und zeigen, wie sich mit dem Fußball die Berichterstattung über Fußball modernisiert und popularisiert hat. Wichtige Perspektiven öffnet auch der Aufsatz von Oliver Lubrich zum Fußball in der deutschsprachigen und hispanoamerikanischen Literatur. Darin geht er weiterführend dem historisch spannungsreichen Verhältnis von Fußball und Intellektualität auf den Grund.

Es entsteht das Bild eines kulturellen Systems Fußball, das sich vom bürgerlichen Hobby um die Jahrhundertwende, über ein proletarisches Freizeitvergnügen zum internationalen Wirtschafts- und Kulturfaktor gemausert hat und dessen Fans parallel dazu ihr Gesicht verändert haben. Heute lesen junge Intellektuelle „11Freunde“ und finden es schick, „zu Pauli“ oder „auf Schalke“ zu gehen. Auf nachbarschaftlichen Bolzplätzen im Ruhrgebiet tragen die jungen Kicker heute Trikots von David Beckham und Zinedine Zidane. Was dem Band völlig fehlt, ist das nostalgische Bedauern darüber, dass der Fußball früher etwas ganz anderes gewesen sei. Vielmehr wird ebenso nüchtern wie eindrücklich die Veränderung eines Spiels und seines gesellschaftlichen und kulturellen Umfeldes in der Moderne nachgezeichnet.

Zwei Dinge bleiben dennoch kritisch anzumerken. Oftmals wird in dem Band erwähnt, dass es sich beim Fußball um ein globales Phänomen handelt. Gerecht wird diesem Aspekt der Aufsatz von Christiane Eisenberg, welche die FIFA als einen „global player“ charakterisiert. Mehrheitlich kommt jedoch das Gefühl auf, dass es sich eigentlich um eine Geschichte von Entwicklungsprozessen im deutschen Fußball handelt, die nur teilweise in globale oder auch nur europäische Zusammenhänge eingeordnet werden. Die durchweg informativen Beiträge zum Fußball in Asien, Südamerika, Afrika und den USA stehen zu stark für sich, als dass von einer globalen Einordnung der Phänomene die Rede sein könnte. Diese Forschungsperspektive sei daher für nachfolgende Publikationen nachdrücklich angeregt.

Eine weitere, auffällig klaffende Lücke ist der Frauenfußball. Der vorliegende Band erwähnt dieses Phänomen nur am Rande, abgesehen von Stefan Moitra, der den Frauenfußballfilm „Bend it like Beckham“ prominent bespricht. Eine solche Schwerpunktsetzung ist grundsätzlich legitim, bedarf aber zumindest der Erklärung. Man vermisst nicht so sehr einen eigenen Beitrag zum Frauenfußball, sondern vielmehr dessen selbstverständliche Integration in die Geschichte eines Spiels, an dem immer wieder beide Geschlechter partizipierten. Andreas von Seggern skizziert beispielsweise in seinem sehr anregenden Beitrag einer Kultur- und Sozialgeschichte des globalen Fußballs den Transfer des Fußballs von England nach Deutschland. Völlig unerwähnt bleibt jedoch, dass auch Frauen in diesen beiden Ländern bereits um die Jahrhundertwende anfingen, Fußball zu spielen. Auch in dem Aufsatz über die Europäisierung des Fußballs von Jürgen Mittag wünscht man sich zumindest einen Hinweis auf Frauenteams – etwa die englischen Dick Kerr Ladies, die ebenfalls schon zu Beginn der 1920er-Jahre europäische Wettkämpfe spielten. Die zunehmende Marginalisierung des Frauenfußballs in Deutschland, England und in anderen europäischen Ländern wurde auch durch Verbote einzelner europäischer männlich dominierter Fußballverbände gegenüber dem Frauenfußball beeinflusst. In diesen Punkten sind die Geschichte des Frauen- und des Männerfußballs untrennbar verflochten. Zwar ist der Frauenfußball in der öffentlichen Wahrnehmung und der wissenschaftlichen Forschung auch weiterhin dem Männerfußball nachgeordnet, doch es kann kein Zweifel daran bestehen, dass er integraler Bestandteil der Geschichte und Gegenwart des Fußballs ist. Sein Ausschluss aus einem solch umfassenden Kompendium kommt – um im Bild zu bleiben – einem tragisch verschossenen Elfmeter gleich.

Der vorliegende Band ist eine gelungene Fundgrube für Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die innerhalb ihres Genres auf der Suche nach Themen sind, die an den Fußball anschlussfähig sein könnten. Das Buch stellt zudem einen guten Reader für Seminare zum Phänomen Fußball dar, da er die interdisziplinäre Bearbeitung des Themas nachdrücklich anregt und Lust auf die intellektuelle Auseinandersetzung mit diesem Spiel macht. Denn nicht zuletzt lebt das Kompendium von der Begeisterung der Autoren und Autorinnen für ihren Gegenstand. Sie alle scheinen die – von den Herausgebern vorangestellte – Sichtweise Bill Shanklys zu teilen: „Manche Menschen glauben, Fußball sei eine Sache von Leben und Tod. Diese Haltung enttäuscht mich sehr. Ich kann Ihnen versichern: Fußball ist viel, viel mehr als das.“

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