P. Lieb: Konventioneller Krieg oder NS-Weltanschauungskrieg?

Cover
Titel
Konventioneller Krieg oder NS-Weltanschauungskrieg?. Kriegführung und Partisanenbekämpfung in Frankreich 1943/44


Autor(en)
Lieb, Peter
Reihe
Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 69
Erschienen
München 2007: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
631 S.
Preis
€ 49,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexander Brakel, Johannes-Gutenberg-Universität Mainz

Der deutsche Krieg im Westen gilt bis heute als historiographischer Nebenkriegsschauplatz des Zweiten Weltkriegs. Während Einzeluntersuchungen und Gesamtdarstellungen über das „Unternehmen Barbarossa“, die deutsche Besatzung in der Sowjetunion sowie den dort von Wehrmacht und SS geführten „Vernichtungskrieg“ inzwischen ganze Bibliotheken füllen, ist die Zahl der Studien zu Frankreich unter deutscher Okkupation immer noch überschaubar. Das ist nicht überraschend, immerhin war die überwiegende Mehrzahl der deutschen Truppen im Osten eingesetzt, knapp 70 Prozent ihrer Verluste erlitt die Wehrmacht an der Ostfront, wo überdies von 1941 bis zur bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reichs am 7. Mai 1945 ununterbrochen gekämpft wurde. In Frankreich dagegen herrschte seit der Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkommens im Juni 1940 bis zur alliierten Invasion vier Jahre später weitgehende Waffenruhe. Der bewaffnete Untergrund formierte sich langsamer als die sowjetischen Partisanen und konnte sich zu keinem Zeitpunkt mit jenem an Aktivität messen. Frühere Standardwerke attestieren den deutschen Besatzern in Frankreich zudem, weitgehend völkerrechtskonform gehandelt zu haben.1

Gegen diese Interpretation erhob vor einigen Jahren der Oldenburger Politikwissenschaftler Ahlrich Meyer scharfen Protest. In seiner Untersuchung zur deutschen Besatzung in Frankreich erkennt er vor allem quantitative, aber kaum qualitative Unterschiede zwischen der deutschen Okkupationspolitik in West und Ost. Sowohl in Frankreich als auch in der Sowjetunion hätten die deutschen Truppen ein brutales, völkerrechtswidriges und ideologisch motiviertes Regime geführt. Dabei habe es zwischen Wehrmacht und SS kaum Unterschiede gegeben.2 Diese beiden diametralen Interpretationen waren, wie allein schon der Titel erahnen lässt, offensichtlicher Ausgangspunkt für die in München entstandene Dissertation von Peter Lieb. Der Autor konzentriert seine Untersuchung auf das letzte Jahr der deutschen Besatzung, beginnend mit dem Sommer 1943, als die Resistance erstmals größere Aktivitäten entfaltete und zu einer relevanten militärischen Größe wurde. Die alliierte Landung in der Normandie und die anschließenden Rückzugsgefechte der Deutschen bilden den Abschlusspunkt der Studie, die mit der vollständigen Befreiung Frankreichs und einem Ausblick auf die Kämpfe der Westfront auf Reichsgebiet endet. Von der besonderen Sorgfalt der Arbeit zeugt schon die etwa fünfzigseitige Einleitung, in der Lieb den Gegenstand seiner Forschung in den Gesamtkontext der deutschen Besatzung in Frankreich vom Juni 1940 bis zum Beginn des eigentlichen Untersuchungszeitraums einbettet. Mit gleicher Gewissenhaftigkeit und hoher Akribie stellt Lieb danach den Besatzungsapparat vor, beschreibt das Wirrwarr der Kompetenzen sowie Ausbildungsstand, Ausrüstung und Generalität des Westheeres. Schon diese präzise Darstellung allein sichert dem vorliegenden Buch die bleibende wissenschaftliche Bedeutung eines zuverlässigen Nachschlagewerks.

Das eigentliche Kernstück der Arbeit gliedert sich in drei Teilstücke: Nach der Schilderung der Kämpfe an der Invasionsfront wendet sich Lieb dem Krieg gegen die Partisanen im Hinterland und schließlich dem deutschen Rückzug aus Frankreich zu. Ein ausführlicher statistischer Anhang rundet das Buch ab. Inhaltlich bewegt sich Lieb auf einem Mittelweg zwischen beiden oben genannten Interpretationen. An mehreren Stellen macht er klar, dass die deutsche Besatzung nicht völkerrechtskonform war. Allein schon die Deportation von ungefähr 75.000 Juden verdeutlicht dies. Aber auch im Rahmen der Partisanenbekämpfung und während der Auseinandersetzung mit regulären alliierten Truppen kam es zu Kriegsverbrechen. Deutsche Truppen erschossen Kriegsgefangene, brannten Häuser von Zivilisten nieder und verübten Massaker. Allerdings unterschied sich ihr Vorgehen deutlich von dem ihrer Kameraden an der Ostfront. Trotz aller Grausamkeiten blieben derartige Übergriffe die Ausnahme. Zwar wurden von Hitler und vom Oberkommando der Wehrmacht zahlreiche Befehle erlassen, die in ihrer Radikalität teilweise an die im Osten heranreichte. Anders als dort wirkten die Befehlshaber und Kommandeure vor Ort jedoch meist mäßigend. Bei der Bekämpfung der Partisanen wurde sogar das Rote Kreuz zugelassen, ein für den östlichen Kriegschauplatz undenkbarer Vorgang!

Überzeugend arbeitet Lieb auch heraus, dass es einen gewaltigen Unterschied zwischen den Verbänden der Wehrmacht und der SS hinsichtlich der Behandlung ihrer Gegner gab. Die meisten Massaker an französischen Zivilpersonen wurden von Einheiten der Waffen-SS begangen, für die Erschießung alliierter Kriegsgefangener zeichneten ebenfalls vornehmlich Angehörige dieser Organisation verantwortlich. Als besonders fatal erwies sich die Federführung, die der Sicherheitspolizei und dem SD bei der Bekämpfung der Partisanen zukam. Während die meisten Wehrmachtskommandeure sich auch während der Bekämpfung des bewaffneten Untergrunds von militärischen Überlegungen leiten ließen und deswegen meistens die Gebräuche des Kriegsvölkerrechts einhielten, kämpften die Truppen des Reichssicherheitshauptamtes einen ideologischen Kampf. Lieb macht jedoch auch deutlich, dass die Wehrmacht nur selten gegen diese Aufgabenteilung protestierte, ja im Gegenteil häufig allzu gerne die Verantwortung an Himmlers Männer abtrat. In anderen Fällen kooperierten Einheiten der Wehrmacht mit der Sicherheitspolizei. Als diese während des deutschen Rückzugs aus Frankreich begann, die politischen Häftlinge zu exekutieren, fand sie auch unter einigen Wehrmachtskommandeuren Unterstützer, gleiches galt für die Deportation französischer Juden nach Auschwitz. Und auch gegen die Gewaltexzesse einiger Einheiten gegen die Zivilbevölkerung schritt der jeweilige Oberbefehlshaber nur halbherzig ein.

Insgesamt aber, so Liebs Fazit, führte die Wehrmacht in Frankreich einen harten, aber konventionellen Krieg, der sich zwar häufig nicht am Völkerrecht, meistens aber am Gedanken der militärischen Zweckmäßigkeit orientierte und deshalb ideologische Vorgaben, die vom Führerhauptquartier wie auch vom OKW gemacht wurden, häufig abschwächte oder gar ignorierte. Anders als gegenüber der sowjetischen, polnischen oder auch serbischen Zivilbevölkerung fehlten offensichtlich gegenüber den Franzosen die weltanschaulichen Prädispositionen, die eine Übernahme der ideologischen Vorgaben begünstigt hätten. Zudem hatte die Wehrmacht es im Westen sowohl mit der französischen Armee als auch mit den alliierten Truppen und den einheimischen Partisanen zu tun, die sich ebenfalls einer ideologischen Kriegführung versagten. Zwar kam es auch dort zur Erschießung von Kriegsgefangenen oder zur Verstümmelung gefallener deutscher Soldaten. Es handelte sich dabei aber, ganz anders als an der Ostfront, um Ausnahmeerscheinungen. Auch einer gegenseitigen Radikalisierung der Kriegführung fehlte der Nährboden.

Mit seiner Dissertation leistet Lieb einen wertvollen Beitrag zur Geschichte der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg. Mit intimer Quellenkenntnis und hohem Verständnis für die militärischen Zusammenhänge verwirft er die mitunter unkritischen Bewertungen früherer Untersuchungen ebenso wie die Interpretation eines Weltanschauungskrieges im Westen. Die Lektüre bietet nicht nur einen präzisen Einblick in die Geschehnisse im Frankreich des Zweiten Weltkriegs. Sie schärft zudem das Bewusstsein für den fundamentalen Unterschied zwischen östlichem und westlichem Kriegschauplatz, ohne letzteren positiv zu verklären. Das Buch ist der zweite Band des am Institut für Zeitgeschichte angesiedelten Großprojekts zur Untersuchung der Wehrmacht im NS-Staat. Wie schon die erste Publikation zeugt auch die vorliegende von der hohen wissenschaftlichen Qualität des Projekts.3 Mit einer Rettung der Wehrmacht – wie etwa Hannes Heer, auch in Bezug auf Lieb, jüngst suggerierte – hat diese differenzierte Betrachtungsweise ganz sicher nichts zu tun.4

Anmerkungen:
1 Jäckel, Eberhard, Frankreich in Hitlers Europa. Die deutsche Frankreichpolitik im Zweiten Weltkrieg, Stuttgart 1966. Umbreit, Hans, Der Militärbefehlshaber in Frankreich 1940-1944, Boppard am Rhein 1968.
2 Meyer, Ahlrich, Die deutsche Besatzung in Frankreich 1940-1944. Widerstandsbekämpfung und Judenverfolgung, Darmstadt 2000. Ähnlich auch Delacor, Regina M., Weltanschauungskrieg im Westen. Zur Rolle der Wehrmacht bei Geiselexekutionen im besetzten Frankreich 1941/42, in: Militärgeschichtliche Zeitschrift, Bd. 62 (2003), S. 71-99.
3 Hürter, Johannes, Hitlers Heerführer. Die deutschen Oberbefehlshaber im Krieg gegen die Sowjetunion 1941/42, München 2006.
4 Heer, Hanns, Hitler war’s. Die Befreiung der Deutschen von ihrer Vergangenheit. Berlin 2005, S. 237-291, besonders S. 291.

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