L. Ehrlich u.a. (Hgg.): Weimarer Klassik in der Ära Honecker

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Titel
Weimarer Klassik in der Ära Honecker.


Herausgeber
Ehrlich, Lothar; May, Gunter; Cleve, Ingeborg
Erschienen
Köln u.a. 2001: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
315 S.
Preis
€ 30,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Simone Barck, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Mit der oft bestaunten und weitgehend als grotesk belächelten visionären Behauptung Walter Ulbrichts von 1962, dass „alle Werktätigen der DDR mit ihrer Arbeit, mit ihrem Kampf für Frieden und Sozialismus“ damit begonnen hätten, den dritten Teil des „Faust“ zu schreiben, ist das kulturpolitische Konzept benannt, mit dem das Konstrukt „deutsche Klassik“ in den gesellschaftlichen Haushalt und den kulturellen Alltag der DDR als national identitätsstiftende und humanistisch orientierende Koordinate integriert worden war. Die hiermit etablierte Vollstrecker-These, nach der die herrschende Arbeiterklasse und ihre Partei, die SED, „auf freiem Grund mit freiem Volke stehend“ die Ideale der Klassik einlöse, gehörte zum weit prägenden kulturpolitischen Grundverständnis in der DDR.

Und das eigentlich bis zu ihrem Ende, womit die erste wichtige Frage an den vorliegenden Band aufgeworfen wäre, dessen Vorläufer-Publikation den Umgang mit der Klassik in der Ulbricht-Zeit (Böhlau 2000) erstmals breit auf der Grundlage von Archivmaterialien thematisiert hatte. Die Frage für die 20 Jahre nach Ulbricht lautet, welche Kontinuitäten und welche Veränderungen es auf diesem Feld festzustellen gibt.

Die zentrale These des vorliegenden Bandes, verantwortet von einem bewährten ostwestlichen Wissenschaftler-Team (dem Weimarer Literaturhistoriker Lothar Ehrlich, dem Erfurter Historiker Gunther Mai und der saarländischen Historikerin Ingeborg Cleve), lautet, dass in den 70er und 80er Jahren (ein Zeitraum, für den mit „Ära Honecker“ wohl mehr ein Hilfsbegriff, denn ein analytisch verwendbarer Begriff verwendet wird) in dem Maße, wie „die Bedeutung der Klassik als Grundlegung einer sozialistischen Kulturgesellschaft wie als Instrument politischer Legitimation für untauglich erkannt wurde, [...] auch das Interesse der Partei am klassischen Erbe“ (7) abnahm. Damit ist das für die Analyse der DDR-Gesellschaft generelle Problem aufgeworfen, ob es die von oben, von der SED-Führung verordneten und inszenierten Kampagnen und Konzepte waren, die sich veränderten oder/und ob es die veränderten Basis-Verhältnisse und ihre Akteure waren, die Kontinuitäten abschwächten und Brüche, Wandlungen sowie Neuerungen hervorbrachten?

Explizit gegen eine homogenisierende Betrachtungsweise und eine vordergründig politisch-ideologische Instrumentalisierungsgeschichte gewendet, erprobt der Band einen „Zugang zur DDR-Kulturgeschichte, [...] der eine - in den einzelnen gesellschaftlichen Sphären freilich mehr oder weniger deutlich ausgeprägte - Vielfalt der auf den klassischen Literaturkanon bezogenen Kommunikationsvorgänge zu erkennen gibt“ (22). Damit wird aus interdisziplinärer Perspektive die immer noch weit verbreitete Vorstellung zu relativieren versucht, „die Kultur in der DDR könnte allein auf die jeweils deklarierten Visionen der SED reduziert werden, die zwar mit den Herrschaftsmitteln einer Diktatur durchgesetzt werden sollten, aus subjektiven und objektiven Gründen jedoch nicht oder nur streckenweise durchgesetzt werden konnten.“ (ebd.) Geboten wird deshalb nicht die eine Geschichte der „Weimarer Klassik in der Ära Honecker“, sondern es werden „mehrere Geschichten“, erzählt, die verschiedene Verläufe nahmen.

Da ist zum einen die Geschichte einer weiterhin starken politischen Instrumentalisierung, die Gunther Mai mit den Kampfkonzepten Nation und Nationalkultur in ihren verschiedenen Etappen rekonstruiert. Dabei erschiene der Rezensentin neben der Analyse des Zwei-Nationen-Konzepts eine stärkere Akzentuierung der langjährigen Auseinandersetzung mit der sozialdemokratischen These von der Kultur-Nation wünschenswert. Denn Mais interessantes Fazit, dass sich „das kulturelle (gesamtdeutsche) Gedächtnis [...] als wirkungsmächtiger“ erwiesen habe, „als der Versuch , ein kollektives (teilstaatliches) Gedächtnis zu konstruieren“ (73/74), verweist ebenso wie die Fixierung einer post mortem DDR- bzw. Ost-Identität in seinen Wurzeln auf mentale Befindlichkeiten einer vor allem durch Sprache und Geschichte bestimmten Kultur-Nation.

Mit Ost-Identität kommt vor allem Soziales ins Spiel, dessen Zusammenhänge zum Nationalen weiterer Untersuchung bedürfen. Das macht auch Dietrich Mühlbergs pro domo sprechender Beitrag (Ostdeutsche Kulturwissenschaft und Weimarer Klassik) deutlich, der seine Skepsis gegenüber den zentralen These des Bandes (s.v.) nicht verhehlen möchte: „Ob es aber stimmt, dass (die Weimarer Klassik) für die Grundlegung einer sozialistischen Kulturgesellschaft nicht mehr brauchbar gewesen sei und ‘die Partei’ darum ihr Interesse an Weimar verloren habe, müsste erst noch genauer untersucht werden.“ (95) So zeigt er starke Kontinuitäten im Veredelungs- und Hebungs-Konzept der SED-Führung mittels Klassik und belegt zugleich deren „nachhaltige Unfähigkeit, eine Kulturpolitik im Interesse einer Mehrheit arbeitender Menschen zu machen“ (105). Mühlberg kann eine „konsequente Neuorientierung“ auf eine „eigene milieugestützte Kultur der Arbeiter“ (96) nicht erkennen. Bitterfeld (hier aufgefasst als massenkulturelle Bewegung) und Weimar bleiben eng beieinander, auch wenn der „Bitterfelder Weg“ nicht mehr so genannt wurde.

Auf den ersten Blick scheint Lothar Ehrlichs präzise Analyse der „Klassik-Debatte in ‘Sinn und Form’ 1973/74“ die zentrale These (s.v.) zu bestätigen. Diese Debatte wird von ihm zu Recht hinsichtlich ihrer wissenschaftlichen Substanz und ihrer öffentlichen Ausstrahlung als weitgehend einmalig gewertet: als „wichtigster Beitrag zur kritischen Auseinandersetzung um das nationale kulturelle Gedächtnis und seine gesellschaftlich mobilisierende Aufgabe Anfang der 70er Jahre in der DDR“ (113). Als deren wichtigstes Ergebnis benennt er zutreffend die „Einschränkung der Spitzenstellung der Weimarer Klassik innerhalb des literarischen Kanons“ (121). Jedoch zeigt gerade der breite Teilnehmerkreis von Wissenschaftlern, Kulturfunktionären, Künstlern, sog. „einfachen“ Lesern und Zuschauern einen an der kulturellen Basis stattgefundenen Paradigmenwechsel an, dem die Kulturpolitik nur noch hinterher zu laufen hatte.

So war es auch alles andere als ein Zufall, dass der die Debatte polarisierende Text Ulrich Plensdorfs, „Die Leiden des jungen W.“, in seinem kritisch-spielerischem Umgang mit den klassischen Mustern von vielen Rezipienten als authentischer Ausdruck der Gedanken und Gefühle der DDR-Arbeiter-Jugend geschätzt wurde. Hinter dem Rücken der weiterhin mächtigen Vollstrecker-Strategen und ihrem konservativen Kampf gegen die Moderne hatte sich längst ein historisch-kritischer Umgang mit der Klassik unter den Autoren, Künstlern und einem Teil von Wissenschaftlern herausgebildet, der als kräftiger teil-autonomer Prozess von der Kulturpolitik nicht mehr aufzuhalten, ja 1972 nur noch mit der Formel von Weite und Vielfalt auch offiziell festzuschreiben war.

Für die Erweiterung und Veränderung des Kanons werden im Band viele prominente und auch weniger bekannte Beispiele beleuchtet: bei Bernd Leistner für die DDR-Prosa und Essayistik mit den Entdeckungen der deutschen Romantik und einem zunehmend sperrigem Klassik-Bild, bei Dieter Wiedemann und Gunter Schandera mit den zahlreichen Literaturverfilmungen der DEFA und des Fernsehens. Petra Studer und Harald Gerlach zeigen die besondere Relevanz und Aussagekraft des Umgangs mit der Klassik für das Theater der DDR, das aufgrund seiner spezifischen und ambivalenten Rezeptionsweisen auch immer etwas über den Grad von Öffentlichkeit und Zensur aussagte. Studer erzählt überzeugend die „Geschichte des Abfalls vom alten Klassik-Bild“ (137), die sich ab Mitte der 70er Jahre als ein „Jahrzehnt heftiger Turbulenzen im Klassik-Verständnis auf den DDR-Bühnen“ (146) fassen lässt. Dabei hebt sie zu Recht die bahnbrechende Rolle Benno Bessons und seiner Volkstheater-Inszenierungen für das demokratische Aufbrechen der konservativen Institution Theater hervor. Der Autor und Regisseur Gerlach beschreibt seine antiklassischen, problembeladenen, von der Stasi gestörten Inszenierungen am Erfurter „Hof-Theater“ zu Johann Christian Günther, Christian Dietrich Grabbe und Wladimir Majakowski als Zensur-Geschichten einer noch mächtigen kulturpolitischen Provinz-Kamarilla.

Kanonveränderungen kann auch Marcus Gärtner an der Bibliothek deutscher Klassiker (BdK), „einem der überzeugendsten Erfolgsprodukte der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten (NFG) wie der ostdeutschen Buchproduktion überhaupt“ (193) aufzeigen. Erst nach dem Tod des einflussreichen Chefs der NFG Helmut Holtzhauer 1974 erschienen in der Reihe, die zuletzt in 70 Auswahlausgaben in 153 Bänden eine Gesamtauflage von 10 Millionen Exemplaren erreicht hatte, auch Texte der Romantiker. Wenngleich die Frage „Wer liest die BdK?“ mangels entsprechender soziologischer Quellen nur ungenau zu beantworten ist, sieht Gärtner in dem geringen Preis von 5 Mark pro Band und der gediegenen Ausstattung einen Grund dafür, das die BdK zur notorischen Buch-Bückware der DDR gehörte wie er auch sicher zu Recht vermutet, dass das akribische und verbreitete „gegen den Strich lesen“ jeglicher Art von Literatur in der DDR zum Verbreitungsgrad auch dieser klassischen Texte beitrug.

Zur Qualität der bildungspolitischen Bemühungen um die deutsche Klassik kann der Bochumer Germanist Harro Müller-Michaels in seiner Analyse des „literarischen Kanons in der Oberschule der DDR“ wichtige Aussagen beisteuern. Sein Befund einer „stabilen Kontinuität von klassischen Texten“ (26) steht gegen die zentrale These des Bandes; gewisse Korrekturen sieht er erst nach 1979 (sic), und hier auch nicht in den behandelten Stoffen, sondern in den Methoden ihrer Behandlung. Sehr anregend und weiterführend ist seine Vergleichsperspektive zur BRD in den 80er Jahren, wobei er der DDR einen „beachtlichen Anspruch“ in der Literaturvermittlung attestiert. Hier wird man wohl auch die Ursachen von noch anhaltenden deutsch-deutschen Unterschieden zu suchen haben: So stellte eine Allensbacher Umfrage von 1999 fest, dass 50 Prozent im Osten den „Faust“ gelesen haben, im Westen nur 19 Prozent (218).

Mit Ingeborg Cleves fundiertem Beitrag „Klassik vor Ort - Präsentationsformen und Aneignungsweisen“ wird eine höchst informative Übersicht der museumspädagogischen und forschungsgeschichtlichen Bemühungen um die Klassiker-Pflege zwischen Staatsauftrag und Nische vorgelegt. Besonders hervorzuheben ist dabei ihre Thematisierung von Klassik als „Medium deutsch-deutscher Verständigung im geteilten Land“ (27). Dies ist auch das Thema des „Erfahrungsberichts“ von Norbert Oellers, der im Zeitraum 1971-1989 als Herausgeber der Schiller-Nationalausgabe, die „als deutsch-deutsches Unternehmen ein Unikum in den Beziehungen der beiden Staaten darstellte“ (295), aufschlussreiche Erfahrungen und subtile Beobachtungen beisteuert, die er bei seinen etwa 90 Besuchen in der DDR gesammelt hat. Nicht zuletzt erwähnenswert ist sein die Kontinuitätsthese untermauernder Hinweis auf Honeckers Toast vom Januar 1989, mit dem er, wie seinerzeit Ulbricht, die Goethetische Faustsche Vision für die DDR beschwor (306).

Eine echte Novität stellt der Beitrag von Karoline Krause (Ein klassischer Park für das Volk. Rezeption der Gartenkunst und Gartendenkmalpflege am Beispiel des Parks an der Ilm) dar, der einen sehr informativen Überblick über die Grundsätze der Gartendenkmalpflege und deren kulturpolitische Einflüsse auf die Rekonstruktion des Parks vermittelt (268) und den von den NFG in der Ulbricht Ära durchgesetzten „ästhetischen Konservatismus“ anschaulich belegt. Denn bis zum Ende der DDR blieb die „Sperrung des Parks gegen moderne Stilelemente evident“ (294).
Auch dieser Beitrag trägt dazu bei, dass der insgesamt außerordentlich profunde und anregende Band als „Beitrag zu einer ganzheitlichen deutschen Erinnerungskultur“ wirken kann. Viele in ihm nur angetippte Fragen und Probleme der Rezeption der Weimarer Klassik in der DDR sollten zu weiteren Forschungen animieren.

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