E. Engelke: "Einem besseren Leben entgegen?"

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Titel
"Einem besseren Leben entgegen?". Ungarische Flüchtlinge 1956 in der Steiermark


Autor(en)
Engelke, Edda
Erschienen
Innsbruck 2006: StudienVerlag
Anzahl Seiten
260 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Zsuzsa Barbarics, Universität Pécs, Institut für Geschichte. Klaus-Jürgen Hermanik, Karl-Franzens-Universität Graz, Institut für Geschichte.

Die Fülle an Literatur, die im Gedenkjahr 2006 über den Ungarnaufstand des Jahres 1956 erschienen ist, sollte nun, ein Jahr später, nicht das falsche Bild vermitteln, dass damit alle Forschungsfelder zu diesem Thema bereits „abgegrast“ worden wären. Edda Engelkes Buch über die ungarischen Flüchtlinge in der Steiermark setzt einen Impuls, sich noch stärker um die (un-)mittelbaren Auswirkungen der Flüchtlingswelle in den Herberge- und Transitstaaten zu kümmern.

Das vorliegende Werk ist im Kern vor allem eine Auswertung des Aktenbestandes der Sicherheitsdirektion für die Steiermark aus den Jahren 1956/57, der erst im Jahr 2001 im Grazer Schlossbergstollen wieder aufgefunden werden konnte. Dieser beinhaltet unterschiedliche Textsorten (z.B.: Protokolle der Gendarmerie und der Bezirkshauptmannschaften, amtliche Korrespondenzen und Aktenvermerke), die die Aufnahme, die Unterbringung sowie den Weitertransport von ungarischen Flüchtlingen im Bundesland Steiermark betreffen – insgesamt etwa 9.000 Personen. Durch die Aufarbeitung dieser Quellen gelingt es Edda Engelke, Sichtweisen auf die Ungarnflüchtlinge in der Steiermark aufzudecken, die in dieser Form bisher nicht vorlagen.

Die autobiografischen Angaben der Flüchtlinge – auf diese und um diese herum ist diese Arbeit aufgebaut worden – folgen einem Vexierspiel zwischen Dichtung und Wahrheit, wie es jedem subjektivem Erinnern zugrunde liegt. Obwohl sich Edda Engelke dessen bewusst zeigt (vgl. S. 22), übernimmt sie die vorgefundenen Quellen in den meisten Fällen eher unhinterfragt und es kommt nach der Vorstellung der Inhalte daher nur ansatzweise zu einer Kontextualisierung im Rahmen der wissenschaftlichen und der Erinnerungsliteratur über den „Ungarnaufstand 1956“ und dessen Folgen.

Damit sind wir auch schon bei der Kernfrage angelangt, die alle Kapitel dieser Monografie begleitet: Kann man gerade bei dieser Themenstellung auf die ungarischsprachige Fachliteratur und auf vergleichende ungarische Archivstudien zur Gänze verzichten? Diese Frage müssen wir eindeutig mit „nein“ beantworten, vor allem was die ungarischsprachige Literatur betrifft. Durch die fehlenden Sprachkenntnisse der Verfasserin wurden zentrale Werke über ungarische Flüchtlinge allgemein 1 und zu Österreich speziell 2 in der Arbeit nicht berücksichtigt. Bei den letzteren sind es besonders die Werke von Katalin Soós 3, deren Hauptforschungsschwerpunkte gerade die Beziehungen von Österreich und Ungarn vor, während und nach der Revolution 1956 sowie die Flüchtlingsproblematik in Österreich bilden. Als „Kontrollquelle“ zu den ‚steirischen Akten’, besonders zu den Informationen über die ausgewählten Personen, wäre der 1957 verfasste, bis 1989 geheim gehaltene, 1991 jedoch zur Gänze veröffentlichte Bericht des Ungarischen Statistischen Amtes, der aufgrund von Polizeiakten über die Ungarnflüchtlinge verfasst wurde, von großer Bedeutung gewesen.4 Zu einem besseren Verständnis der Gesamtsituation hätten die im Jahre 1988 veröffentlichten Memoiren von Frigyes Puja 5, der in Wien von 1955 bis 1959 ungarischer Botschafter war, beigetragen, da dieser darin zu den einzelnen Themen, die von Edda Engelke bearbeitet wurden, explizit Stellung nimmt: z.B. ÁVO, Jugendliche, Repatriierungen, Ungarische Hilfsorganisationen und viele mehr.

Zeitgeschichtliche Hintergrundinformationen über den Ungarnaufstand 1956 werden von Edda Engelke nur sehr allgemein vermittelt, es wird dabei fast ausschließlich auf Paul Lendvai und dessen persönliche Abrechnung mit dem kommunistischen Regime zurückgegriffen, also auf journalistische Erinnerungsliteratur und kaum auf die einschlägigen Arbeiten von ZeithistorikerInnen, wie etwa György Gyarmati, János M. Rainer, György Litván, Csaba Békés, János M. Bak. 6 In ihrer Einleitung weist Edda Engelke zwar auf die Existenz des 1956 Instituts in Budapest sowie auf dessen englischsprachige Publikationen hin (S. 12), diese wurden jedoch für die Arbeit kaum verwendet. Die Verfasserin betont zwar die Wichtigkeit der bilateralen Zusammenarbeit für die Zukunft (S. 18), eine Kontaktaufnahme zu den MitarbeiterInnen des 1956 Instituts und zum Leiter des Archivs der Sicherheitsdienste in Ungarn (György Gyarmati) wären aber bereits für die vorliegende Publikation anzuraten gewesen.

Verdienste hat sich die Verfasserin dort erworben, wo es um die Schilderung von Einzelschicksalen geht, die sie unmittelbar aus den Quellen herauslöst und in eine entsprechende thematische Ordnung bringt: Hervorzuheben wären hiezu die Beschreibungen der Lager und besonders das Kapitel über „Kinder und Jugendliche“ (vgl. S. 145-182), die ein sehr lebendiges Bild davon zeichnen, wie der Flüchtlingsalltag sowohl aus Sicht der Betroffenen als auch aus Sicht der Behörden aussah. Dabei scheut Edda Engelke mitunter nicht vor kritischen Kommentaren gegenüber zweifelhaften Vorgehensweisen der Steiermärkischen Landesregierung zurück (vgl. S. 117f. sowie 211-214). Zu einigen Details freilich bleiben erläuternde Hintergründe ausgeblendet und es stellen sich dem Leser Fragen wie etwa: Welche Rolle spielten die jugoslawischen Lager Pančevo und Gerovo (vgl. S. 46-76)? Was wissen wir über die explizit angeführten ungarischen Widerstandsgruppen Corvin in Budapest oder Barantovics in Szombathely (S. 186 und S. 200)? Ein weiteres Detail betrifft handwerkliche Unstimmigkeiten: Z.B. ist die Endnotenzählung ab circa Nr. 164 verschoben; Absätze wurden doppelt abgedruckt (vgl. S. 224-226).

Bei der Schilderung des Phänomens „Grenze“ betont Edda Engelke eher dessen Bollwerkfunktion und vermittelt damit ein vereinfachtes Schwarz-Weiß-Bild. Wenn man sich die zitierten Aussagen der Flüchtlinge, vor allem jener, die in grenznahen Dörfern und Städten wohnhaft waren, allerdings genauer ansieht, entdeckt man Hinweise, die die Brückenfunktion von Grenze ebenso beleuchten: Viele Flüchtlinge hatten bereits davor regelmäßige Kontakte zu Verwandten oder Freunden die vor den Ereignissen von 1956 aus Ungarn ausgewandert waren und gaben deren Wohnorte als Ziel der Flucht an.

Dieses Buch bietet also keine intensive Auseinandersetzung mit den Ereignissen in Ungarn im Zusammenhang mit der Flüchtlingsbewegung in die Steiermark oder darüber, wohin die Transitflüchtlinge von der Steiermark aus weitergewandert sind. 7 Die Leistung Edda Engelkes beruht vor allem in der Aufarbeitung und Publikation bisher nicht bearbeiteter Quellen, die zahlreiche regionalhistorische Styriaca enthalten. Damit fügt sie dem Gesamtkanon der Literatur zum Ungarnaufstand von 1956 einen weiteren Mosaikstein hinzu.

Anmerkungen:
1 Auswahl: Borbándi, Gyula, A magyar emigráció életrajza, 1945-1985, Bd. I-II, Budapest 1989; ders., 1956 – és az emigráns politika, in: Világosság. 32 (1991), S. 757-762; Eörsi, László, Adalékok az ’56-os emigráció történetéhez. A bécsi „Magyar Forradalmi Tanács”, in: Bak János et al (Hrsg.), Évkönyv 3 (1994). Budapest 1994, S. 13-26; Szépfalusi, István, Legújabb felismerések az 1956/57-es magyar menekülthullámról, in: Limes 11 (1998), S. 113-121; Deák, Ernő, Adatok az 1956-os menekülthullámról, in: Fokasz Nikosz és Örkény Antal (Hrsg.), Magyarország társadalomtörténete. Bd. 1. 1945-1989, Budapest 1999, S. 72-76; Murber, Ibolya, Arcok a tömegből. Az ötvenhatos magyar menekültek társadalom-statisztikai vizsgálata, in: Jankovics, József; Nyerges, Judit (Hrsg.), Hatalom és kultúra. Az V. Nemzetközi Hungarológiai Kongresszus (Jyväskylä, 2001. augusztus 6-10.) előadásai, Bd. 2, Budapest 2004, S. 959-966; Sós, Péter János, Magyar exodus. Magyar menekültek Nyugaton, 1956-1959, Budapest 2005.
2 Auswahl: Cseresznyés, Ferenc, Ötvenhatosok menekülése Ausztriába és Ausztrián át, in: Múltunk 43 (1998), S. 42-70; Juhász, Péter, Ausztria és a magyar fiatalok, in: Szemle 4 (1962), S. 129-143. Selbst englischsprachige Quelleneditionen blieben unberücksichtigt, wie z.B.: HUNGARY and the 1956 uprising. Personal interview with 1000 Hungarian refugees in Austria, New York 1957.
3 Vor allem: Soós, Katalin, 1956 és Ausztria. Szeged, JATE, 1999; dies., Ausztria és a magyar menekültügy, 1956-1957, in: Századok 132 (1998), S. 1019-1051; dies., 1956-os magyar menekültek a statisztikai adatok tükrében, in: Levéltári Szemle 3 (2002), S. 56-60.
4 Es handelt sich bei diesen Polizeiakten um Abmeldescheine sowie um hinzugefügte Statistiken, die von der Polizei über die „Dissidenten” angefertigt wurden. Vgl. KSH-jelentés az 1956-os disszidálásról. Az illegálisan külföldre távozott személyek főbb adatai, 1956. október 23-1957. április 30, in: Régió 4 (1991), S. 174-211.
5 Puja, Frigyes, A szedőszekrénytől a miniszteri székig. Népszava, Budapest 1988.
6 Aus der Fülle der ungarischsprachigen Veröffentlichungen der genannten Zeithistoriker: Litván, György, Mítoszok és legendák 1956-ról, in: Évkönyv VIII. – 2000. Magyarország a jelenkorban, Budapest 2000, S. 205-218; Békés, Csaba, Az 1956-os forradalom a világpolitikában, Budapest 1999; Ders., Győzhetett-e volna a magyar forradalom 1956-ban? in: Romsics, Ignác (Hrsg.), Mítoszok, legendák, tévhitek a 20. századi magyar történelemről, Budapest 2002, S. 339-360; Eörsi, László: Adalékok az 1956-1957-es ellenállás történetéhez („A Bástya”), in: Hatalom és társadalom a XX. századi magyar történelemben, Budapest 1995, S. 486-491; Ders., Budapest ostroma, 1956. A szovjet haderő Magyarországon, in: Budapesti Negyed 29-30 (2000), S. 256-310; Szakolczai, Attila, A fegyveres erőszakszervek restaurálása 1956-1957 fordulóján, in: Évkönyv VII – 1999. Magyarország a jelenkorban, Budapest 1999, S. 18-60; Gyarmati, György, A politika rendőrsége Magyarországon a Rákosi-korszakban, Pécs 2002.
7 Katalin Soós bringt – aufgrund der von ihr aufgefundenen Quellen und deren statistischer Auswertung – konkrete Daten, in welche Länder wie viele Ungarn zwischen November 1956 und Mai 1958 von Österreich aus „weitergewandert“ sind. Vgl. Soós, Katalin, 1956-os magyar menekültek a statisztikai adatok tükrében, in: Levéltári Szemle 50 (2002), S. 58-60.

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