P. Berger: Kurze Geschichte Österreichs im 20. Jahrhundert

Cover
Titel
Kurze Geschichte Österreichs im 20. Jahrhundert.


Autor(en)
Berger, Peter
Anzahl Seiten
456 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Werner Suppanz, Universität Graz

Gesamtdarstellungen der Geschichte eines Staates oder einer Nation bedienen für eine vermutliche Mehrheit potenzieller LeserInnen den Wunsch nach objektivem Wissen, nach Zusammenhängen und einer linearen, vor allem im Fall der klassischen „Nationalgeschichten“ Sinn stiftenden (großen) Erzählung. Dem gegenüber steht die theoretisch begründete Skepsis, dass das zusammenhängende Narrativ ein Konstrukt und die Geschichte des jeweiligen Themas in der konkreten Formulierung immer das Produkt ihrer AutorInnen ist. In diesem Spannungsfeld bewegt sich klarerweise auch Peter Bergers 2007 erschienene „Kurze Geschichte Österreichs im 20. Jahrhundert“. Der Titel deutet angesichts des dennoch 450 Seiten langen, detailreichen Textes darauf hin, dass diese Materialfülle nur eine notgedrungen unvollständige Auswahl darstellen kann. Berger, in den Niederlanden geborener ao. Professor für Wissenschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien, verweist in seinem Resümee selbst auf die unvermeidliche Perspektivität in der Darstellung der Geschichte eines Landes (S. 416).

Das Buch besteht in seinem Hauptteil aus zehn chronologischen Kapiteln, in die der Autor die Geschichte Österreichs von 1898 bis 1999 untergliedert. Der inhaltliche Schwerpunkt liegt auf Politik- und Wirtschafts- bzw. Finanzgeschichte. Die große Bedeutung, die Berger der Verknüpfung von (Finanz-)Ökonomie und Politik beimisst, ist ein Charakteristikum und zugleich eine Stärke des Buches. Kultur als weitere Dimension von Gesellschaft – im Wehlerschen Sinne neben Herrschaft und Wirtschaft – tritt in der Erzählung vergleichsweise deutlich zurück. Das ist sicherlich auch eine Folge der disziplinären Schwerpunktsetzung Bergers als Wirtschafts- und Sozialhistoriker. Von den zehn Kapiteln beschreiben neun die Geschichte der Republik. Der erste Teil, „Eine europäische Anomalie: ,Kakanien’“, besitzt folglich einleitenden Charakter. Unklar bleibt, warum er mit dem Jahr 1898 beginnt: Die Zäsur, die dieses Jahr bezeichnet, wird nicht erkennbar, ohnehin greift die Darstellung ausführlich auf die Entwicklungen in den Jahrzehnten davor zurück. Auffällig ist der symmetrische Aufbau der folgenden Kapitel. Vier Teile befassen sich mit der Zeit zwischen 1918 und 1938, vier mit der Zeit zwischen 1945 und 1999. Der Abschnitt „Unter dem Hakenkreuz“ (1938-1945) fungiert als Achse zwischen Erster Republik/„Ständestaat“ und Zweiter Republik. Die Einteilung der Jahre zwischen der Entstehung der Republik und dem „Anschluss“ an das nationalsozialistische Deutsche Reich – 1918-1922, 1922-1930, 1931-1933, 1933-1938 – ist dabei gerade unter einer wirtschafts- und finanzhistorischen Perspektive plausibel. Die Einteilung der Zweiten Republik – 1945-1955, 1955-1970, 1970-1983, 1984-1999 – folgt dagegen stärker dem Prinzip politischer Zäsuren. Skepsis ist gegenüber dem Titel „Die große Transformation“ für die Jahre 1984 bis 1999 angebracht. Sind die Veränderungen in diesem Zeitraum tatsächlich so fundamental, wie es der beziehungsreiche Titel 1 suggeriert? Die Darstellung endet mit dem Jahr 1999; der „Tabubruch“ (S. 412) der Bildung der ÖVP-FPÖ-Regierung im Jahr 2000 wird abschließend nur kurz behandelt.

Eine Leitperspektive für seine Erzählung von der „Geschichte Österreichs im 20. Jahrhundert“ formuliert Peter Berger erst in seinem Resümee. Anregend ist dabei das „unausgesprochene Anliegen des Buches“, „zu zeigen, wie Österreich im Lauf des vergangenen Jahrhunderts auf die doppelte Herausforderung von Demokratie und Marktkapitalismus reagiert – und wie die internationalen Beziehungen beschaffen waren, die den Rahmen dafür absteckten“ (S. 417). Österreichische Geschichte im 20. Jahrhundert wird nicht prinzipiell als langfristige Erfolgsgeschichte der Demokratie analysiert, demokratische Grundordnung und Marktwirtschaft beschreibt Berger gegenüber einer strukturellen antiliberalen Grundhaltung vielmehr als ständig prekär. Zentral ist dabei allerdings seine Position, dass Demokratie und ungebundener Marktkapitalismus miteinander gekoppelt seien. Die Gleichsetzung von „liberale[m] Demokratie- und Kapitalismusverständnis“ (S. 424) ist seine a priori gesetzte weltanschauliche Ausgangsthese. So rufen auch die Steuerreformen 1989 und 1994 der Großen Koalition, die die Besteuerung von Vermögen und Kapitalerträgen „auf ein fast konkurrenzlos niedriges Niveau“ senkten, die offenkundige Begeisterung Bergers hervor, ohne den daraus resultierenden „Nutzen des Landes“ konkret anzuführen (S. 393, Anm. 63). Sein Vergleich der von Globalisierung und europäischer Integration geprägten Gegenwart mit den 1920er-Jahren, als Demokratie und freie Marktwirtschaft gemeinsam als Leitideen scheiterten, lässt sich in der Konsequenz als höchst problematische Delegitimierung der Kritik an neoliberaler Globalisierung und Marktderegulierung weiterdenken (S. 425). Dabei sei betont, dass Berger im inhaltlichen Teil auch mit wirtschafts- und finanzpolitischen Entwicklungen, die – wie Sozialpartnerschaft oder Austrokeynesianismus – seiner Leitperspektive widersprechen, differenziert und facettenreich umgeht.

Bemerkenswert ist der hohe Anteil an anglo-amerikanischer Literatur, der zur österreichischen Geschichte herangezogen wird. Generell ist die internationale Auswahl an Referenztexten wie z.B. der Website Biografías de Líderes Políticos (S. 374, Anm. 5) für „Geschichten Österreichs“ ungewöhnlich hoch. Diese respektable Breite in der Rezeption wird allerdings dadurch eingeschränkt, dass die österreichische Forschungsliteratur in manchen Bereichen nicht dem aktuellen Stand entspricht. So wäre es beispielsweise sehr angebracht gewesen, zum NS-Juli-Putsch des Jahres 1934 neben Gerhard Jagschitz’ Standardwerk von 1976 auch Kurt Bauers heute gleichermaßen maßgebliche Arbeit „Elementar-Ereignis“ (2003) anzuführen.

Trotz der zahlreich dargebotenen Fakten und Details ist das Buch im Stil flüssig und interessant zu lesen. Manche Feststellungen (S. 178: „Die Achillesferse Österreichs war […] die Wirtschaft.“) könnten allerdings ohne Beeinträchtigung der Rezeption durch ein außeruniversitäres Publikum weniger salopp sein. Bemerkungen wie die Gegenüberstellung des „urbanen, jüdischen Intellektuellen“ Otto Bauer mit dem „weitaus einfacher gestrickten Geist des ehrgeizigen Bauernkindes Dollfuß“ (S. 143) sind eher klischeehaft als erklärend. Ebenso ist der Erklärungswert pauschaler Feststellungen, wie jener, dass die Bevölkerung in der NS-Zeit „aufgrund früherer Erfahrungen stärker zu Anpassung als zu Aufmüpfigkeit“ neigte (S. 220), nur gering. Sachliche Fehler, Ungenauigkeiten und Generalisierungen sind in einigen Punkten besonders gravierend. So bezeichnet Berger den Volksentscheid über die Inbetriebnahme des AKW Zwentendorf im Jahr 1978 als Volksbefragung (S. 363f.). Dass es sich dabei um eine Volksabstimmung handelte, ist ein entscheidender Unterschied, denn nur diese war verfassungsgemäß verbindlich und damit von jenem enormen politischen Gewicht. Ein weiteres Beispiel: Den Nationalsozialisten sei entgegengekommen, dass die Bevölkerung „durch Jahrzehnte mit pangermanischer Ideologie gefüttert“ worden sei (S. 220). In dieser Aussage wird möglicherweise die eine große Bevölkerungsmehrheit und alle politischen Lager prägende Identität der Zeit vor 1938, Teil deutscher Kultur und der deutschen Nation zu sein, mit dem völkischen Deutschnationalismus als konkreter pangermanischer Bewegung gleichgesetzt. Die Feststellung suggeriert zudem, dass es eine eigentliche und erst durch Indoktrination nicht mehr erkennbare nationale Identität geben könne. In diesem Kontext ist es auch problematisch, die vehemente Betonung des österreichischen Deutschtums als Teil des austrofaschistischen Identitätskonzepts nicht zu erwähnen (vgl. S. 169, 200-202). Fragwürdig ist weiterhin, von „eine[r] Art von prekärer Kohabitation zwischen Regierung und Judentum“ (S. 204) im „Ständestaat“ zu sprechen. Auch wenn dessen Antisemitismus weniger offen zum Ausdruck kam, wollte das austrofaschistische Regime den Antisemitismus als Propagandamittel keinesfalls dem Nationalsozialismus überlassen. 2 Der üblicherweise ein Machtgleichgewicht voraussetzende Begriff „Kohabitation“ erscheint beschönigend – und: War tatsächlich „das Judentum“ Verhandlungspartner der Regierung?

Diese problematischen Punkte sind bedauerlich, da das Buch in seiner Gesamtheit als detailreiches Einführungswerk, auch für die Lehre an der Universität, grundsätzlich empfehlenswert ist. Die genannten Fehler und undifferenzierten Pauschalaussagen schränken diesen Befund allerdings ein. Wünschenswert wäre auch gewesen, die Leitperspektive, österreichische Geschichte im 20. Jahrhundert als Auseinandersetzung von Demokratie und Marktwirtschaft mit einem strukturellen Antiliberalismus zu untersuchen, und die – vom Rezensenten, wie erwähnt, als problematisch betrachtete – Leitthese einer Identität von demokratischem und ökonomisch-marktliberalem Denken statt im Resümee bereits in einer Einleitung detaillierter zu erörtern und damit auch deutlicher zur Diskussion zu stellen.

Anmerkungen:
1 Vgl. als “Klassiker”: Polanyi, Karl, The Great Transformation. The Political and Economic Origins of Our Time (erstmals erschienen als Origins of Our Time. The Great Transformation, London 1945).
2 Maderegger, Sylvia, Die Juden im österreichischen Ständestaat 1934-1938, Wien 1973; Königseder, Angelika, Antisemitismus 1933-1938, in: Tálos, Emmerich; Neugebauer, Wolfgang (Hrsg.), Austrofaschismus. Politik – Ökonomie – Kultur 1933 – 1938, Wien 2005, S. 54-65.

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