Titel
Ethnische Kolonien. Entstehung, Funktion und Wandel am Beispiel türkischer Moscheen und Cafés


Autor(en)
Ceylan, Rauf
Erschienen
Anzahl Seiten
272 S.
Preis
€ 32,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andrea Althoff, Divinity School, University of Chicago

Rauf Ceylan beschreibt in seiner Dissertation, welche Rolle türkische Moscheen und Cafés für den Integrationsprozess von Türken und türkischstämmigen Migranten in Deutschland spielen. Ceylan promovierte im Fach Soziologie an der Ruhr-Universität Bochum. Mit seinem Ansatz des Vergleichs von Moscheen und türkischen Cafés hat Ceylan – er vermeidet bewusst den ansonsten üblichen Begriff „Teestube“ – eine ungewöhnliche Herangehensweise an das Thema „Migration und Integration“ gewählt. Allerdings ist es gerade dieser Vergleich, der ihn zu überraschenden Ergebnissen kommen lässt. Hierzu zählt, dass Moscheen eine durchaus positiv zu bewertende Integrationsfunktion für die Migranten übernehmen, während die Cafés eher die Desintegration und Entkoppelung der Lebenswelten von Migranten und Mehrheitsgesellschaft fördern.

Das Konzept der ethnischen Kolonie, das Ceylan für seine Studie nutzt, ist angelehnt an Friedrich Heckmanns Definition der ethnischen Kolonie: „Koloniebildung ist die freiwillige Aufnahme oder Weiterführung innerethnischer Beziehungen“ (S. 51) im Aufnahmeland. Dieses Prinzip der Freiwilligkeit und die damit verbundene Offenheit zur Mehrheitsgesellschaft im Unterschied zum Ghetto möchte Ceylan für seine Analyse nutzen, um gezielter das Integrationspotential zu beschreiben, das mit der Bildung einer ethnischen Kolonie verbunden ist. Es gelingt ihm, diese Herangehensweise plausibel zu machen und trotzdem auf die Ambivalenz hinzuweisen, die soziale Institutionen in der ethnischen Kolonie hinsichtlich ihres Integrationspotentials aufweisen.

Ceylans Analyse überzeugt aber noch aus anderen Gründen. Er belässt es nämlich nicht bei einer Beschreibung von Cafés und Moscheen, sondern zeigt auf, wie diese Einrichtungen in den Duisburger Stadtteil Hochfeld eingebunden sind und sich im Laufe der Zeit aufgrund lokaler, regionaler und globaler Entwicklungen verändert und an den Stadtteil, das heißt an die Situation im Einwanderungsland angepasst haben. Am Ende des Buches fasst er seine Befunde in einem chronologisch angelegten und sehr detaillierten und differenzierten Vierphasenmodell zusammen, das sich aus seinen empirisch gesammelten Forschungsbefunden speist. In der fünften Phase, die er in positive und negative Aspekte unterteilt, versucht er zudem Szenarien für ethnische Kolonien im Allgemeinen und den behandelten Stadtteil im Besonderen zu prognostizieren.

Ceylan hat für seine Studie einen qualitativen Ansatz gewählt, wobei er sich jedoch auch stark auf Forschungsergebnisse aus anderen Studien stützt. Dies ermöglicht nicht nur Einblicke in die Binnenperspektive der Akteure, sondern man erhält einen Überblick über aktuelle Studien zu den Themen Islam und Muslime in Deutschland und Europa, globale Migration, Migration und Urbanität, Migration und Armut sowie Migration und Jugend. An der zusammengetragenen Literatur überrascht die Vielfalt. Obwohl dies im einleitenden Vorwort von Volker Eichener anders dargestellt wird, scheinen inzwischen weitaus mehr Studien zum Thema Migration in Deutschland in unterschiedlichsten Facetten (inklusive der Städteforschung) vorzuliegen als bislang angenommen.

Am interessantesten wird das Buch dort, wo sich Ceylan vorrangig auf seine eigenen Materialien aus Interviews stützt, so zum Beispiel, wenn die Prostitution und die Folgen des Glücksspiels in den Cafés aus der Sicht der Akteure beschrieben werden (S. 221-243). An diesen Stellen wird deutlich, dass es einen männlichen Autor mit Migrationshintergrund und Sprachkenntnissen braucht, um einen Zugang zu diesem Milieu zu erlangen. Hier hätte man gerade wegen der Vielzahl der durchgeführten Interviews (83!) mehr Details über die Verknüpfung von konkretem Lebenskontext der deutsch-türkischen Migranten und der Situation im Herkunftsland erfahren. So beschreibt Ceylan mit viel Akribie die Situation in der Türkei, insbesondere die wirtschaftlichen, religiösen, politischen und sozialen Entwicklungen und zieht dies dann als Beleg heran, warum Migranten sich nicht zur Rückkehr in die Türkei entschließen. Dies scheint plausibel, gerade weil er den in der Migrationsforschung häufig diskutierten Kettenmigrationseffekt in die Analyse einbezieht. Dieser tritt dann ein, wenn strukturelle Faktoren wie Armut, Wohlstandsgefälle und politische Verfolgung im Herkunftsland nicht mehr zu den primären Gründen für die Migration gehören, sondern soziale Netzwerke an Bedeutung gewinnen. So werden schließlich die verwandtschaftlichen Kontakte im Aufnahmeland zum Motivationsauslöser. Migration wird deshalb letztlich zu einem Phänomen, das sich zu einem Selbstläufer entwickelt und wenig durch staatliche Regulierungsmaßnahmen beeinflusst wird.

Diese strukturelle Dynamik, die sich hauptsächlich in der zweiten und dritten Generation von deutsch-türkischen Migranten abzeichnet, ist leider nicht, wie bereits angedeutet, in den Interviews nachzuvollziehen. Allerdings erfährt man Überraschendes aus den Gesprächen mit der ersten Generation von bulgarischen Migrantinnen, die im Cafémilieu deutsch-türkischer Migranten als Kellnerinnen und/oder Prostituierte arbeiten. Die Kehrseite dieser ethnischen Ausdifferenzierung einer ehemals türkischen ethnischen Kolonie ist, das zeigen Ceylans empirische Befunde, die teilweise sexuelle und ökonomische Ausbeutung der osteuropäischen Migrantinnen. Inwieweit sich diese ethnische Ausdifferenzierung verfestigt, bleibt abzuwarten. Die osteuropäischen Migrantinnen äußerten zwar keine langfristigen Aufenthaltsabsichten, jedoch sind die Motive der ersten Generation von Migratinnen aus Osteuropa mit denen der nunmehr dritten Generation türkischstämmiger Migranten fast identisch. Das heißt, theoretisch kann auch innerhalb jener Migrantengruppe ein Kettenmigrationseffekt eintreten. Ob der Begriff der ethnischen Kolonie mit solchen Entwicklungen ebenfalls obsolet wird, bleibt daher ebenfalls abzuwarten.

Der Vergleich Deutschland und USA, speziell die historischen Beschreibungen der deutschen Einwanderung in die USA, enthält grundlegende Mängel. Das ist schade, weil gerade die Einwanderung von Deutschen in Industriemetropolen wie Chicago Ende des 19. und am Beginn des 20. Jahrhunderts viele Parallelen zur türkischen Einwanderung in das Ruhrgebiet aufweist, wovon die Studie insgesamt hätte profitieren können.1 Dieser Aspekt beeinflusst jedoch die Hauptargumentation nicht wesentlich und soll hier nur am Rande erwähnt werden.

Insgesamt ist diese Studie in ihrem konzeptionellen Aufbau, ihren theoretischen Anknüpfungspunkten sowie in ihren dichten Beschreibungen, in denen Ceylan immer wieder mit überraschenden Zitaten aus der Binnenperspektive der ethnischen Kolonie aufwartet, sehr gelungen. Das Buch dürfte einen differenzierten Leserkreis ansprechen, da es für die Wissenschaft, für die sozialpädagogische Praxis und als Handlungsaufforderung für Kommunen und die (Integrations-)Politik wertvolle Erkenntnisse liefert. Folgenden Punkt halte ich insbesondere für die Geschichtswissenschaften und in Bezug auf die sozialwissenschaftliche Migrationsforschung für außerordentlich wichtig: In Europa werden im Gegensatz zu den USA häufig negative Aspekte hervorgehoben, wenn es um das Thema Migration und Religion geht. Hierzu zählen folgende, teilweise unhinterfragte und oft generalisierte Annahmen: Der Islam sei fundamentalistisch, patriarchal und demokratieunfähig. Ceylan zeigt jedoch anhand seiner Befunde, dass in Deutschland inzwischen ähnliche Entwicklungen zu beobachten sind wie in den USA.2 So verwandeln sich islamische religiöse Institutionen in kulturelle Zentren, die für die Integration der muslimischen Bevölkerung außerordentlich wichtig sind. Sie nehmen auch hinsichtlich der zunehmenden Anzahl von deutschen Konvertiten zum Islam eine wichtige Brückenfunktion im interkulturellen Dialog ein.

Der Forschungsbeitrag von Ceylan macht deutlich, dass bisherige Annahmen über Religion und die negativen Konnotationen, die sowohl in der Wissenschaft als auch in öffentlichen Debatten vorherrschen, hinterfragt und anhand empirischer Befunde überprüft werden müssen. Die Bestandsaufnahme von Rauf Ceylan zeigt: Die sich durch die verschlechternde soziale Lage der Migranten und Migrantinnen abzeichnenden Folgekosten sind zu hoch, als das wir es uns als Gesamtgesellschaft leisten können, die positiven Potentiale im Zusammenleben zu ignorieren und zu verspielen.

Anmerkungen:
1 Vgl. Miller, Donald L., City of the Century. The Epic of Chicago and the Making of America, New York 1996.
2 Vgl. Portes, Alejandro; Rumbaut, Rubén G., Immigrant America. A Portrait, Berkeley 2006. Das Buch ist soeben in der dritten, vollständig überarbeiten Auflage erschienen. Dieser sich zu einem Klassiker in der Migrationsforschung entwickelnde Band ist besonders empfehlenswert, weil die Autoren ein ausgezeichnetes Kapitel zum Thema Religion und Einwanderung in den USA eingearbeitet haben.

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