J. Sahadeo: Russian Colonial Society in Tashkent

Cover
Titel
Russian Colonial Society in Tashkent. 1865-1923


Autor(en)
Sahadeo, Jeff
Erschienen
Anzahl Seiten
316 S.
Preis
€ 31,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Teichmann, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

War Russland ein Kolonialstaat? Wenige würden diese These auf den ersten Blick bejahen. So ist es nicht erstaunlich, dass das russische Imperium und die Sowjetunion in den gängigen Überblicksdarstellungen zum Kolonialismus weitgehend fehlen. Handelt es sich dabei um einen Lapsus in der neueren westlichen Forschungsliteratur, die – manchmal mit durchaus eurozentristischem Zungenschlag – unter dem Begriff Kolonialismus die Beziehungen zwischen den Staaten Westeuropas und dem Rest der Welt im Zeitalter der Moderne beschreibt? Doch auch in der Russlandforschung ist die These umstritten, das Imperium der Zaren als Kolonialstaat zu beschreiben.1

Mit dem Titel seines Buches „Russian Colonial Society in Tashkent“ nimmt Jeff Sahadeo eine scheinbar eindeutige Position ein. Die Nachahmung des europäischen Kolonialismus verursachte, so die Ausgangsthese, in Russland einen kolonialen Effekt, der das Imperium „modern“ werden ließ (S. 5). In acht Kapiteln widmet Sahadeo sich dem Problem, wie aus der kolonialen Selbststilisierung der herrschenden Eliten Taschkents zwischen 1865 und 1923 in der Folge von politischen und sozialen Auseinandersetzungen eine Kolonialgesellschaft entstehen konnte, die zum Zeitpunkt der ersten russischen Revolution 1905 rassistische Züge entwickelt hatte (S. 137, 232f.). Die Kolonialgesellschaft beruhte auf dem Konsens der russischen Bewohner Taschkents, dass eine ebenbürtige politische Partizipation der indigenen Bevölkerung den Interessen der russischen Zivilisierungsmission zuwiderlief.

Nach einem Prolog, der die Rolle der Stadt Taschkent für die Wirtschaft und die politische Balance Zentralasiens vor der russischen Eroberung im Jahr 1865 beschreibt, legt Sahadeo im ersten Kapitel seines Buches „Ceremonies, Construction, and Commemoration“ dar, wie sich die Repräsentation imperialer Herrschaft im städtischen Raum entfaltete. Aus der ursprünglichen Militärsiedlung am Rand der muslimischen Altstadt entstand nach dem Vorbild St. Petersburgs ein ansprechendes Architekturensemble mit geraden Straßen, das „russische Taschkent“; aus einer improvisierten Empfangszeremonie für den ersten russischen Generalgouverneur in Turkestan, Konstantin von Kaufmann, entwickelten sich elaborierte Festrituale; aus einem informellen Gedenktag für die zwei Dutzend russischen Soldaten, die bei der Eroberung Taschkents gefallen waren, wurde ein offizieller Feiertag, den die russischen Einwohner seit 1886 mit einer religiösen Prozession quer durch die muslimische Altstadt begingen.

Die russischen Eliten und die Autoritäten aus der indigenen Gesellschaft bewegten sich in den offiziellen Zeremonien auf einem ausgeklügelten Machttableau, das eine Kolonialgesellschaft nach britischen und französischen Vorbildern darstellen sollte (S. 82-84). Im zweiten Kapitel „Educated Society, Identity, and Nationality“ beschreibt Sahadeo das Selbstempfinden, das sich innerhalb der russischen Elite Turkestans ausprägte. Dazu zeichnet er die Diskussionen der Intellektuellen Taschkents nach, die in Turkestan – weit entfernt von der Hauptstadt des Zaren – nach Möglichkeiten suchten, ihre Visionen von einer reformierten modernen Staatsverwaltung umzusetzen. Wie überall in Zentralrussland entwickelte sich auch hier ein Gegensatz zwischen den Staatsvertretern und der „Zivilgesellschaft“. Allerdings war die kritische Elite Taschkents klein und zudem größtenteils bei staatlichen Institutionen beschäftigt. Darum konnte sie ihre divergierenden Zukunftsvisionen für die Kolonialgesellschaft nicht ausleben oder überhaupt kontrovers diskutieren. Dies verhinderte jedoch keinesfalls die Entstehung eines „blühenden Vereinswesens“ in den 1880er- und 1890er-Jahren, mit der sich ein starkes regionales Identitätsgefühl verband (S. 64-68).

Doch gab es die Kolonialgesellschaft jenseits dieser deklarativen Selbstbeschreibungen auch im täglichen Zusammenleben? Die russische Elite, die in der Reformperiode der 1860er- und 1870er-Jahre Fortschritt, Moderne und Zivilisation auf ihre Fahnen geschrieben hatte, lebte in einem permanenten Gefühl von Bedrohung und Versagen, das durch die Abschottung von der indigenen Bevölkerungsmehrheit und den wachsenden Zustrom verarmter Flüchtlinge und bäuerlicher Siedler aus Zentralrussland verstärkt wurde. 1892 war das Schlüsseljahr, in dem die Spannungen zu gewaltsamen Konflikten führten. Im dritten Kapitel „The Colonial Relationship and the 1892 ‚Cholera Riot’“ widmet sich Sahadeo den Antagonismen, die zwischen der muslimischen Bevölkerungsmehrheit und den bäuerlichen Siedlern entstanden, die im Zuge des Hungers von 1891/92 aus Russland nach Zentralasien kamen.

Die Cholera-Unruhen der muslimischen Stadtbevölkerung gegen die Maßnahmen des „modernen“ Staates zur Seuchenbekämpfung im Juni 1892 blieben allerdings ein isolierter Zwischenfall im ansonsten weitgehend friedlichen Zusammenleben bis 1917. Gemeinsame wirtschaftliche Interessen, die wechselseitige Nutzung der russischen staatlichen oder der muslimischen religiösen Gerichtsbarkeit sowie die florierende Prostitution trugen dazu bei, ethnische Grenzen zwischen der russischen und indigenen Bevölkerung im alltäglichen Leben zu verwischen. Auch zwischen den Eliten aus Wirtschaft und Verwaltung auf beiden Seiten der Stadt intensivierte sich die Kooperation. Für die Politik galt dies allerdings nicht (S. 139). In den drei Kapiteln, die Sahadeo der Revolution von 1905 und ihren Nachwirkungen bis 1917 widmet („Migration, Class, and Colonialism“, „The Predicaments of ‚Progress’, 1905-1914“ und „War, Empire, and Society, 1914-1916“), wird deutlich, wie im Zuge der infrastrukturellen und wirtschaftlichen Erschließung Turkestans insbesondere die russischen Eisenbahnarbeiter dafür sorgten, dass ethnische Grenzen gezogen und gefestigt wurden.

So gewinnen Sahadeos Untersuchungskategorien Ethnizität, Geschlecht und Klasse besondere analytische Stärke, wenn er sich den armen Zuwanderern aus Russland als einer Gruppe zuwendet, die von der Elite Taschkents verabscheut wurde, weil ihr Verhalten deren nationalem Selbstverständnis und imperialer Zivilisierungsmission zuwiderlief. Die russischen „poor whites“ waren meistens bäuerlicher Herkunft, lebten in einem heruntergekommenen Stadtbezirk Taschkents und wiesen soziale Verhaltensweise auf, die als Symptome russischer Rückständigkeit angesehen wurden. Daher wurden 1883 zur Bewachung des russischen Stadtteils gezielt Muslime in die Miliz aufgenommen, weil sie als „friedlicher und disziplinierter“ galten als russische Polizisten (S. 112). Andererseits galten Russen als die besseren und zuverlässigeren Arbeiter, die gezielt angeworben und gut bezahlt wurden (S. 110f., 121).

Trotz der ablehnenden Haltung der Eliten gegenüber dem neuen Proletariat eigneten sich die Taschkenter Arbeiter einen Kernbestand elitärer Selbstbeschreibung an: die Demonstration des zivilisierenden Einflusses der Russen auf die indigene Bevölkerung. Mit ihrem Überlegenheitsgefühl grenzten sich die russischen Arbeiter ab und sorgten dafür, dass Einheimische keine Chance bekamen, sich in der Hierarchie der Fabriken und Eisenbahnwerkstätten hochzuarbeiten (S. 128, 134, 189). Sahadeo zeigt in den Kapiteln „Exploiters or Exploited? Russian Workers and Colonial Rule, 1917-1918“ und „’Under a Soviet Roof’: City, Country, and Center, 1918-1923“ eindringlich, wie fatal die Auswirkungen dieser Konstellation während der Revolutionen 1917 und im folgenden Bürgerkrieg waren. Die neuen revolutionären Herren der Stadt versuchten, die Gleichstellung der Einheimischen um jeden Preis zu verhindern. Nicht nur wurden Muslime aus den Sowjets ausgeschlossen und ihre Autonomiebestrebungen mit Waffengewalt unterdrückt, sondern der muslimischen Bevölkerung Taschkents wurde zudem die Getreideversorgung verweigert und sie wurde vom Rationierungssystem des Stadtsowjets ausgeschlossen. Während des Bürgerkriegs führte diese Politik der Ausgrenzung zu Hunderttausenden von Toten, als Turkestan von den Getreidelieferungen aus Zentralrussland abgeschnitten war und der Sowjetstaat in Gewalt und Terror versank.

Jeff Sahadeo hat eine Studie vorgelegt, die Stadtgeschichte, Arbeitergeschichte und die kulturgeschichtliche Analyse von Repräsentationen auf wunderbare Weise integriert. Es gibt in diesem Buch viel Neues zu entdecken. Bei der Frage allerdings, was das ‚Koloniale’ der russischen Kolonialgesellschaft in Taschkent war, bleibt er eine eindeutige Antwort schuldig. Dies mag einerseits daran liegen, dass die Biographien der Protagonisten ausgespart bleiben (wie die des Taschkenter Stadtoberhaupts N. G. Mallitski oder die von Arif Choja, dem reichsten und einflussreichsten muslimischen Repräsentanten Taschkents zwischen 1905 und 1918). Auch wird die sich wandelnde Bedeutung Zentralasiens im Zusammenhang des russischen Gesamtstaats nicht immer deutlich.2 Drittens wird die zunehmende Bedeutung der Baumwollwirtschaft oft erwähnt, aber nicht ausführlich dargestellt. Von diesem wirtschaftlichen Aufschwung profitierten nicht nur russische Unternehmen, sondern auch indigene Landbesitzer und Kaufleute. Russische Unternehmer wurden von der Regierung in St. Petersburg sogar aktiv daran gehindert, in Turkestan zu investieren.3 Die in Sahadeos Schlusswort konzidierte „confused nature of Russian colonialism“ (S. 233) maß sich immer an ihren europäischen Vorbildern. Doch sollte die elitäre Selbstbeschreibung auch zum Maßstab ihrer historischen Interpretation werden?

Anmerkungen:
1 Robert Crews, For Prophet and Tsar. Islam and Empire in Russia and Central Asia, Cambridge, MA, 2006, S. 241-292.
2 David Mackenzie, Turkestan’s Significance to Russia (1850-1917), in: Russian Review 33 (1974), S. 167-188.
3 Muriel Joffe, Autocracy, Capitalism and Empire. The Politics of Irrigation, in: Russian Review 54 (1995), S. 365-388.

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