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Titel
Politische Extreme. Eine Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart


Autor(en)
Backes, Uwe
Reihe
Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung, Band 31
Erschienen
Göttingen 2006: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
310 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Walter Reese-Schäfer, Lehrstuhl für politische Theorie und Ideengeschichte, Georg-August-Universität Göttingen

Lange glaubte man, Extremismus sei eine neuere begriffliche Konzeption, die ausweislich der gängigen Wörterbücher und Lexika frühestens Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden sei und keineswegs, wie die anderen tragenden politischen Begriffe von der Demokratie bis zur Tyrannis in die Antike zurückreiche. Nun gilt in der Begriffsgeschichte die Regel, dass ein politischer Begriff oft mehr als 50 Jahre vor seinem angeblichen Auftreten nachgewiesen werden kann. Uwe Backes vermag in seiner gründlichen und umfassenden Arbeit zu zeigen, dass die politischen Extreme schon ein Topos der frühen Kritik an der französischen Revolution waren, so bei Edmund Burke und Wilhelm von Humboldt. Vor allem aber geht Backes nunmehr, abweichend von seinen früheren Arbeiten, zur Mesoteslehre des Aristoteles zurück. Dessen Konzept der Mitte und der Mäßigung, von der aus auf beiden Seiten die Extreme zu bestimmen sind, führt in der Tat in den Kern der Begriffsbedeutung. Lehren von der goldenen Mitte galten in der Ideengeschichte oft als oberflächlich und flach. In der philosophischen Tradition wird immer wieder bemängelt, dass Aristoteles in der Nikomachischen Ethik keine wirkliche Begründung gegeben habe, warum etwa die Tapferkeit als Mitte zwischen den Extremen der Feigheit und der Tollkühnheit eine wirkliche Tugend sei, warum die Mischverfassung der Politie eine überzeugendere Lösung des politischen Problems sei als die Tyrannis auf der einen, die extreme Massendemokratie auf der anderen Seite. Backes macht deutlich, dass Aristoteles konsequent an die Evidenz, die Einsicht des Common sense appelliert und in diesem Sinne eine genuin politische Konzeption entwickelt.

Das Einhalten der richtigen Mitte galt für Aristoteles sowohl in der Individualethik als auch in der politischen Theorie als die klassisch griechische Lösung. Die Bestimmung der Mitte und daraus folgend auch die der Extreme, ist immer situationsabhängig – es gibt also keine übergreifende Definition. Das Mittlere ist in seinem Verständnis gerade nicht das Mittelmäßige, sondern das Beste und in diesem Sinne durchaus auch ein Äußerstes. Ihm war die Kontextabhängigkeit jeder Begrifflichkeit ein zentrales Anliegen, das er gegenüber seinen begriffsnaiven jungen Zuhörern immer wieder betonte. In der Politik benutzt Aristoteles eine soziologische Konzeption als Grundlegung: Diejenige Polis wird die stabilste sein, die über eine breite Bevölkerungsschicht mit mittleren Einkommen verfügt. Sobald die ganz Reichen oder die ganz Armen dominieren, besteht eine Gefahr für die Sicherheit. Politische Umwälzungen haben ihre Wurzeln im Verfehlen der richtigen Mitte.

Der Nachweis, dass zwar nicht das Wort selbst, aber die zugrunde liegende begriffliche Konzeption ihre Quelle in der griechischen Ethik des richtigen Maßes hat, scheint mir in diesem Buch überzeugend geführt und gelungen. Sowohl für den Republikanismus der italienischen Stadtstaaten als auch für die Verfassungsentwicklung der USA und Großbritanniens gilt, dass hier immer wieder die Mitte zwischen der despotischen Willkür des Einzelnen und dem anarchischen Wüten der Massen gesucht wurde. Hier konnte die Herausbildung der Begriffe „rechts“ und „links“ anknüpfen, und diese seit der französischen Revolution zentrale Unterscheidung hat implizit die Bedeutung der dazwischen liegenden Mitte weitertransportiert.

Ein regelrechtes Schlagwort wurde der Begriff des Extremismus allerdings erst ab der Oktoberrevolution, zunächst für die extreme Linke, mit Mussolinis Marsch auf Rom aber auch für den Faschismus. Die Perspektive des Konstitutionalismus ist bei der Verwendung des Extremismusbegriffs meist mitgedacht. Allerdings ist dies nicht zwingend, da es sich letztlich auch um einen technischen Begriff handelt, denn die Extreme hängen von der Bestimmung der „Mitte“ ab. Backes hat mit einem gewissen Sinn für die damit verbundenen Ironien Stellen aus den Tagebüchern von Joseph Goebbels aufgelistet, wo dieser sich gegen Extremisten in der eigenen Partei wendet, nämlich jene, die über die von oben vorgegebene Linie hinausschießen wollen. Auch die SED kannte Links- und Rechtsabweichungen von ihrer Generallinie, allerdings überwiegt hier der alte Leninsche Terminus des Linksradikalismus (als Kinderkrankheit des Kommunismus). Radikalismus und Extremismus wurden in der politischen Sprache der zweiten deutschen Diktatur nicht differenziert.

Dies geschah dann aber in der politischen Sprache der offiziösen Bundesrepublik, denn hier wurde bald klar: Im Vergleich zum Radikalismus ist Extremismus das weiter zurückreichende und überzeugendere begriffliche Konzept. Der Radikale könnte ja recht haben, während der Extremist immer vom vernünftigen mittleren Weg abweichen will. Backes vermag überzeugend zu zeigen, wie die Differenzierung zwischen verwerflichem Extremismus und im Kern zu akzeptierendem Radikalismus in den 1970er-Jahren in die offizielle Sprache der deutschen Verfassungsschutzberichte aufgenommen wurde, besonders auf Initiative des damaligen Bundesinnenministers Werner Maihofer. Nicht jede Form linker Grundsatzkritik sollte ins Abseits gerückt werden, zumal immer wieder betont wurde, dass nach Artikel 15 des Grundgesetzes theoretisch ja die Vergesellschaftung der Produktionsmittel mit einfacher Mehrheit des Bundestages beschlossen werden könnte. Der Kernbestand der freiheitlich demokratischen Grundordnung dagegen bestimmt sich eher aus Artikel 20 des Grundgesetzes. Die von Maihofer eingeführte Differenzierung wurde von allen späteren Innenministern bis zu Otto Schily und Wolfgang Schäuble beibehalten und in den Verfassungsschutzberichten immer wiederholt. Z.B. heißt es im Verfassungsschutzbericht des Jahres 1999, dass radikale politische Auffassungen, insbesondere Kapitalismuskritik, einen legitimen politischen Platz beanspruchen könne. Extremismus dagegen sei davon zu unterscheiden, weil dieser sich gegen den Kernbestand der Verfassung, nämlich die freiheitlich-demokratische Grundordnung richte.

Am Schluss des Buches versucht sich Uwe Backes in einer definitorischen Begriffsbestimmung, die in gewisser Weise unvermeidbar ist, weil es sich letztlich um justiziable Tatbestände und Unterscheidungslinien handeln muss: Welche Organisation gilt als extrem, sollte also vom Verfassungsschutz beobachtet werden, und welche artikuliert nur radikale Gedanken und sollte gerade unter dem besonderen Schutz des Grundgesetzes stehen? Wirklich überzeugen können die vorgelegten Definitionsversuche jedoch nicht. Den Grund dafür hat Uwe Backes auf mehr als zweihundert Seiten überzeugend entwickelt: Wenn man mit der Mesoteslehre als Grundkonzeption operiert, dann verschieben sich die Extreme mit jedem Wandlungsprozess der „Mitte“. Die Definition der Extreme andererseits gibt dann aber auch einen Aufschluss, wie eine Gesellschaft sich zentriert, wo ihr wirklicher politischer Bedeutungskern liegt. Hier können und sollten internationale Vergleiche anschließen, denn die Arbeit von Backes stellt bis zum Beginn der französischen Revolution die umfassende Bedeutungsgeschichte des Extremismus dar, beschränkt sich danach aber auf nur kursorische Ausblicke über die deutschen Grenzen in die Nachbarländer. Konzeptionen der „Mitte“ in den verschiedenen asiatischen Denktraditionen bleiben vollkommen ausgespart, so dass auch hier weiterer Forschungsbedarf zu konstatieren ist.

Uwe Backes hat in dieser umfassenden begriffsgeschichtlichen Arbeit einleuchtend klargemacht, dass dem Begriff des Extremismus sehr viel eher die Rolle einer Schlüsselkategorie zukommen sollte als konkurrierenden Begriffen wie Radikalismus, Totalitarismus oder Fundamentalismus, weil sich vom Extremismusbegriff her auch die „Mitte“ des Verfassungsstaates bestimmt.

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