L. Kuchenbuch u.a. (Hrsg.): Textus im Mittelalter

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Titel
'Textus' im Mittelalter. Komponenten und Situationen des Wortgebrauchs im schriftsemantischen Feld


Herausgeber
Kuchenbuch, Ludolf; Kleine, Uta
Reihe
Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 216
Erschienen
Göttingen 2006: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
453 S.
Preis
€ 66,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Brauer, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Die Frage „Sind mediävistische Quellen mittelalterliche Texte?“ umreißt das Erkenntnisinteresse des von Ludolf Kuchenbuch und Uta Kleine herausgegebenen Sammelbandes „’Textus’ im Mittelalter“.1 Für die 2001 am Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen abgehaltenen Tagung waren zwei Aspekte leitend: Erstens das Unbehagen am unscharfen, modernen Begriffsgebrauch, den man auf das Mittelalter appliziert, ein Gebrauch, der sich darin ausdrücke, „daß man alle Sinnmanifestationen Texte nennt, daß man fordert, alles in (s)einem Kontext zu sehen, daß man auf Textualität als Prinzip geistiger Komplexität pocht“ (S. 7); zweitens die Feststellung, dass im Mittelalter nicht alles textus genannt wurde, was man heute Schriftquelle nennt. Da kein mittelalterlicher Diskurs über textus bestand, sollten stattdessen in den 15 Beiträgen einzelne Überlieferungssituationen, genauer: Schriftgut-Typen bzw. Gattungen nach Sinnkomponenten und Gebrauchssituationen durchleuchtet werden – Dokumente sollten zu „geistige[n] Tatorte[n]“ werden (S. 11).

Die Herausgeber haben die Tagung in einem ungewöhnlichen Maße konzeptionell vorbereitet und in einem abschließenden Beitrag ausgewertet, der den Forschungsstand, Abstracts der Beiträge und eine chronologische Begriffsgeschichte von textus im Mittelalter bietet – und dadurch den Einstieg in die schwierige Materie fast noch verkompliziert. Denn anstatt der ursprünglichen Anordnung der Referate nach Gebrauchsfeldern haben sich die Herausgeber für eine chronologische Reihung entschieden, die zunächst den Eindruck von beliebig gewählten Gattungsstudien hinterlässt und die gegenseitige Zuordnung der Beiträge erschwert. Es wäre wohl besser gewesen, die chronologische Auswertung voranzustellen und die systematische Ordnung beizubehalten. Der begriffsgeschichtliche Ertrag soll jedenfalls hier am Anfang stehen.

Der begriffliche Ursprung von ‚Text’ liegt in der Antike, wie Beate Wagner-Hasel in ihrem Beitrag herausstellt. Textus kommt vom Verb texere – weben/flechten, bedeutet also Gewebe/Geflecht und wurde von römischen Autoren immer nur metaphorisch für die Rede (oratio) verwendet. Diese Übertragung war von den Griechen inspiriert, die das Substantiv hýphos – Gewebe und hyphaínein – weben bereits auf andere Bereiche übertragen hatten. Konnte man bei Homer noch Worte, Listen und Pläne weben, und verstand Platon die Regierungskunst als Webkunst, so ist in Rom der Gebrauch eindeutig mit Schreiben verbunden.

Zwischen dem 3. und 5. Jahrhundert kommt die Gewebemetaphorik in der biblischen Auslegungsliteratur auf, um die divina scriptura zu bezeichnen. Dabei entwickelt sich folgendes Grundphänomen: „Das Pergament gewordene Schriftwort Gottes wird im codex seßhaft, gerinnt zum kodikotopen textus (latinus), wird zugleich aber nur viva voce präsentiert, geglaubt und als Heilsgewebe verstanden“ (S. 437). Im Rahmen der karolingischen Renaissance tritt hinzu der textus als sakraler Gegenstand (Kodex oder Volumen), der geschenkt, gestiftet oder versandt wird. Außerdem ist ein breiter Gebrauch außerhalb der Theologie auszumachen in der Hagiografie, in Papstbriefen, in Ordensregeln und in der Dichtkunst – textus ist hierbei immer normativ, kommt als Vorschrift, Regel oder Vorbild daher. Eine Zäsur stellt dann die Scholastik dar, in der – angefangen von der Neuordnung der Buchstaben, des Schriftwerkes und seiner Teile mit Hilfe von Ordnungsmitteln – neue Denkformen entstehen. Zentral ist hier die Entwicklung der Standardseite, auf der ein Schriftblock, genannt textus, von Teilen mit kleinerer Schrift, genannt glossa, umgeben wird. Sichtbar ist hier der autoritative textus der Vulgata, des römischen und kanonischen Rechts abgesetzt von seinem Kommentar. Der Text ist nicht mehr an die Seite gebunden, sondern auf andere Schriftstücke übertragbar. Auch die Formierung des Autors, ist in diesem Zusammenhang greifbar. Im Spätmittelalter wird das scholastische Prinzip auf andere Quellengattungen wie etwa das Recht übertragen.

Was, so muss gefragt werden, ist hieran neu? Und hat sich der Aufwand für diesen Ertrag gelohnt? In den von den Herausgebern herangezogenen begriffsgeschichtlichen Studien ist die Kernbedeutung als Corpus oder Wortlaut der Heiligen Schrift (Clemens Knobloch) sowie Bezeichnung für den Evangelienkodex und die Materialität seiner Schriftzeichen (Maximilian Scherner) bereits genannt.2 Insofern besteht das Neue wohl darin, den Prozess der Kanonisierung durch Kommentierung und der dadurch überhaupt erst einsetzenden Textwerdung an nichttheologischen Schriftgattungen etwa der Philosophie und des Rechts aufgewiesen zu haben. Dieser Befund ist allerdings nur defizitär, wenn man der Begriffsgeschichte an sich eine überragende Rolle zumisst und die Einzelbeiträge zu Bausteinen für diese „Pyramiden des Geistes“ (Hans Ulrich Gumbrecht) reduziert.3 Das eigentlich Überraschende und Innovative am Thema zeigt sich erst bei einer stärker an Gebrauchssituationen orientierten Historischen Semantik, die einige Autoren praktizieren.

So erschließt die Suche nach textus und texere für Hedwig Röckelein die literarische Werkstatt des Hagiografen, der sich selbst als textor – Weber sieht. Dabei wird die Lebensgeschichte des Heiligen vom Hagiografen zu einem textus verwoben, aus gesta wird eine relatio oder narratio. Genauso wie Buchstaben und Wörter sind auch die unterschiedlichen Berichte über die Taten des Heiligen Rohstoffe für das hagiografische Gewebe. In den gleichen Metaphern wird die Ordnung des Textes, die gebundene oder ungebundene Rede und der Stil reflektiert. Dabei treten für Röckelein die webenden Hagiografen neben andere Handwerker wie Weber und Goldschmiede. So wie deren Reliquiare den Heiligen umhüllen und schmücken, soll auch die Hagiografie ihrem Inhalt, dem Heiligen, gerecht werden, ihn vor dem Vergessen schützen.

Ganz der Materialität von textus gewidmet ist der Beitrag von Thomas Lentes. Ausgehend von dem Befund, dass ab dem 11. Jahrhundert das Evangeliar in der Messe erst textus evangelii und dann ausschließlich textus genannt wird, bestimmt er das Evangeliar als Teil der Heilsmedien der Messe und als zeichenhafte Verkörperung Christi. In der Messe wird dieser materielle Textkörper als Vertretung Christi inszeniert, so beim Adventus und beim Kuss. Er ist das Korrelat des Altars, der sein Ort in der Liturgie ist. Die Bedeutung des Evangeliars erstreckte sich allerdings nur auf den Wortgottesdienst oder die Vormesse und nicht auf die Opfermesse, so dass im Spätmittelalter, als die Opferfeier zentral wurde, der Kodex gegenüber dem Evangeliar zum Gegenstand der Verehrung wurde, der den Ritus enthält, nämlich das Missale.

Zwei Beiträge befassen sich mit Überschneidungen von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, die die Vorstellung vom Zusammenhang von Schrift und Fortschritt konterkarieren. Bernd Michael stellt gegen ältere Arbeiten Mündlichkeit als Norm mittelalterlicher universitärer Kultur und Lehre heraus. So dienten Quaestio und Lectio der Einübung eines argumentierenden Redestils bzw. der mündlichen Wissensaufnahme. Allerdings standen bei der Lehre Textbücher im Zentrum, die mit Hilfe von Kommentaren autorisiert und kanonisiert wurden. Für Michael stehen diese mündlichen und schriftlichen Strategien nicht im Widerspruch, sondern erklären sich aus der universitären Pädagogik als „mündlich vermittelte[r] Buchwissenschaft“ (S. 189), die das biblische Modell von Buch und Exegese übernimmt: Danach gilt die Bibel als schriftliche Inkarnation des gesprochenen Wortes, und der heilige Text muss durch Logik und Grammatik erschlossen werden. Simon Teuscher widerspricht der modernen Sicht, dass Gewohnheitsrecht immer aus der Verschriftlichung früherer mündlicher Überlieferungen entsteht, durch die „Archäologie“ eines Fallbeispiels, des spätmittelalterlichen Plaict aus Lausanne. Der ersten Fassung, einer Urkunde von 1368, folgen verschiedene, sich ablösende Traditionsbildungen. Während die erste Stufe noch eine schriftliche Tradition konstruiert, wird in den nächsten Stufen ein mündlicher Ursprung postuliert. Dieser Befund erklärt sich wahrscheinlich durch das Nebeneinander verschiedener Versammlungsformen in Lausanne, von denen eine durch die Behauptung gestärkt werden sollte, dass auf ihr dieser wichtige Rechtstext beschlossen wurde.

Sollte man, wie Kuchenbuch und Kleine am Ende dieses ambitionierten Tagungsbandes mit Beiträgen auf unterschiedlichem Niveau fordern, den modernen Begriff ‚Text’ fortan bei der Untersuchung mittelalterlicher Schriftstücke zu vermeiden? Mediävisten müssen nicht nur mit anderen Experten ihrer Epoche kommunizieren, sondern auch mit den anderen Epochen ihres Faches Geschichte, Literaturwissenschaft usw. Und so besteht die Gefahr, nicht mehr gehört zu werden, wenn man sich von vornherein auf Quellenbegriffe oder Ausweichbegriffe wie ‚Dokument’ und ‚Schriftstück’ bezieht. Ist es nicht viel subtiler, das Fach über den unscharfen Terminus ‚Text’ ins Gespräch zu ziehen und den Begriff nachträglich zu verfremden?

Anmerkungen:
1 Vgl. Kuchenbuch, Ludolf, Sind mediävistische Quellen mittelalterliche Texte? Zur Verzeitlichung fachlicher Selbstverständlichkeiten, in: Goetz; Hans-Werner (Hrsg.), Die Aktualität des Mittelalters, Bochum 2000, S. 317-354.
2 Vgl. Knobloch, Clemens, Zum Status und zur Geschichte des Textbegriffs. Eine Skizze, in: Lili. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 20 (1990), S. 66-87; Scherner, Maximilian, „Text“. Untersuchungen zur Begriffsgeschichte, in: Archiv für Begriffsgeschichte 39 (1996), S. 103-160; Ders., Art. „Text“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10 (1998), Sp. 1038-1044.
3 Gumbrecht, Hans Ulrich, Pyramiden des Geistes. Über den schnellen Aufstieg, die unsichtbaren Dimensionen und das plötzliche Abebben der begriffsgeschichtlichen Bewegung, in: ders., Dimensionen und Grenzen der Begriffsgeschichte, München 2006, S. 7-36.

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