Cover
Titel
The Prison and the Gallows. The Politics of Mass Incarceration in America


Autor(en)
Gottschalk, Marie
Reihe
Cambridge Studies in Criminology
Erschienen
Anzahl Seiten
451 S.
Preis
€ 21,56
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jürgen Martschukat, Lehrstuhl Nordamerikanische Geschichte, Universität Erfurt

Wenn, wie wir bei Michel Foucault oder auch David Garland erfahren können, die Bestrafung eines Bürgers durch den Staat mit einem Krieg in Miniatur vergleichbar ist, dann führen die Vereinigten Staaten seit etwa vierzig Jahren einen massiven Krieg mit sich selbst. Marie Gottschalk, Politologin an der University of Pennsylvania, zieht diesen Vergleich auf den letzten Seiten ihres Buches über “the politics of mass incarceration in America,” einer außergewöhnlich anregenden Studie, die die gegenwärtige Strafpolitik der USA in historische und vergleichende Perspektiven rückt und dabei bisweilen mit überraschenden Wendungen und Interpretationen aufwartet.

Derzeit befinden sich fast sieben Millionen Menschen unter der Aufsicht US-amerikanischer Strafbehörden, und rund zwei Prozent der erwachsenen US-Bevölkerung leben hinter Gittern. Im Jahr 2001 stiegen die Ausgaben für die Strafjustiz auf die Rekordhöhe von 167 Milliarden Dollar, was in etwa dem Betrag entspricht, der für die Gesundheitsversorgung aufgewendet wird. Die Politik des Regierens über Einsperrung hat insbesondere seit den 1970er-Jahren an Dynamik gewonnen. Marie Gottschalk jedoch geht weit dahinter und stellenweise zurück bis zur Formierung der Vereinigten Staaten, um die hier am Werk befindlichen politischen und historischen Kräfte aufzuspüren. Mit Blick auf die Zeitgeschichte wendet sie sich zudem nicht nur den wachsenden konservativen Strömungen der letzten Dekaden zu, um die „Politik der massenhaften Einsperrung“, deren Ausmaß und vor allem die vergleichsweise schwache politische Gegnerschaft erklären zu können. Vielmehr zeigt sie darüber hinaus, wie auch verschiedene liberale Reformbewegungen und deren Agenden zu Aufstieg und Implementierung der harschen Strafpolitik beitrugen.

Die gesellschaftlichen Reformbewegungen, die in den 1960er- und 1970er-Jahren ihren Anfang nahmen, verleihen dem Buch auch das strukturelle Gerüst. Da wären auf der einen Seite die feministische Bewegung und die Bürgerrechtsbewegung als grundlegende gesellschaftlich verändernde Kräfte zu nennen. Auf der anderen Seite stehen die Gefängnisreformbewegung und die Opposition gegen die Todesstrafe, die beide spezifischer und auf das Verhältnis von Strafe, Staat und Bürger ausgerichtet waren. Gottschalk betont, dass diese Liste wirkmächtiger Faktoren keineswegs erschöpfend ist. Vor allem hebt sie hervor, dass sie keinesfalls das Ziel verfolgt, die verschiedenen liberalen Reformgruppen für das Aufkommen des Haftstaates verantwortlich zu machen. Gleichwohl will sie zeigen, dass die standardisierten Erklärungen für die Politik der Einsperrung – also eine wachsende Verbrechensrate, Veränderungen in der öffentlichen Meinung, der Kampf gegen Drogen, die Verquickung von Gefängnissen und Industrie, die Veränderungen der amerikanischen politischen Kultur sowie „Recht und Ordnung“ als Trumpfkarte konservativer Politik – zwar ohne Zweifel wichtig, aber keineswegs hinreichend sind. Sie ergänzt dieses Bild, indem sie zeigt, wie diverse soziale, kulturelle und politische Kräfte sich zu einer wirkmächtigen Mixtur verbinden und zu bisweilen unerwarteten Ergebnissen führen.

Der analytische Teil der Studie beginnt mit Kapiteln, die die kulturelle und institutionelle Vorgeschichte der heutigen Strafpolitik aufzeigen und bis zur Amerikanischen Revolution und zur Frühen Republik zurückführen. Außerdem verleiht Gottschalk ihren Ausführungen im Laufe ihrer Studie nicht nur historische, sondern auch geografische und kulturelle Breite. Dabei berücksichtigt sie nicht nur die Vielfalt der Gesellschaftsformationen innerhalb der Vereinigten Staaten, sondern sie vergleicht die Transformationen in den USA auch immer wieder mit denen verschiedener europäischer Länder. Gottschalk führt ihre Leserinnen und Leser zurück bis zur Amerikanischen Revolution und in die Zeit der Frühen Republik. Sie betont, dass das Gefängnis Teil einer neuen Strafratio war, die eigentlich darauf ausgerichtet war, die strafende Gewalt des Souveräns zu beschränken und neue Institutionen einzurichten, die die Straftäter zurück auf den Pfad republikanischer Tugend führten. Zugleich bestand im Süden die Sklaverei als ultimative Verkörperung eines souveränen Herrschaftsprinzips fort. Das Konzept des Verbrechens war eng an Rasseentwürfe gekoppelt, was die Verfestigung rehabilitativer Ideale weiter erschwerte. Mit dem Ende der Sklaverei etablierte sich im Süden das System der Gefangenenverpachtung, das bis in die 1920er-Jahre ein zentraler Faktor in der politischen und ökonomischen Existenz des Südens blieb. So unterschiedlich die beiden Elemente, also das Ideal des Gefängnisses auf der einen Seite und die Fortexistenz der Sklaverei und eines rassistisch diskriminierenden Strafwesens auf der anderen Seite, auch waren, so trugen sie doch nach Gottschalk beide dazu bei, dass „Haft“ zu einem zentralen Faktor in der historischen Entwicklung der US-Gesellschaft wurde.

Mit Blick auf das frühe 20. Jahrhundert verweist Gottschalk auf die Prohibition und die Entfaltung des organisierten Verbrechens als wesentliche Anstöße für Reformgruppen und Politiker, nach Recht und Ordnung zu rufen. Außerdem richtet sie ihre Aufmerksamkeit auf das „Geschrei“ um die Prostitution, den angeblich organisierten Mädchenhandel und die sexuelle Ausbeutung junger Frauen in den Dekaden um 1900. Das Gleiche gilt für die Jugenddelinquenz nach dem Zweiten Weltkrieg und in den 1950er-Jahren. Die Breite der von Gottschalk angesprochenen Themen signalisiert, dass in den USA immer wieder Kreuzzüge und politische Kampagnen gegen Prostituierte, Pornographen, Schwarzbrenner, Jugenddelinquenten und viele andere geführt wurden, die langfristig dazu beigetragen haben, eine Strafratio zu etablieren, die das Regieren über Einsperren beförderte. Was sich dann ab den 1960er-Jahren veränderte, war weniger, dass Politiker nun „Recht und Ordnung“ als brandneues politisches Thema entdeckten, sondern viel mehr die Intensität und die Art und Weise, in der sie diese Karte spielten.

Ein Element, das massiv zur Konsolidierung des Gefängnisstaates ab den 1960er-Jahren beitrug, war der Ruf nach Opferrechten, der sich in gewisser Hinsicht in eine US-amerikanische politische Tradition einfügt, die auf die Anerkennung individueller wie kollektiver Rechte ausgerichtet ist. Zugleich muss man festhalten, dass Fragen von Verbrechen und Opferrechten auch in verschiedenen europäischen Ländern in den 1950er- und 1980er-Jahren vermehrte Aufmerksamkeit erfuhren, sie aber letztlich als Teil wohlfahrtsstaatlicher Verantwortung definiert wurden. Im Gegensatz dazu wuchsen in den USA die Zahl und der Einfluss diverser Interessengruppen, die Opferrechte auf der politischen Agenda etablierten und damit dazu beitrugen, diese als wesentliches Element in der staatlichen Strafpolitik zu verankern. Staatliche Institutionen wie etwa die „Law Enforcement Assistance Administration“ des Justizministeriums trieben während der 1970er-Jahre die Forschung zum Verhältnis von Verbrechen und Viktimisierung voran. Letztlich, so Gottschalk, waren US-amerikanische Regierungen auf den verschiedenen Ebenen durch ihre politische Struktur, den vergleichsweise wenig ausgeprägten Wohlfahrtsstaat und eine dynamische Opferbewegung äußerst empfänglich für Rufe nach harter Strafe.

Die Anerkennung des Opfers und der Ruf nach strenger Bestrafung waren ebenfalls von eminenter Bedeutung in zahlreichen feministischen Gruppierungen und der Bewegung gegen sexuelle Gewalt – und dies sind für gewöhnlich nicht die üblichen Verdächtigen in Debatten über harsche Strafpolitik, wie Gottschalk hervorhebt (S. 115). Gleichwohl führt sie überzeugend aus, wie der feministische Kampf gegen Vergewaltigung und häusliche Gewalt Verbündete unter den politischern Vertretern von „Recht und Ordnung“ fand, hinter denen in der Regel konservative Interessengruppen standen. Während also die feministische Bewegung gegen sexuelle und häusliche Gewalt auf der einen Seite eine längst überfällige Sensibilisierung in Öffentlichkeit, Politik und Justiz erreichte, ging sie andererseits Koalitionen mit konservativen Gruppierungen ein und trug zur Verschärfung des punitiven Klimas bei.

Gleichermaßen rief der Kampf gegen sexuelle Gewalt nolens volens rassistische Stereotype auf, die spätestens seit dem Bürgerkrieg und dem Ende der Sklaverei fest in der US-amerikanischen Kultur und Gesellschaft verankert waren. Bis die afroamerikanische Bürgerrechtsbewegung an Dynamik und Breitenwirkung gewann, galt Vergewaltigung in den USA weithin als das prototypische Verbrechen des „schwarzen Mannes“. Zugleich waren die absolute Zahl wie auch der Anteil schwarzer Männer an den Gefängnisinsassen seit den 1920er-Jahren kontinuierlich angestiegen. Im Jahr 1989 war zum ersten Mal in der US-Geschichte die Mehrheit der Häftlinge schwarz, und dies, obgleich die Bürgerrechtsbewegung rassistische Diskriminierung im Justizwesen über Dekaden konstant und konsequent bekämpft hatte. Gottschalks Darlegungen nehmen abermals eine überraschende Wendung, wenn sie verdeutlicht, wie die Bürgerrechtsbewegung den Opferdiskurs bekräftigte, indem sie öffentliche Aufmerksamkeit auf die sozialen, kulturellen und ökonomischen Benachteiligungen lenkte, die schwarze Männer (die zunächst im Blickpunkt der Betrachtung standen) im Verlauf der US-Geschichte erfahren hatten. Sie wurden damit als Opfer ihres Umfeldes gezeichnet. Mit Blick auf die schwarzen Strafgefangenen verfestigte dies eine Perspektive des Täters als Opfer, die seit den 1960er-Jahren sowohl durch die kriminologische Theorie als auch durch die Gefängnisreformbewegung bestärkt wurde, die sich auch auf zahlreiche Schriften schwarzer Revolutionäre wie Eldridge Cleaver oder George Jackson stützte. Folglich kämpften unterschiedliche Gruppierungen um die Ankerkennung ihres Opferstatus, was zu einer insgesamt noch größeren Dynamik der US-amerikanischen Opferbewegung führte.

In den letzten beiden Kapiteln ihres Buches diskutiert Gottschalk die neuere Geschichte Todesstrafe in den USA seit den 1970er-Jahren und somit einen Gegenstand, der in einer Abhandlung der US-amerikanischen Strafpolitik von zentraler Relevanz ist. Gottschalk betont, dass die gegenwärtig außergewöhnliche Haltung der USA im Vergleich zu Europa hinsichtlich der Todesstrafe kaum durch langfristige historische und kulturelle Traditionen hinreichend erklärt werden kann. Erstens entfalteten sich seit der Gründung der Republik in zahlreichen US-Staaten starke Bewegungen gegen die Todesstrafe, die bisweilen auch Erfolge zeigten. Zweitens hat auch die Europäische Union erst in den 1980er-Jahren eine konsequent abolitionistische Position gegen die Todesstrafe bezogen und diese zu einer menschenrechtspolitischen Angelegenheit gemacht. Allerdings haben die Todesstrafengegner in den USA der 1960er- und 1970er-Jahre gegen „capital punishment“ agiert, indem sie immer wieder Einzelfälle aufgriffen, die Fairness der Verfahren und des Rechtssystems in Frage stellten, aber nicht die Todesstrafe als solche als ultimativen Rechtsbruch anprangerten. Als dann der Oberste Gerichtshof in den 1970er-Jahren zunächst die Todesstrafe verbot und dann vier Jahre darauf wieder zuließ, argumentierte er sowohl in Furman vs. Georgia 1972, der die Todesstrafe für verfassungswidrig erklärte, als auch in Gregg vs. Georgia 1976, der dann wieder die Verfassungskonformität der Todesstrafe feststellte, mit den etablierten „Standards der Schicklichkeit“ und der öffentlichen Meinung. Dadurch wurde die Todesstrafe auch zu einer Angelegenheit des Volkswillens erklärt. Gottschalk stellt zwar keine unmittelbar kausale Verknüpfung zwischen dem Gregg-Urteil und der dann folgenden Entwicklung der Todesstrafe in den 1980er-Jahren zur ultimativen Form der Opferanerkennung her, argumentiert aber überzeugend, dass beide Elemente innerhalb eines Diskurses funktionieren und öffentliche Stimmungslagen als bedeutsam für die Gestaltung des Strafsystems anerkennen.

Gottschalk verdeutlicht weiterhin, dass auch der in den 1990er-Jahren folgende Kampf um die Todesstrafe auf vielschichtige und bisweilen indirekte Art und Weise zur Herausbildung des Einsperrungsstaates beitrug. Die Anerkennung von Haft ohne Chance auf Bewährung als adäquate Alternative zur Todesstrafe von Seiten so mancher Reformer und Todesstrafengegner stärkt Einsperrung als Konzept wie als konkrete Strafform weiter. Darüber hinaus bekräftigte die Wiedereinführung und Konjunktur der Todesstrafe vor allem während der 1990er-Jahre auch die Vorstellung, Verbrechen und Strafen seien ein Nullsummenspiel für Opfer und Täter – eine Perspektive, die für eine punitive Kultur und Gesellschaft zentral ist.

Marie Gottschalks Buch ist vielschichtig, und in seinen bisweilen überraschenden Wendungen argumentiert Gottschalk überzeugend. Sie verschränkt historische Beobachtungen mit einer Analyse der Gegenwart. Dabei wendet sie sich sowohl den großen Linien als auch den Nuancen zu, und sie zeigt uns, wie institutionelle und politische Konstellationen, die uns für die Erklärung der US-amerikanischen Gefängnispolitik vertraut erscheinen, Hand in Hand mit den Aktivitäten verschiedener Interessengruppen und sozialer Bewegungen gingen, die für gewöhnlich nicht mit Verbrechen, Strafen und Staat assoziiert werden. Als Defizit der Studie mag erscheinen, dass die Struktur und die Bedeutung religiöser Kräfte für die Herausbildung des Strafsystems in ihren Betrachtungen überhaupt keine Rolle spielen. Vielleicht kann diese Leerstelle in der Unersuchung andere dazu anregen, Gottschalks Arbeit fortzuführen und das Verhältnis von Religiosität und den Facetten der US-amerikanischen Strafpolitik genauer zu ergründen.

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