J. Ilg u.a. (Hrsg.): Theatergeschichtsschreibung

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Titel
Theatergeschichtsschreibung. Interviews mit Theaterhistorikern


Herausgeber
Ilg, Jens; Bitterlich, Thomas
Erschienen
Anzahl Seiten
194 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Skadi Riemer, Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ Leipzig

Die beiden Leipziger Theaterwissenschaftler Jens Ilg und Thomas Bitterlich sind Vorsitzende des Vereins spectaculum e.V., der sich 2002 mit dem Ziel gründete, die Kommunikation zwischen Theaterpraxis und den Bereichen ihrer wissenschaftlichen Reflexion zu fördern. Neben dem Informationsdienst „Theaterforschung“1 ist der vorliegende Band ein Ergebnis der Arbeit im Rahmen dieses Projekts. Den Autoren geht es um die Sammlung von gegenwärtigen theaterhistoriografischen Positionen. Aus diesem Anlass haben sie zehn Theaterhistoriografen unterschiedlicher Generationen und fachlicher Schwerpunkte ausgewählt und mit ihnen zwischen Juni 2003 und Juli 2005 jeweils ein Interview geführt. Die Fragen zielen zum einen auf die Herausarbeitung des theaterhistoriografischen Selbstverständnisses der Befragten und konfrontieren sie zum zweiten mit verschiedenen methodologischen Forschungsansätzen, um diese zur Diskussion zu stellen.

Die Autoren haben einen Katalog von circa zehn Fragen ausgearbeitet, der das Verständnis und die Notwendigkeit von Theatergeschichtsschreibung umkreist, historiografische Darstellungsprinzipien zur Diskussion stellt, nach dem Umgang mit Definitionen von „Theater“ und dem Wert von Dokumenten als Basismaterial der Forschung fragt, die Differenz zwischen theoretischem Ansatz und wissenschaftlicher Methode erörtern möchte und schließlich auf die Benennung von Forschungsdesideraten zielt.

In den wichtigen Fragen der Theatergeschichtsschreibung herrscht in der Fachwelt überwiegend Einigkeit. Das betrifft zunächst die Frage nach der grundsätzlichen Anlage des Faches. Nahezu alle Autoren präferieren einen problemorientierten Ansatz und halten Überblicksdarstellungen, die auf Kontinuität einer Entwicklung abzielen, für höchst problematisch. Am vehementesten vertritt das die Berliner Professorin und Geschäftsführerin des Instituts für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin Erika Fischer-Lichte: „Die Schwierigkeit […] liegt vor allem darin, dass sich eine Linearität der Entwicklung nicht annehmen lässt.“ (S. 75) Ausgehend von diesem poststrukturalistisch orientierten Geschichtsmodell hält sie jede Form von „erzählender“ Theatergeschichte für problembehaftet: „Jede Art von Theatergeschichtsschreibung ist eine bestimmte kulturelle Konstruktion, die im Lichte der Fragestellung, die ich habe, vorgenommen wird. Ohne eine Fragestellung geht überhaupt nichts.“ (S. 76)

Neben dieser konstruktivistischen Grundannahme, die stets die Reflexion des eigenen Standpunktes einschließt, herrscht weitestgehend Einigkeit zu der Frage nach dem „Ursprung“ von Theater. Christopher Balme, seit 2006 Professor am Münchner Institut für Theaterwissenschaft und einer der wenigen, deren Forschungsgebiete über die europäische Perspektive hinausreichen, hält wenig von einer Idee des Ursprungs von Theater: „Ursprung ist etwas sehr Abendländisches.“ (S. 118) Geradezu empört reagiert Fischer-Lichte: „Was ist denn das für eine Frage? …Wie können Sie vom Ursprung des Theaters sprechen?“ (S. 81)

Die Abkehr vom Ursprungsdenken führt geradewegs zu einem kulturgeschichtlichen Modell, das Theater immer in Abhängigkeit vom gesellschaftlichen Kontext betrachtet. Auch hierüber besteht weitestgehend Einigkeit. Theo Girshausen, dessen Vertretung in diesem Band aufgrund seines Todes im vergangenen Jahr besonderen Wert erhält, sieht in diesem Zusammenhang die zentrale Aufgabe seines Faches: „Man müsste wirklich an die zentralen Punkte kommen, an denen Theater in der europäischen Kulturgeschichte kulturbildend funktioniert hat. Das wäre das Interesse.“ (S. 23) Definitionen, die auf das vermeintliche „Wesen“ von Theater zielen, sind für ihn – wie für die Mehrzahl der Befragten – unbrauchbar.

Der Leiter des Theaterwissenschaftlichen Instituts Mainz Professor Friedemann Keuder formuliert es noch zugespitzter: „Es ist […] meines Erachtens jenseits von Cultural Studies nichts mehr zu machen, auch im Sinne des Erkenntnisinteresses, nicht nur im Sinne einer engagiert betriebenen Theaterwissenschaft.“ (S. 130) Dementsprechend kann Theater nur gebunden an empirisches Material definiert werden, niemals aufgrund theoretischer Vorstellungen.

Vergleichsweise differente Ansichten ergibt die Frage nach bevorzugten theoretischen Ansätzen und davon unterschiedenen Methoden. Theo Girshausen beklagt, dass „Methode“ zum Fetisch verkommen sei, ohne dass über grundsätzliche Zusammenhänge reflektiert würde. Einig ist man sich über die geringe Ergiebigkeit des so genannten Methodenpluralismus der 1970er-Jahre. Diesen hält beispielsweise Alfonso de Torro, Professor für Romanische Philologie am Institut für Romanistik der Universität Leipzig, für oberflächlich und betont: „um heute komplexe Kulturgegenstände wie Theater analysieren zu können, muss man disziplinenübegreifend operieren.“ (S. 60) Florian Nelle, Privatdozent an der Freien Universität Berlin, hält es für eine zentrale Aufgabe seines Faches, dass es gelingt, „sich aus der Hegemonie postmoderner Theoriebildung zu lösen.“ (S. 111) Er beobachtet einen „postmodernen Mainstream“, der „unterschiedliche Ausformungen annimmt, der aber keine wirklichen Alternativen zulässt. Foucault hat die ‚Bibel’ der neueren Wissenschaft geschrieben und Derrida die ‚Zehn Gebote’.“ (S. 110)

Manfred Brauneck, Verfasser der mehrbändigen Theatergeschichte „Welt als Bühne“ 2, für die er aus allen Richtungen heftig kritisiert wird, sieht in „der Methodendiskussion der letzten 40 Jahre“ (S. 72) vornehmlich den Zeitgeist gespiegelt. Indirekt schließt er in seine Kritik gegenwärtige Ansätze, wie etwa „Theatralität“ und „Performativität“ ein. Kritik in diese Richtung formuliert auch Nelle, der das Konzept der „ästhetischen Erfahrung“ für überstrapaziert hält. Die „Wiederkehr der Aisthesis in den 80er Jahren […] scheint mir […] ein bisschen zu gut zu unserer Gesellschaft, zu bodyshaping und Ähnlichem zu passen.“ (S. 111) Das sind seltene Töne in der gegenwärtigen Debatte.

Günther Heeg, Professor am Theaterwissenschaftlichen Institut der Universität Leipzig, öffnet im Gespräch mit den Autoren den Horizont für eine dezidiert philosophische Perspektive und gibt dem Reigen der Interviews am Schluss noch einmal eine überraschende Wendung. „Es ist wichtig, im Schreiben auszugehen von einem Verlust, von einem nicht rekonstruierbaren, nicht sagbaren Verlust, um dessen Wunde, dessen Abwesenheit dann die Überlegungen und Praktiken einer Zeit kreisen.“ (S. 182)

Das Konzept, Theaterwissenschaftler zu ihren fachlichen Positionen zu befragen, kann nur als ein Beitrag in einem breit angelegten Projekt verstanden werden. Es ermöglicht einen Überblick über die Landschaft der Theaterhistoriografie, der sich durch die gewählte Gesprächsform ansprechend und kurzweilig erschließen lässt. Andererseits überraschen manche Bekenntnisse, da sie sich aus den entsprechenden Publikationen der Befragten nicht adäquat ableiten lassen. Insofern ist ein Vergleich der historiografischen Praxis, wie ihn die Autoren planen, unverzichtbare Folge des vorliegenden Projekts. Es ist zu vermuten, dass dieser stärkere Kontraste zu Tage fördert. In den Interviews dominiert der Konsens.

Der vorliegende Band eignet sich hervorragend als Einführung für Studierende und Promovierende, da er wesentliche Punkte der theaterwissenschaftlichen Forschung berührt, deren Reflexion zwingende Voraussetzung für die eigene Arbeit ist. Er ist somit eine sinnvolle Ergänzung zu einschlägigen Einführungswerken. 3 Allerdings leisten die Autoren leider keine Auswertung der Interviews, was eine Einordnung der Positionen und ein strukturiertes Gesamtbild erschwert. Ein Kommentarteil wäre dafür aus meiner Sicht unerlässlich gewesen. Hinzu kommt, dass Jens Ilg und Thomas Bitterlich ihre Gesprächspartner mit einem vagen Modell von Theaterhistoriografie konfrontieren, das sie jedoch nicht explizieren. Das sorgt in manchem Gespräch für Missverständnisse, auch Unmut, gibt andererseits jedem Befragten die Möglichkeit, sich relativ frei und ungezwungen zu positionieren. Problematisch ist jedoch der Umstand, dass die Autoren die Auswahl der Gesprächspartner nicht reflektieren. Zwar scheinen sie bemüht, eine möglichst große Schnittmenge zu erfassen und haben beispielsweise mit Rolf Rohmer und Horst W. Flechsig auch zwei Vertreter einer dezidiert ostdeutschen Theaterwissenschaft aufgenommen, andere Autoren, wie etwa Hans-Thies Lehmann, Andreas Kotte oder Joachim Fiebach fehlen. Hier wäre eine stärkere Transparenz der eigenen Herangehensweise hilfreich gewesen.

Insgesamt jedoch, vor allem aufgrund der komfortablen Lesbarkeit des Materials, ist der Band eine Empfehlung wert, auch über den „inner circle“ der Theaterwissenschaft hinaus.

Anmerkungen:
1 www.theaterforschung.de
2 Brauneck, Manfred, Die Welt als Bühne. Geschichte des europäischen Theaters, 4 Bände, 2 Register-Bände, Stuttgart 2007.
3 Balme, Christopher, Einführung in die Theaterwissenschaft, Berlin 2003; sowie Kotte, Andreas, Theaterwissenschaft. Eine Einführung, Köln u.a. 2005.

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