Cover
Titel
Manfred von Ardenne. Selbstverwirklichung im Jahrhundert der Diktaturen


Autor(en)
Barkleit, Gerhard
Reihe
Zeitgeschichtliche Forschungen, Band 30
Erschienen
Anzahl Seiten
396 S.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfgang G. Schwanitz, Rider University, NJ

Wohl kein anderer ostdeutscher Wissenschaftler genoss eine solche Sonderstellung wie Manfred von Ardenne. Seit Mitte der 1950er-Jahre leitete er das nach ihm benannte, mit mehr als 500 Mitarbeitern schließlich größte private Forschungsinstitut des Ostblocks auf dem Weißen Hirsch in Dresden. Ardenne zählte zu den nationalen Heroen. Er war mehrfacher Nationalpreisträger und bis 1989 Volkskammerabgeordneter. Wegen seiner vermeintlichen wissenschaftlichen Omnipotenz war sein Name den meisten Ostdeutschen geläufig: Viele waren sogar stolz auf diesen (Mit-)Erfinder des Fernsehens, der Elektronenmikroskopie, der sowjetischen Atombombe und diverser Krebstherapien. Doch existierte bisher keine wissenschaftliche Biographie über den 1997 verstorbenen Erfinder.

Beim Autor der Biographie handelt es sich um den promovierten Physiker Gerhard Barkleit, der auch im ostdeutschen Zentralinstitut für Kernforschung bei Dresden gearbeitet hat. Nach der deutschen Einheit spürte er dem Leben Manfred Baron von Ardennes (1907-1997) nach, wobei diese Biographie am Dresdner Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung entstand. Der Autor hat sein Werk folgendermaßen gegliedert: Weimarer Republik und Drittes Reich, UdSSR, Ostdeutschland, deutsche Einheit, Vergleich der Autobiographien, Erbe und Vermächtnis. Im Nachwort schlagen zwei Söhne Ardennes einen kritischeren Ton als der Autor selbst an. Im Kern behandelt Barkleit Ardennes Verhältnis zu den Mächtigen in den verschiedenen Perioden und politischen Systemen.

Gerhard Barkleit stellt seine beiden Hauptthesen dem Buch voran. So sei Ardenne ohne Vermögen am Beginn seiner Karriere genötigt gewesen, die Mittel für seine Visionen selbst zu mobilisieren. Dabei sei es zu „glänzenden Anpassungsleistungen” Ardennes in den Diktaturen gekommen: Das Arrangement mit der Macht wäre für ihn auch nach 1945 existenziell gewesen. Jedoch fragt man sich nunmehr, wie opportunistisch diese „Selbstverwirklichung” gewesen ist, da sie immer auch dem Machterhalt von Diktaturen diente. Hätte Ardenne zum Beispiel die Sowjets in den unmittelbaren Nachkriegstagen abgewiesen und ihnen nicht beim Bau ihrer Atombombe geholfen, so wäre ihm höchstwahrscheinlich wenig geschehen, zumal der Weg vom deutschen Osten in den Westen noch offen war. Er konnte oder wollte aber die Natur des sowjetischen Regimes nicht erkennen.

Barkleits zweite Hauptthese lautet verkürzt: Ardenne habe als Autodidakt ohne Abitur und Universitätsabschluss immer wieder erfolgreich Angriffe etablierter Wissenschaftler und Unternehmer abgewehrt. Diese dünkten sich ihm zwar überlegen, erreichten aber häufig nicht dessen Kreativität. Daran ist wohl viel richtig, denn Neid ist ein mächtiger Impuls, der in seiner Trivialität oft viel zu wenig beachtet wird. Aber anders als Barkleit kann man Ardennes frühe Entscheidung auch wie folgt sehen: Der Entdecker brach sein Studium ab, um Geld als selbständiger Erfinder zu verdienen. Ohne Diplom und die relevanten naturwissenschaftliche Grundlagenkenntnisse rückte er sich schnell selbst ins Abseits: Neider mit ihren Normkarrieren und festen Bezügen betrachteten ihn oft nur als Macher.

Doch gelang es Ardenne in den 1930er-Jahren, sein eigens Institut im Berliner Stadtteil Lichterfelde zu etablieren. Als Freischaffender war er freilich genötigt, durch Aufträge seine Mittel zu erwerben. Im permanenten Zugzwang wurden ihm mächtige Nazis wie Postminister Wilhelm Ohnesorge, der Hitler gern die atomare Wunderwaffe besorgen wollte, zum Auftraggeber. Ardenne erklärte Ohnesorge die Potenzen einer Uranbombe, woraufhin der Minister mit ihm Entwicklungsverträge abschloss. Der Baron nahm sich nun der Isotopentrennung beim Uran an. Dies trug ihm den Vorwurf Werner Heisenbergs und Carl Friedrich von Weizsäckers ein, ein skrupelloser Manager gewesen zu sein, der für jeden eine Bombe gebaut hätte.

So errichteten bis zu 700 KZ-Häftlinge den so genannten Zyklotron-Bunker im Nachbarinstitut, das der Baron gleichwohl geleitet hat. Der NS-Forschungsrat sprach ihm außerordentliche Kriegswichtigkeit zu. Ardennes Mitarbeiter Fritz Houtermans erkannte Mitte 1941 die stabile Kettenreaktion, woraufhin Ardenne dessen Text an die Spitzen der Kernphysik sandte. Zeitlich parallel meldete Weizsäcker die Plutoniumbombe als Patent an. Hier stützt sich Barkleit auf Rainer Karlsch, dessen Ausführungen über Ardenne er zu wenig erörtert. Karlsch hatte belegen können, dass Stalin spätestens Mitte 1945 ein Uranprogramm der Nazis kannte.1 Barkleit betont nun das Gegenteil, jedoch ohne dazu Neues einzubringen.

Obwohl Barkleit auf Ardennes Versuch verweist, Hermann Göring den Bau eines Radars angetragen zu haben, folgert er an anderer Stelle, der Baron habe sich „konsequent geweigert”, Waffen für die Nazis zu bauen. Zudem räumte er aber ein, Ardenne „war nicht abgeneigt”, Ressourcen aus Quellen der Rüstung zu nutzen. Hierin zeigt sich Barkleits Apologetik. Das gilt auch für Ardennes Verhältnis zur politischen Polizei, nicht nur zur Gestapo im Dritten Reich, deren Wesen er „zu spät erkannt“ habe.

So stand es mit Ardenne auch im sowjetischen Osteuropa. Dieser begabte Erfinder hat die eigentliche Natur der Regimes weitgehend ignoriert. Seine „Systemtheoretischen Betrachtungen zur Optimierung des Regierens (und Leitens)” aus dem Jahr 1965 zeigen einen hohen Mangel an Fachwissen und Kritik.2 Bereits zwei Jahrzehnte zuvor hatte er sich wieder mit den Mächtigen arrangiert. Er schrieb nämlich 1945 je einen Text für die Amerikaner und die Sowjets.3 Da freilich letztere zuerst in Berlin einrückten, bot er sich Stalin an und beteiligte sich in den Folgejahren an der Entwicklung der sowjetischen Atombombe.

Barkleit übernimmt viel zu unkritisch Ardennes These, wonach es dessen Großtat war, das „nukleare Patt“ mitbesorgt zu haben. Implizit unterstellt dies zum einen Amerikas Demokratie klare nukleare Angriffsabsichten. Zum anderen, als Ardenne nach einem zehnjährigen UdSSR-Aufenthalt in Dresden eintraf, glaubte er an den Sieg des Kommunismus, weshalb auch eine Entstalinisierung bei ihm kaum vorkam. Daher suchte er kein Patt oder den Ausgleich, sondern deutlich die Überlegenheit. Da dies der Kernpunkt von Ardennes Verhältnis zu dieser Macht war und sein Biograph zudem so manche Quellen einfach ausgeklammert4 hat, soll hier nun eine Gegenthese über Ardennes Streben nach Überlegenheit durch einige im Buch fehlende Episoden erhärtet werden.

Anfang 1959 flog Ardenne mit dem ostdeutschen Ministerpräsident Otto Grotewohl nach Ägypten.5 Er sprach dort mit dem ägyptischen Verteidigungsminister Abd al-Hakim Amir über die Kombination nuklearer Sprengköpfe mit interkontinentalen Raketen. Auf diesem Gebiet, so erläuterte der Baron in Kairo, sei Moskau den USA überlegen. Es habe die „zwölfjährige Stützpunkts- und Einkreisungspolitik“ Amerikas deutlich entwertet. Ähnlich argumentierte er zwei Jahre zuvor. Als der zweite Sputnik startete, rühmte er die Pioniertat der Sowjets. Sie könnten nun thermonukleare Geschosse überall auf dem Erdball einfallen lassen. Doch wollten sie Frieden und keine atomare Aggression, da diese der marxistisch-leninistischen Ideologie widerspreche. Er hoffe, dass diese neue Machtverteilung in eine Ära ohne Krieg münde. Zudem klagte er öffentlich zumeist den „US-Imperialismus und seine Bonner Stützen“ als die nuklearen Kriegstreiber an.

Aber es waren die Sowjets, die 1957 zuerst Nuklearraketen einführten: Bei Fürstenberg-Havel und Vogelsang lief die Geheimaktion „Atom“ an, durch die bis Mai 1959 rund drei Dutzend Atomraketen startklar waren. Während die Amerikaner eine mögliche Stationierung noch offen erörterten, der Baron den „Atomtod vom westdeutschen Boden“ ausmalte und die westliche Friedensbewegung Amerika anklagte, schuf der Kreml im deutschen Osten für drei Monate vollendete Tatsachen.6 Das übersieht Barkleit wie auch dies: Nur drei Monate vor der erwähnten Reise an den Nil hatte der Baron dem Kreml eine stealth-Technik unterbreitet: Atomraketen sollten vom Radar durch Radarwellen schluckende Oberflächen nicht mehr abwehrbar sein.7 Seine Rede in Kairo über die „Entwertung der Macht Amerikas” speisten also eigene Taten. Wie üblich richtete Ardenne seine Ideen über Ostberlin an den Kreml. So auch nach dem Mauerbau mit seinem Vorschlag eines Dresdener SDI, Strategic Defence Initiative. Er riet den Politbürokraten dabei, sofort einen außerordentlichen Schwerpunkt in Forschung und Industrie für Waffenstrahlen nach dem Laserprinzip zu bilden. Richtbare Todesstrahlen sollten Ziele auf hunderte Kilometer zerstören. Radargesteuerte Strahlenzäune könnten gar um Städte und Staaten errichtet werden.

Zwölf Tage später äußerte sich US-General Curtis C. LeMay zu den sowjetischen Pläne der Strahlenwaffen, über die Kremlchef Nikita Chruschtschow zuvor gesprochen hatte. Der amerikanische Oberbefehlshaber über die strategische Luftflotte sprach dabei zur "phantastischen Waffe", die Chruschtschow erwähnt habe: Wenn die Sowjets zuerst weitreichende Laserwaffen hätten, dann könnten sie Raumschiffe und Satelliten in einem Raumkrieg vernichten, so LeMay. Auch hieß es zugleich aus Amerika, dort forsche man am „konzentrierten Lichtstrahl“, um Raketen im Flug treffen zu können. Als aber Ronald Reagans ähnliches SDI-Konzept 1983 bekannt wurde8, geißelte es Ardenne öffentlich. Barkleit wähnt in Ardennes Kritik an diesem SDI sogar den Grund, warum dieser keinen Nobelpreis erhalten habe. Hier wäre ein Vergleich des Dresdner und des Washingtoner SDI angebracht gewesen.

Dieses Buch hinterlässt insgesamt einen zwiespältigen Eindruck. Einerseits gewinnt der Leser viele interessante Einblicke in physikalische Denk- und Vorstellungswelten sowie wissenschaftliche Handlungsräume unter nationalsozialistischen, ostdeutschen und sowjetischen Verhältnissen. Andererseits hat der Autor eine zu geringe kritische Distanz zu Ardenne entwickelt, ja schlägt geradezu einen apologetischen Ton zu dessen Verhältnis gegenüber den Mächtigen in drei Diktaturen an. Zudem hat er relevante Quellen ausgeblendet. Doch wenn das Für und Wider der Quellen nicht distanziert genug dargelegt wird, kann auch der Leser kein faires Urteil fällen. Zwar hat Barkleit vieles entdeckt und gut beschrieben, aber allzu oft Ardennes Entscheidungen in Wortwahl und Argumentation verteidigt. Dennoch darf Gerhard Barkleit für sich verbuchen, erstmals eine akademische Biographie über Manfred von Ardenne vorgelegt zu haben.

Anmerkungen:
1 Vgl. Besprechung: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/type=rezbuecher&id=63536353> (07.09.2007).
2 SAPMO, D430, 3733, Bl. 66-71, hier Bl. 67, Bericht über die zurückkehrenden SU-Spezialisten, Berlin, 31.12.1954, S. 1-6, hier S. 2: „Bei Kriegsende hatte er die Absicht, für die Amerikaner zu arbeiten, da die sowjetischen Truppen jedoch früher in Berlin waren, bot er der Sowjetregierung seine Dienste an. Das Schreiben an die amerikanische Militärregierung ist vorhanden.”
3 Ardenne, Manfred von, Eine glückliche Jugend im Zeichen der Technik, Berlin 1962, S. 121: Hier thematisiert Ardenne Waffenstrahlen. Im Kapitel „Visionen zur Technik des Jahres 2000” ist ein Text teilidentisch mit dem, was er zuvor als Geheimprojekt der Waffenstrahlen nach dem Laserprinzip an Moskau adressiert hatte. Barkleit widmet den „Visionen” sogar ein Unterkapitel – und blendet dabei das Thema Waffenstrahlen aus.
4 Vgl. dazu: Schwanitz, Wolfgang G., Wasser, Uran und Paktfreiheit? Zur Geschichte der Beziehungen zwischen der DDR und Sudan (1955-1970), in: ders. (Hrsg.), Jenseits der Legenden: Araber, Juden, Deutsche, Berlin 1994, S. 137-151. Online unter: <http://www.trafoberlin.de/pdf-dateien/DDR%20und%20Sudan%201955%201970%20Berlin%201994%20WGS.pdf> (07.09.2007).
5 Uhl, Matthias, Vladimir I. Ivkin: „Operation Atom”. The Soviet Union's Stationing of Nuclear Missiles in the German Democratic Republic, 1959, in: Cold War International History Project Bulletin, Washington, (2001) 11-12, S. 299-307.
6 Maddrell, Paul, Western Intelligence Gathering and the Division of German Science, in: Cold War International History Project Bulletin, Washington, (2001) 11-12, S. 352-359. Siehe ferner auch: <http://www.trafoberlin.de/pdf-dateien/Ardenne%20SDI%20des%20Ostens%20100203.pdf> (07.09.2007).
7 Vgl. zu den Quellen: <http://www.trafoberlin.de/pdf-dateien/Ardenne%20SDI%20des%20Ostens%20270502.pdf> (07.09.2007).
8 Ronald Reagan notierte dazu am 23.03.1983 in sein Tagebuch: "I did the bulk of the speech on why our arms build up was necessary & then finished with a call to the Science community to join me in research starting now to develop a defensive weapon that would render nuclear missiles obsolete. I made no optimistic forecast - said it might take 20 yrs. or more but we had to do it.", in: Douglas Brinkley (ed.), The Reagan Diaries, New York 2007, S. 140.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension