St. Breuer: Ordnungen der Ungleichheit

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Titel
Ordnungen der Ungleichheit. Die deutsche Rechte im Widerstreit ihrer Ideen 1871-1945


Autor(en)
Breuer, Stefan
Erschienen
Anzahl Seiten
424 S.
Preis
DM 98,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jens Hacke Email:

Es ist ein Allgemeinplatz, daß konservatives Denken stetem Wandel unterworfen ist. Der Konservative reagiert auf die Herausforderungen der Moderne und versucht den Fortschritt zu “entschleunigen”. Seitdem sich “Erfahrungsraum” und “Erwartungshorizont” für den neuzeitlichen Menschen auseinandergetreten sind, ist es schwierig geworden, am Überkommenen festzuhalten. Politisch bedeutete das für den Konservativen, daß er sich sukzessive vom Ständestaat, vom bürokratisch-absolutistischen Staat (den er vehement bekämpfte) und von der konstitutionellen Monarchie (die er anfangs ebenfalls bekämpfte) verabschieden mußte. Ohne Kompromisse zu schließen und Inhalte seiner ideologischen Gegner zu adaptieren, wäre der Konservatismus lange obsolet geworden. Weil den Konservatismus eine fehlende Festsetzung absoluter Werte von seinen definitorischen Gegnern unterscheidet, müssen konservative Theorien stets im unmittelbaren Bezug auf ideologische Herausforderungen verstanden werden, die den Konservativen seinerseits dazu zwingen, die emanzipatorische Linke mit den Waffen der Moderne zu bekämpfen – politisch, organisatorisch, intellektuell.

Je schneller sich der Zeitgeist wandelt, um so größer die Herausforderung für konservative “Bremser”. Die leidenschaftliche Gegnerschaft zum Liberalismus hat im Kaiserreich und in der Weimarer Republik die Entstehung eines deutschen “Normalkonservatismus”, der liberaldemokratische Grundregeln des Parlamentarismus akzeptiert hätte, verhindert. Erst in der Bundesrepublik ist es gelungen, dem angelsächsischen Vorbild nachzueifern. Im Rückblick wird klar, daß der deutsche Konservatismus von seinen Mythen, Irrationalismen und metaphysichen Übersteigerungen befreit werden mußte, um überhaupt “politikfähig” zu werden. Die “deutsche Katastrophe” besorgte dies gründlich. Doch welche Ideen waren für den “Eigenweg” der politischen Rechten im Deutschland des “vergangenen Reiches” (Hildebrand) verantwortlich?

“Ordnungen der Ungleichheit” nennt der Hamburger Soziologe Stefan Breuer seine kenntnisreiche Untersuchung über die Weltbilder innerhalb der politischen Rechten vom Kaiserreich bis ins “Dritte Reich”. Die Kategorie eines auf Ungleichheit hinauslaufenden Stufendenkens überzeugt grundsätzlich und war in der Tat der gemeinsame Nenner verschiedener rechter Ideen. Von diesem Ausgangspunkt lassen sich in Breuers Worten “höchst unterschiedliche Ordnungen generieren, so daß die Intention, Ordnung durch Ungleichheit zu stiften, durch den Pluralismus der Ordnungsvorstellungen konterkariert wird” (13): Ob man innenpolitisch ständestaatliche Modelle favorisierte, ob man für eine aggressive imperialistische Weltpolitik eintrat, die auf “Beziehungen der Ungleichheit zwischen Staaten” zielte (147), oder ob es um die Geschlechterbeziehung ging – immer wandten sich hierarchische Ordnungsmodelle radikal gegen liberaldemokratische Forderungen nach individueller Freiheit, Gleichheit und politischer Partizipation. Die rechten Konzepte der Ungleichheit präpariert Breuer aus einem beeidruckend umfassenden Fundus an Quellen heraus.

Dabei steht ein Ensemble von Rechtsintellektuellen im Vordergrund, nicht die konservativen Machteliten in Politik und Wirtschaft. Hier geht es weniger um Bismarck oder Hindenburg, sondern eher um Richard Wagner, Paul de Lagarde oder Oswald Spengler. Vom Sammelbegriff des Konservatismus nimmt Breuer überhaupt Abschied – zu groß war der Traditionsbruch, den die industrielle Moderne bei den rechten Ideologen bewirkt hatte. Ehemals konservative Grundwerte wie Familie, Religion und Heimatverbundenheit hatten diesen Wandel nicht unbeschadet überstanden, büßten ihre Verbindlichkeit vielfach ein. Breuer analysiert die Ideen der nachkonservativen “zweiten Rechten” streng weberianisch mithilfe von idealtypischen Kategorien, die er an Schlüsselbegriffen festmacht wie “Boden”, “Blut”, Volk/Nation, politische Herrschaft, Wirtschaft, Bevölkerung, Kultur/Zivilisation, Religion und Antisemitismus. Damit konstruiert Breuer “einen intellektuellen Raum”, dessen “Typentableau” Grundpositionen markiert: nationalreligiöser Fundamentalismus (Wagner), neuer und alter Nationalsimus, völkischer Nationalismus (Hitler), planetarischer Imperialismus (Jünger), Neoaristokratismus (Nietzsche), ästhetischer Fundamentalismus (George-Kreis). Diese Herangehensweise macht vor allem eines deutlich: Diejenigen, die sich dem rechten Lager angehörig fühlten, hatten allenfalls gemeinsame Feindbilder – westliche “Zivilisation”, Liberalismus, Parlamentarismus. Ihre Auflehnung gegen die Moderne war paradox; genuin moderne Phänomene wie der Nationalismus, das imperialistische Weltmachtstreben und der technische Fortschritt regten nämlich ihrerseits rechte Intellektuelle zu ausufernden Plänen, zum “social engineering” an. Konzepte zur Gewinnung von Lebensraum, zu rassistischer Bevölkerungspolitik oder zur “gemeinwirtschaftlichen” Neuordnung integrierten technizistische Visionen und völkisch-rassistische Wahnsysteme, die kaum mehr konservativ zu nennen sind. Die “zweite Rechte” war, wie Breuer konstatiert, “gegenüber den Prozessen der Modernisierung nicht mehr bloß auf Abwehr eingestellt”, sondern wies Strömungen auf, “die das Ziel aller Rechten, die Steigerung der Ungleichheit, teils in, teils mittels der Modernisierung zu verwirklichen” suchten (374).

So sehr man von Breuers Systematik und offenkundiger Gelehrsamkeit eingenommen ist – die Lektüre dieses Kompendiums rechter Weltanschauungen verlangt eine gewisse Zähigkeit des Lesers, um sich durch den zitationsreichen Text zu arbeiten. Einiges an Vorwissen ist erforderlich, um den zum Teil arg esoterischen Diskursen der rechten Ideenproduzenten zu folgen. Bisweilen hätte man sich eine Ausleuchtung des historischen Kontextes oder knappe biographische Erläuterungen gewünscht. Wie so viele Beispiele der “intellectual history” krankt auch Breuers Methodik an der defizitären Bezugnahme auf die politische Wirkung von Ideen. Ist jede Idee wichtig, weil sie einmal gedacht wurde? Neben der (verdienst- und niveauvollen) Interpretation von Begriffsfeldern und Schlüsseltopoi wünscht sich der Leser Überlegungen zur Relevanz des hier Behandelten. Zu wenig erfährt man über Diskursnetze, über Bezüge zu öffentlichen Debatten und über das Einsickern von Ideen im Bereich der Machteliten. Die sozialen und kulturellen Voraussetzungen für die “Produktion” bzw. Empfänglichkeit von Ideologie fristen in Breuers Fragehorizont ebenfalls ein Schattendasein.

Einen Erkenntnisgewinn bedeutet Breuers Einbeziehung des Nationalsozialismus. Dabei wird offensichtlich, wie eklektizistisch sich nationalsozialistische Ideologen aus dem Gemischtwarenladen der intellektuellen Rechten bedienten. “Das nationalsozialistische Regime entwickelte keine einzige neue Idee”, so Breuer, “sondern wählte nur aus den Angeboten aus, die seit längerem kursierten.” (260) Die Wirkungsmacht des Nationalsozialismus war allerdings (und das kann Breuer nur andeuten) nicht in erster Linie einer politischen Idee geschuldet, sondern beruhte auf Massenmobilisierung. Dennoch: Was den geistigen Nährboden für den Zivilisationsbruch der “braunen Diktatur” bereitete, darüber klärt Breuers ideengeschichtliche Studie auf.

Kommentare

Von Popa, Klaus07.01.2002

Jens Hacke und die "Ordnungen der Ungleichheit" von Stefan Breuer

Eine Entgegnung

Es soll keine terminologische Haarspalterei getrieben werden, doch sollte des Umstandes Rechnung getragen werden, dass die Sichtweise von Jens Hacke ueber den politischen Konservatismus auf dem Mythos beruht, dieser habe sich ausschließlich von der Position des Angegriffenen, des von der emanzipatorischen Linken stets Bekaempften, also des ewig in Mitleidenschaft Gezogenen, als quasi immer ins Hintertreffen Geratener aufraffen muessen, um den Anstuermen des politischen Gegners standhalten zu koennen. Damit wird zumindest dem deutschen Konservatismus abgesprochen, jemals Verursacher, Ausloeser, Angreifer gewesen zu sein. Er soll also nie die politische Initiative besessen, sondern immer auf die Initiative der politischen Gegenseite reagiert haben. Hacke spricht also das, was er deutschen "Normalkonservatismus" nennt, als ausschließliche Abwehrerscheinung, als "Antwort auf" an, keinesfalls als Unruhestifter, als bedrohliches, ordnungsgefaehrdendes, sondern als ordnungsbewahrendes und ordnungsstiftendes Potential. Das man mit solchen Idealvorstellungen weder dem voelkisch-deutschnationalen, noch dem NS-Gedankengut der Zeitspanne 1871-1945, noch dem Breuerschen Deutungsmodell gerecht werden kann, verdeutlicht Hackes Rezensionsversuch, wie uebrigens auch Breuers eigene Interpretationspraxis. Obwohl Hacke den deutschen Konservatismus mit Mythen, Irrationalismen und metaphysischen Uubersteigerungen verbindet, faellt ihm nicht auf, dass Breuer diese Wesenszuege des voelkisch-deutschnationalen Gedankenguts durchgehend ignoriert. Hacke befindet, dass Breuer "die Ideen der nachkonservativen "zweiten Rechten" [lies: der extremen, vor-NS-Rechten] "streng weberianisch mithilfe idealtypischer Kategorien" analysiert. Doch es entgeht ihm, dass Breuer mit dieser Methode das Wesentliche seines Forschungsobjekts groeßtenteils verfehlt. Das umfangreiche Belegmaterial - Hacke formuliert: "kenntnisreiche Untersuchung" - wird von Breuer weder ideenkritisch, noch geistesgeschichtlich, sondern ausschließlich idealtypisch behandelt. Dabei ist Breuer von seiner Typologie so ueberzeugt, dass er sich der Konsequenzen seiner eindeutigen Ueber-Typisierung und Ueber-Typologisierung ueberhaupt nicht bewusst ist. Zwar verweist er saemtliche Elemente und Komponenten der voelkisch-deutschnationalen Ideologie in die von ihm konstruierten Typen-Faecher, uebersieht aber gleichzeitig, dass er schließlich nur noch Fetzen des Gesamtphaenomens zur Diskussion stellt.

Breuer ist seiner Typologie so verhaftet, dass er alle Autoren, deren Ergebnisse von seinen abweichen, zuweilen auch polemisch belangt. Und das sind ausnahmsweise Autoren, die dem voelkisch-deutschnationalen Gedankengut kritisch begegnen, im Unterschied zu Breuer, der sich rein expositiv und unkritisch verhaelt. Breuers Buch avanciert vor allem durch die vielfaeltigen Konsequenzen seines objektfremden Typologisierungs-Verfahrens zu einem Fallbeispiel fuer theoretische und methodisch-praktische Entproblematisierung und fuer allzu leichtfertige Entdaemonisierung eines hoechst problematischen und explosiven Gedankenguts, das das voelkisch-deutschnationale nun mal ist. So wendet sich Breuer wiederholt gegen die "heute beliebten, meist von moralischen Maßstaeben aus getroffenen Verdikte" (S.154). Den Hoehepunkt dieser Sichtweise bilden seine Attacken gegen Goldhagen, den er des "Chauvinismus" bezichtigt, "der neuerdings im Gewande der Moral" daherkomme und von "einer tiefen kulturellen Verwurzelung des deutschen Antisemitismus" ueberzeugt sei (S.342). Mit solchen Aeußerungen placiert sich Breuer in eine distanzlose Beziehung zum rechten Gedankengut, ganz im Unterschied zu frueheren Studien, wo Paradigmen wie "konservative Revolution" und "aesthetischer Fundamentalismus" eine gewisse Distanz zum Forschungsobjekt durchscheinen lassen 1. Nun schlaegt sich Breuers Distanzlosigkeit in einer Reihe relativierend-verharmlosender Kommentare nieder. Einige seien herausgegriffen.

Breuer strengt das verharmlosende "Zeitgeist"-Paradigma zwar nicht explizit an, doch bei der Behandlung der imperialen und kolonialen Bestrebungen der Nationalliberalen oder der Freikonservativen Parteien im Kaiserreich bedient er dieses Paradigma. Denn Breuer reklamiert, "im Rahmen dessen zu sehen, was damals in der westlichen Welt ueblich war" (S.154). Mit dem wiederholten Hinweis auf die Undurchsichtigkeit und Widerspruechlichkeit der voelkisch-deutschnationalen Texte strengt Breuer ein weiteres Paradigma an, das zur Entschaerfung, zur Neutralisierung extrem-nationalistischer Ideengehalte taugt. So heißt es im Zusammenhang mit dem fuer seinen aggressiven Pangermanismus bekannten "Alldeutschen Verband", in dessen Publizistik ließe sich ein diffuses und widerspruechliches Bild erkennen (S.162), wie bei den Erscheinungen, die Breuer im Vorkapitel den Sammeltypen "Fundamentalistischer und voelkischer Nationalismus" zuordnet (S.157-161). Aehnlich vage formuliert Breuer auch in Verbindung mit der Jugendbewegung vor 1918, die so "hoechst polyphon" gewesen sein soll, dass sie "sich im Uebrigen auch nicht pauschal rechts verorten laeßt" (S.256). Belege fuer diese Aussage bleibt Breuer indessen schuldig. Auch beruecksichtigt Breuer nicht, dass der groeßte Teil dieser Jugendbewegung ein rechtes bis extremrechtes Potential entwickelte, das dann im NS aufging. Eindeutig relativierend ist die Beurteilung der antisemitischen Bestimmungen im 3. Punkt des Parteibeschlusses der Deutschsozialen Reformpartei vom 10./11. September 1899. Die Textstelle, die "Judenfrage" duerfte im Laufe des 20. Jahrhunderts zur "Weltfrage" werden und "wird von den anderen Voelkern gemeinsam und endgueltig durch volle Absonderung und (wenn die Notwehr es gebietet) schließliche Vernichtung des Judenvolkes geloest werden" (S.341), quittiert Breuer mit der lakonischen Bemerkung, "Dies alles sollte nicht ueberschaetzt werden."

Auf derselben "Aufweichungs"-Linie brisanter und in ihrer Konsequenz fataler Formulierungen liegt auch Breuers Statement, das Parteiprogramm der NSDAP von 1920 wuerde "mitunter als eine Sammlung von Leerformeln angesehen, die fuer die Politik der Partei ohne Bedeutung gewesen sei" (S.361). Relativierend und im Widerspruch zu seinem frueheren Einwand, man muesse "im Rahmen dessen sehen, was damals in der westlichen Welt ueblich war" (S.154), ist auch der Vergleich, den Breuer zwischen dem Ruf des rechtsextremen Publizisten Stapel von 1924 bzw. 1929 nach "Kaempfer-Unternehmern" gegen "verbeamtete" Unternehmen in Kartellen und Syndikaten aufstellt. Dazu meint Verfasser ebenso lakonisch, so etwas "koennte" doch "von einem Anhaenger des Wirtschaftsliberalismus stammen" (S.214).

Damit ist ein weiteres gaengiges Verfahren des Entproblematisierungs- und Aufweichungsdiskurses angesprochen, den Breuer konsequent faehrt: Die schriftlichen Zeugnisse der angeblich realitaetsfremden, unpraktischen und unpragmatischen rechtspolitischen Irrationalitaet werden in das Exklusivgebiet von Spekulation und Utopie verwiesen, wodurch zunaechst deren Ungefaehrlichkeit und Unbedenklichkeit suggeriert und dann im naechsten Schritt postuliert wird. Solche Zeugnisse konnten - und koennten - der gesellschaftlichen Realitaet sowieso nicht gefaehrlich werden, weil es bloß "neutrale", konsequenzlose Gebilde seien. So verwundert es nicht, dass Breoer soziale Un-Projekte der politischen Rechten einfach als "Utopien" abtut (S.254f.), wie das Projekt des Christian v. Ehrenfels (S.253f.), oder das Ernst Juengers von 1932 (S.254f.). Und zwischen Willibald Hentschel und dem "Mittgartbund", die Ideen der Volkszuechtung und der Rassenpflege vertraten (1906 und 1918), und dem "oft behaupteten Einfluß" dieser Ideen "auf die SS" moechte Breuer keinen Zusammenhang erkennen, weil das "voelkische Utopie" sei, die keine Rezeptionschancen gehabt haette, weil diese Ideen sich damals" zu sehr von den gegebenen sozialmoralischen Standards" entfernten (S.258) und Himmler großen Wert darauf gelegt habe, "die SS aus einem Maennerbund in eine Sippengemeinschaft zu verwandeln, in die auch die Ehefrauen eingegliedert waren etc." (Anm.29, S.258).

Die besonderen Bloeßen des Breuerschen Typen-Konstrukts werden bei der Eroerterung des Antisemitismus und der NS-Ideologie augenscheinlich. Denn hier wird deutlich, dass typologische Vorgehensweisen zwar bei der Identifizierung verschiedener Aeußerungsformen und Bestandteile der rechten Ideologien hilfreich sein koennen, dass damit aber nur der erste Schritt in der Ergruendung der rechten Phaenomenologie getan ist. Der Schritt hin zur Synthese bleibt Breuer versagt, weil durch die Einfuehrung von Typen die rechte Ideenlandschaft zerrissen und der Oeffentlichkeit als das angepriesen wird, was sie niemals war und wie sie nie funktionierte: als inkohaerentes, widerspruechliches, undurchsichtiges und unorganisiertes Fragmente-Chaos. Die bedenklichste Konsequenz der Breuerschen Methode ist, dass sie voelkisch-deutschnationalen und NS-Ideologemen ein unbedenkliches Image verpassen kann, indem Verfasser und Methode die rechtspolitische Phaenomenologie auf lose, voneinander unabhaengige Formen reduzieren. Beide bewegen sich durchgehend auf der formalen Ebene eines willkuerlich fragmentierten Phaenomens. Eine weitere Konsequenz davon ist, dass Breuer dem Zwang entgeht, die internen sowie externen Kausalzusammenhaenge des rechten Ideendschungels aufzuzeigen; und auf diese Weise kann er den NS ohne Schwierigkeiten als ein inkohaerentes Gedanken- und Wertesystem darstellen, das sich durch nichts von seinen Vorgaengermomenten rechtextremistischer Potenzierung und Positionierung abhebt. So kann es Breuer vermeiden, den NS als eigentlichen Hoehe- und Endpunkt einer ideologischen und auch politischen Entwicklung benennen zu muessen, der die extremsten Optionen der Voelkisch-Deutschnationalen nicht nur uebernahm, sondern in deren menschenverachtenden und voelkervernichtenden Potenzen auch noch systematisch perfektionierte. Auch erspart die Typen-Methode es Breuer, auf die wesensinternen, auf Hyperaktivismus und Gewalt beruhenden Eigenheiten und Komponenten der vor-NS- und der NS-Ideologie eingehen zu muessen. Wie sich diese Unzulaenglichkeiten in der Antisemitismus-Problematik niederschlagen, sei an einigen Beispielen festgemacht. Was aendert es an der Irrwitzigkeit und Gefaehrlichkeit des Antisemitismus, den Max Hildebert Boehm, Ernst Juenger und Wilhelm Stapel proklamieren, wenn Boehm die Juden 1933 "als eine Volksgruppe eigenen Stammes und eigener Art" vom deutschen Volk trennen moechte; oder wenn Juenger sich 1930 wie Stapel von der "biologisch-rassischen Begruendung der Judenfeindschaft" angeblich distanziert, aber "fuer eine politische und kulturelle Dissoziation von Deutschtum und Judentum" eintritt, was die "Ausweisung oder Austreibung" der Juden nicht ausschloss? (S.344) Antisemitismus ist, in welcher Form auch immer, in welcher Breuerschen "Differenzierungs"-Hypostase er auch artikuliert sein mag, immer gefaehrlich und grundsaetzlich abzulehnen. Daran kann auch das aus Breueres Methode resultierende Splitting des voelkisch-deutschnationalen Antisemitismus in n-Toenungen und Spielarten nichts aendern.

Durchaus kennzeichnend ist Breuers Polemik gegen Hartmut Zelinskys Begriff des "Vernichtungsantisemitismus", in dessen Kontext Richard Wagner gestellt wird 2. Zelinsky betriebe laut Breuer weiter nichts als "Rueckprojektion spaeterer Ereignisse in die Absichten und Sinnkonstruktionen von Handelnden, die, wenn sie von Vernichtung sprachen, damit meist eine Kategorie oder einen Typus meinten, nicht aber deren empirische Traeger. Auf diese Weise tritt anstelle der Interpretation die Insinuation: das Hineinlegen von Intentionen, der staendige Rekurs auf zweifelhafte Kontexte und noch zweifelhaftere Subtexte [...]"(S.360). Hier zahlt Breuer den Preis fuer die Selbstgenuegsamkeit, fuer die typologische Autonomie seines Interpretationsmusters. Hier zeigt sich, dass die "Kategorien" und Typen wertmaeßig vor den Menschen, die recht abschaetzig damit benannt werden, zu stehen kommen. Ein eindeutiger "Verlust der humanen Orientierung" 3. Ebenso kennzeichnend ist der Versuch Breuers, die von Hitler in "Mein Kampf" formulierte Notwendigkeit gegen das "Zerstoerungswerk" des Judentums vorzugehen 4, dahingehend abzuschwaechen, dass Hitler doch gleichzeitig auch die Vernichtung von Nichtjuden anspricht. Breuer betont, es sei "eines, von Vernichtung zu reden, ein anderes, sie zu planen und umzusetzen, ganz besonders dann, wenn sich vor dieses langfristige Ziel kurz- und mittelfristige Aufgaben schieben, wie etwa die Wiedergewinnung der nationalen Souveranitaet, der Aufruestung, der politischen und militaerischen Expansion, der Gewinnung von Lebensraum [...]" (S.368). Breuer moechte auf diese Weise die Intentionalitaet nur fuer die konkrete Ebene der verwirklichten Judenvernichtung, aber nicht bei schriftlicher, schreibtischtaeterhafter oder bei muendlicher Aeußerung von Vernichtungsgedanken gelten lassen. Breuer suggeriert also, dass mit einer antisemitischen Aussage noch nichts verwirklicht werde. Damit wird aber allem Gesagten und Geschriebenen, ungeachtet seiner gefaehrlichen Konseqoenzen, ein Tor hin zur Legitimierung geoeffnet. Damit soll wohl auch gesagt sein, dass die Gefahr nur bei konkreten Taten gegeben sei und dass erst in diesem Kontext moralische Bedenken ihre Berechtigung haben. Auch die Behandlung des NS faellt recht problematisch aus. Rezensent Hacke begrueßt zwar die Einbeziehung des NS durch Breoer, doch an dem von Hacke hervorgehobenen "Erkenntnisgewinn" sind ernsthafte Zweifel angebracht. So lehnt Breuer den Ansatz kategorisch ab, der NS sei eine "politische Religion" gewesen (S.325f.). Er argumentiert entgegen Voegelin und Baersch 5, der NS zeichne sich durch eine betraechtliche Portion "Opportunismus" aus, den er wie folgt definiert: "Die Faehigkeit, gleichzeitig auf mehreren Registern zu spielen, sich auf konkrete Situationen einzulassen und in ihnen okkasionell zu entscheiden, war jedenfalls so ausgepraegt, daß sie sich nur schwer in das Konzept einer zentrierten politischen Religion einfuegen laeßt. In dieser Hinsicht waren die Nazis einfach zu modern, zu sehr Kinder einer vom 'Polytheismus der Werte' (Max Weber) bestimmten Epoche" (S.326). Mit diesem Kommentar illustriert Breuer, wie es seine Methode schafft, das Forschungsobjekt und dessen tatsaechlichen Wesenszuege mit den recht problematischen Typologisierungs-Befunden zu substituieren, also anstelle des eigentlichen NS einen ausgesprochenen Bilderbuch-NS zu setzen. Damit ist auch der Knack- und Kernpunkt der NS-Lehre kein Thema fuer Breuer: die bis zur Besessenheit ausufernde Fixierung auf das Deutschtum, auf das Deutsch-Sein als unumstoeßlicher zentraler Wert und Maßstab. Auch nicht das, was dieser fanatische Glaube ermoeglichte: die Skrupellosigkeit, mit der dabei verfahren wurde; die Grenzen, die eingerissen wurden, um auch das zu verwirklichen, was unter sonst hergebrachten, tradierten Verhaeltnissen unmoeglich schien oder sonst strafbar war; das alles ist fuer Breuer irrelevant. Hingegen bescheinigt er den Nazis und dem NS eine aus angeblichem "Opportunismus" und wohl auch aus Pragmatismus abgeleitete "Modernitaet", die dicht an die Grenze der Verhoehnung der unzaehligen NS-Opfer zu liegen kommt.

Breuer ignoriert ferner, dass der NS - selbst wenn wir seine Behauptung stehen lassen, dass das NS-Regime "keine einzig neue Idee" entwickelte, sondern nur "aus den Angeboten" auswaehlte, "die seit laengerem kursierten" (S.260) -, den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen und ideologischen Hoehepunkt des deutschnationalen Gedankenguts darstellt, weil er dieses zur Staatsdoktrin erhob und bis zu den letzten Konsequenzen (Vernichtungskrieg, Voelkermord) in die politische Praxis umsetzte. Auch aus diesem Grund bleibt Breuers Buch ein insgesamt problematisches und in vielen Punkten fragwuerdiges Unternehmen. Aber auch wegen seines ueberzogenen Konstruktivismus, der von der Komplexitaet des rechtsideologischen Gedankenguts eindeutig ueberfordert wird.

Anmerkungen:
1 Stefan Breuer, Anatomie der konservativen Revolution, Darmstadt 1993; 2.Aufl. ebenda, 1995; Aesthetischer Fundamentalismus, Darmstadt 1995.
2 Verfall, Vernichtung, Weltentrueckung. Richard Wagners antisemitische Werk-Idee als Kunstreligion und Zivilisationskritik und ihre Verbreitung bis 1933, in: Friedlaender u. Ruesen (Hgg.), Richard Wagner im Dritten Reich, Muenchen 2000, S.318.
3 Ralph Giordano, Die Traditionsluege. Vom Kriegskult in der Bundeswehr, Koeln 2000, S.188.
4 "Siegt der Jude mit Hilfe seines marxistischen Glaubensbekenntnisses ueber die Voelker dieser Welt, dann wird seine Krone der Totentanz der Menschheit sein, dann wird dieser Planet wie einst vor Jahrmillionen menschenleer durch den Aether ziehen." (Breuer, S.368)
5 Die politischen Religionen, Muenchen 1993; Die politische Religion des Nationalsozialismus, Muenchen 1998.


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