W. Abelshauser: Nach dem Wirtschaftswunder

Cover
Titel
Nach dem Wirtschaftswunder. Der Gewerkschafter, Politiker und Unternehmer Hans Matthöfer


Autor(en)
Abelshauser, Werner
Erschienen
Anzahl Seiten
798 S.
Preis
€ 58,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hartmut Soell, Historisches Seminar, Universität Heidelberg

Werner Abelshauser, als Forscher und Lehrer der modernen Wirtschaftsgeschichte vielfach ausgewiesen, hat sich an das für ihn neue Genre der wissenschaftlichen Biographie gewagt. Sein Protagonist, der 1925 in Bochum als Kind einer katholischen Arbeiterfamilie geborene Hans Matthöfer, fasziniert schon allein durch die Vielfalt der Rollen und Funktionen, die er während seines aktiven Lebens inne gehabt hat: Volksschüler, kaufmännischer Lehrling, Soldat, Schwarzhändler, Sprachlehrer, Studentenführer, Publizist, Automationsexperte, Diplomat, Leiter der Bildungsabteilung der IG Metall, Bundestagsabgeordneter, Parlamentarischer Staatssekretär im Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Forschungsminister, Finanzminister, Postminister, Schatzmeister der SPD, Chef der Gewerkschaftsholding BGAG, Aufsichtsrat und Berater in zahlreichen Unternehmen.

Vielfalt ist eine zentrale Sinngestalt der Freiheit. Und Matthöfer gab sich mit dem Dasein als talentierter und gefragter Multifunktionär nie zufrieden. Er nutzte die Freiheit in den Verhältnissen, um seine Träume von einer Änderung der Verhältnisse überall da zu verfolgen, wo er diese als besonders inhuman und freiheitswidrig empfand. Bestärkt wurde er darin nicht nur durch die bedrückenden Erfahrungen im Krieg und durch das Gefühl, fortan Delegierter der Kameraden zu sein, die nicht überlebt hatten; von seinem Jahrgang waren rund vierzig Prozent gefallen. Beeinflusst wurde er – wie er in seiner unveröffentlichten Autobiographie hervorhob – auch durch die Geschichtsphilosophie Sidney Hooks. Dessen 1943 erschienenes Werk "The Hero in History" – ein Aufruf, die Politik nicht unmenschlichen Regimen nazistischer oder stalinistischer Provenienz zu überlassen – hatte er sich 1947 oder 1948 im Frankfurter Amerikahaus ausgeliehen. War hier mehr seine Vernunft angesprochen, so hatte Hemingways Roman aus dem spanischen Bürgerkrieg "For Whom the Bell Tolls" seine Emotionen tief berührt und schließlich seinen Willen verstärkt, sich selbst dann auf der richtigen Seite zu engagieren, wenn das Unterliegen gewiss war. Wie sehr das Schicksal des auf der republikanischen Seite gegen Francos Falangisten kämpfenden amerikanischen Freiwilligen Robert Jordan den einundzwanzigjährigen Matthöfer aufgewühlt hatte, schildert er in seiner Autobiographie: Zwei Jahre zuvor aus einem Krieg zurückgekommen (in dem er auf der falschen Seite gestanden hatte), sei er "völlig durcheinander und unentschieden" gewesen, was er mit seinem Leben anfangen sollte. Er sei "tief verwirrt in den Wäldern des Taunus" herumgelaufen und habe "grübelnd" versucht, sich "alles" durch den "in der Waldluft klareren Kopf gehen zu lassen."1 Diese und andere Einflussfaktoren nach 1945 werden in Abelshausers Darstellung durchaus berücksichtigt (S. 70 ff.). Sie scheinen mit seinem durch "exogene Schocks" wie noch mehr durch "lebensgeschichtlich akkredierte Handlungsvarianten" bestimmten biographischen Erklärungsmodell (S. 14 f.) auch zu konvergieren. Aber solche zu abstrakten Leitplanken, durch die er sich auf dem ungewohnten Feld anscheinend theoretisch abzusichern sucht, verstellen den Blick auf die existenzielle Wucht der Neuorientierung Matthöfers.

Im Unterschied zu vielen anderen seiner Schicksalsgenossen verfügte Matthöfer über Alternativen. Er war schon in jungen Jahren unternehmerisch tätig. Weisungen anderer Leute nahm er ohnehin nicht gern entgegen. Er hätte ohne weiteres zu jenen Tausenden gehören können, deren Aufstieg als selbständige Unternehmer das "Wirtschaftswunder" mitbedingte. Es kommt nicht von ungefähr, dass Matthöfer ein Vierteljahrhundert nach der Währungsreform als einer der ersten erkannte, wie sehr das eigene Land wie die Welt ringsum in die Phase "nach dem Wirtschaftswunder" eingetreten war. Insoweit erhält der auf den ersten Blick befremdende Titel – in seinen ersten Arbeiten hatte Abelshauser das traditionelle Darstellungsmuster "Wirtschaftswunder" zu Recht in Zweifel gezogen – eine innere Plausibilität.

Abelshauser rechnet seinen Protagonisten der "skeptischen Generation" zu, deren Mentalität Helmut Schelsky Mitte der fünfziger Jahre untersuchte. Skeptisch war Matthöfer nicht nur gegenüber überzogenen oder gar totalitären ideologischen Heilsversprechungen, sondern auch gegenüber dem vor allem auf der Linken zu weiten Auseinanderdriften von Erfahrung und Erwartung. Diese Skepsis hinderte ihn weder am Erträumen einer besseren Welt noch an der Nutzung der Marxschen Lehren als Methode zum Erkennen der Wirklichkeit. Wie sehr Matthöfer an beidem in seinem späteren Leben festhielt, wird von Abelshauser ausführlich dargestellt. Ob Matthöfer als Automationsexperte oder als Gewerkschaftsdiplomat, als Leiter der Bildungsabteilung der IG Metall oder in der gegen innergewerkschaftliche Widerstände durchgesetzten Ford-Aktion agierte: In allen diesen Bereichen wird seine vita activa kontextgenau in die sozialökonomische Entwicklung der 1950er- und 1960er-Jahre eingebettet.

Dies gelingt Abelshauser auch bei der Analyse des politischen Akteurs Matthöfer als Abgeordneter, als parlamentarischer Staatssekretär im Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und als Minister für Forschung und Technologie sowie für Finanzen und für die Post. Nur selten ist spürbar, dass ihm der Zugang zu Quellen verwehrt wurde, mit denen er Aussagen von Interviewpartnern auf Stimmigkeit hätte überprüfen können. So wird Erhard Epplers Behauptung, Matthöfer habe ihn aus Loyalität zu Helmut Schmidt in der Kabinettssitzung am 4. Juli 1974, deren Ergebnis Eppler zum Vorwand seines Rücktritts nahm, im Stich gelassen, durch das Protokoll dieser Sitzung widerlegt: Matthöfer stimmte als einziger der übrigen Minister Epplers Vorschlag zu, die Mittel für die wirtschaftliche Zusammenarbeit in der mittelfristigen Finanzplanung zu erhöhen.

Ebenfalls mit einem Fragezeichen zu versehen ist die These, Matthöfers ideenreiche Initiative vom Winter 1981/82, durch Erhöhung der Energiesteuern die Mittel für ein breitgefächertes Programm der ökologischen Erneuerung zu gewinnen, sei an der SPD und letztlich am Kanzler gescheitert (S. 526 f.), während Hans-Dietrich Genscher eher dafür gewesen sei. Ein Blick in die Protokolle der Koalitionsgespräche Ende Januar 1982 zeigt, dass Schmidt dort ein detailliertes Investitionsprogramm vorlegte, in dem Matthöfers Vorschläge berücksichtigt worden waren. Genscher und Otto Graf Lambsdorff warteten hingegen nur mit Änderungen im Mietrecht zugunsten der Vermieter auf. Auf eine Zustimmung zum Investitionsprogramm ließen sie sich nicht nur deshalb nicht ein, weil die SPD-Spitzen in den Flächenländern aus Furcht vor bevorstehenden Landtagswahlen die Erhöhung der Mineralölsteuer ablehnten. Vielmehr war ihr Interesse am Fortbestand der Koalition aus Furcht vor dem Aufkommen der Grünen weitgehend erloschen und die Suche nach einer geeigneten Gelegenheit zum Wechsel unübersehbar.

Ungeachtet solch kleinerer Defizite bleibt erkennbar, wie intensiv sich Abelshauser mit den oft irrational erscheinenden Wechselfällen der Politik im Umkreis von Matthöfers Handeln auseinandergesetzt hat. Besonders deutlich wird dies auch im letzten Teil, in dem Matthöfers rund zehnjähriges Wirken als Vorstandsvorsitzender der Beteiligungsgesellschaft für Gemeinwirtschaft (BGAG) geschildert wird. Diese Analyse des Kampfes um die Liquidierung der gemeinwirtschaftlichen Unternehmen, deren Abstieg durch korruptive Praktiken bei der Neuen Heimat beschleunigt wurde, liest sich wie ein sozialkritischer Roman von B. Traven. Er spielt nur nicht in einem tropischen Dschungel, sondern im weitverzweigten Netzwerk gewerkschaftlicher Unternehmen, in dem zumeist nicht böser Wille, sondern Kontrollversagen durch überforderte Gewerkschaftsfunktionäre dominierte. Der von Matthöfer gesteuerte komplexe Prozess der schadensbegrenzenden Abwicklung eines Gros der Unternehmen wie auch der Sanierung der Gewerkschaftsbanken, der die Gewerkschaften von einer Last befreite und ihre Konfliktfähigkeit besser wahrte als in jedem anderen Industriestaat, wird von Abelshauser in einer sonst nirgendwo erreichten Präzision dargestellt. Dies trägt zur Rundung der Biographie eines Mannes bei, der zwar das Mannschaftsspiel bevorzugte, aber häufig genug als Einzelkämpfer zwischen den Fronten auftreten musste. Insgesamt ist Abelshausers Studie über Hans Matthöfer eine bedeutende Leistung, der viele Leser zu wünschen sind.

Anmerkung:
1 Hans Matthöfer, Aus dem Kohlenpott in den Bundestag 1925-1961, Kronberg 2006 (Privatdruck), S. 70 ff.

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