F. Schnell: Ordnungshüter auf Abwegen

Cover
Titel
Ordnungshüter auf Abwegen. Herrschaft und illegitime polizeiliche Gewalt in Moskau 1905-1914


Autor(en)
Schnell, Felix
Reihe
Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 67
Erschienen
Wiesbaden 2006: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
383 S.
Preis
€ 98,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan C. Behrends, Department of History, University of Chicago

Russland eilt der Ruf eines Polizeistaates voraus. Die zarische Ochrana, der sowjetische Geheimdienst in seinen zahlreichen Verpuppungen von der Tscheka bis zum KGB und nun der postsowjetische FSB stehen im Ruf der Ruchlosigkeit bezüglich ihres Umgangs mit inneren, äußeren und imaginierten Gegnern. Sie prägten das Bild eines Staates, der zur Herrschaftssicherung weniger auf legale Verfahrensweisen als auf Einschüchterung und Gewalt setzt.

Im Unterschied zur Geschichte der Geheimdienste bildet die Entwicklung der allgemeinen Polizei im Russischen Reich und in der Sowjetunion noch weitgehend eine Leerstelle in der Forschung. In diese Lücke stößt Felix Schnell mit seiner Bielefelder Dissertation über die Moskauer Polizei zwischen 1905 und 1914. Bei der vorliegenden Studie handelt es sich nicht primär um eine Geschichte der Polizei in der um die Jahrhundertwende expandierenden Metropole Moskau. Zwar liefert das Buch – ganz in der Tradition der Bielefelder Schule – zahlreiche Daten und Fakten zur Sozialgeschichte der Moskauer Polizei im Zarenreich. Doch sein Fokus liegt auf dem Zusammenhang zwischen Herrschaft und illegitimer Polizeigewalt in der Zeit zwischen den revolutionären Unruhen des Jahres 1905 und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges.

Dabei legt der Verfasser einen weiten Gewaltbegriff zu Grunde, der Korruption im Amt ebenso einschließt wie die alltägliche Willkür der Schutzpolizei auf den Straßen der Stadt. Das Gerüst der Arbeit bildet die Begrifflichkeit Max Webers, an der Felix Schnell den russischen Fall misst. Er gliedert seine Studie in sieben Kapitel. Die ersten vier Abschnitte widmen sich dem rechtshistorischen Hintergrund, der Moskauer Verwaltung, dem Alltag der städtischen Polizei und dem Leben der Schutzmänner.

Der Autor kann zeigen, wie sehr die Anwendung illegitimer Gewalt den polizeilichen Alltag in Moskau prägte. Von den Höhen des Staatsapparats bis zu den Niederungen der Streifenpolizisten waren die Exekutivorgane von einer Kultur des Amtsmissbrauchs, der Vorteilsnahme, Bestechlichkeit und auch Erpressung geprägt. Die Moskauer Schutzmänner stammten nur selten aus der Stadt selbst und blieben in der Regel nicht lange in ihrem Beruf; sie waren der Gewaltkultur des russischen Dorfes ebenso verpflichtet wie die Zuwanderer, die sie eigentlich an die städtische Ordnung binden sollten.

Polizisten waren kaum ausgebildet und die Mischung aus mangelnder Professionalisierung, verwirrender Rechtslage und schlechter Bezahlung führten zu tiefem Misstrauen der Bevölkerung gegenüber denjenigen Vertretern der Staatsmacht, denen sie im Alltag begegneten. Auch die besser gestellte Kriminalpolizei bildete hier keine Ausnahme. Während der Revolution von 1905 zeigte sich zudem, dass die Moskauer Polizei nicht die Fähigkeit besaß, Massenunruhen erfolgreich einzudämmen. Diese Aufgabe fiel deshalb dem Militär zu, das mit großer Härte gegen die Aufständigen vorging. Moskau, das sich in den beiden Jahrzehnten vor dem Ausbruch des Weltkrieges zu einer Metropole wandelte, verfügte über keine Polizei, die den Anforderungen der wachsenden Stadt gerecht wurde.

Obwohl der Verfasser betont, dass das Zarenreich kein moderner Polizeistaat wie etwa die Sowjetunion gewesen sei – dazu fehlten die Mittel zur umfassenden Kontrolle der Bevölkerung – kann er deutlich zeigen, wie weit die russische Wirklichkeit von einer europäischen Rechtsstaatlichkeit entfernt war, die etwa im obrigkeitsstaatlichen Preußen selbstverständlich war. Willkür und persönliche Patronage nahmen die Stelle gesetzlicher Regelungen ein.

Im Zentrum der Studie steht die Amtszeit des Stadtkommandanten A. A. Reinbot zwischen 1905 und 1907, die 1908 Gegenstand einer offiziellen Untersuchung und schließlich eines Strafprozesses wurde. Reinbot erfreute sich in der Stadtöffentlichkeit zwar einer gewissen Popularität; er hatte jedoch unverhohlen Prostitution und illegales Glücksspiel geschützt, während gewöhnliche Moskauer zunehmend unter den illegitimen Forderungen seiner Polizisten litten. Es war der Korruptionsskandal um Reinbot, die „Reinbotowschtschina“, die dazu führte, dass in der Stadtöffentlichkeit Moskaus – die seit 1905 weitgehend von der strengen Zensur autokratischer Herrschaft befreit war – die Rolle der Polizei von der Gesellschaft erstmals eingehend diskutiert wurde. Felix Schnell nutzt dieses Ereignis, um einen Beitrag zu einer der zentralen Fragen der Geschichte des Russischen Reiches zu liefern: Wie stand es um die Reformfähigkeit des zarischen Regimes?

Er zeigt, dass es trotz öffentlichen Drucks zu keiner Professionalisierung der Moskauer Polizei kam. Von ihrer Kultur illegitimer Gewalt gezeichnet, blieb die zarische Polizei letztlich eine dysfunktionale Institution – eine Polizei, die Teil gesellschaftlicher Probleme war und zu ihren Lösungen kaum beitragen konnte. Die öffentliche Sicherheit in der jungen Metropole blieb prekär. Diese Fallstudie über die Moskauer Polizei zeigt die engen Grenzen der Verrechtlichung und Professionalisierung des Herrschaftsapparates im Russischen Reich. Ähnliche Zustände prägten andere Städte Russlands. Das Buch ist damit geeignet, die von der jüngeren Forschung hervorgehobene Entwicklung einer starken Zivilgesellschaft im Zarenreich in ihrer Bedeutung zu relativieren. Wo illegitime Gewalt die Beziehung zwischen Herrschenden und Beherrschten strukturierte, fanden die zivilgesellschaftlichen Entwicklungen in einem gesellschaftlichen Vakuum statt – die Sphäre der Macht beeinflussten sie nicht.

Über die Geschichte Moskaus und des späten Zarenreiches hinaus wirft Felix Schnells Studie eine Reihe interessanter Fragen auf. Es stellt sich die Frage, wie andere Großstädte mit dem rapiden gesellschaftlichen Wandel der Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg zurecht kamen. Inwiefern war illegitime Polizeigewalt ein genuin russisches Problem? Geklärt werden müssten auch die Kontinuitäten russischer Polizeigeschichte über Revolution und Zusammenbruch des Kommunismus hinaus. Warum gelang es nicht, eine verantwortlich arbeitende Polizei aufzubauen? Eine durchherrschte Öffentlichkeit, die enge Verflechtung zwischen Justiz und Herrschaft sowie eine fehlende Kultur der Verantwortlichkeit führten in der russischen Moderne dazu, dass polizeiliches Handeln an keine wirksamen Kontrollen gebunden war und ist. Die fehlende Verrechtlichung, die hohe Bedeutung persönlicher Beziehungen und die ständige Bedrohung durch illegitime Gewalt seitens des Staatsapparates verleihen der Polizeigeschichte Russlands einen vormodernen Zug. Felix Schnell hat einen wichtigen und lesenswerten Beitrag zum besseren Verständnis dieser Verhältnisse geliefert.

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