das xx. jahrhundert. ein jahrhundert kunst in deutschland

das xx. jahrhundert. ein jahrhundert kunst in deutschland

Veranstalter
Staatliche Museen zu Berlin (13945)
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13945
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
04.09.1999 - 09.01.2000

Publikation(en)

das xx. jahrhundert. ein jahrhundert kunst in deutschland. Berlin 1999 : Nicolaische Verlagsbuchhandlung, ISBN 3-87584-869-1 659 S., zahlr. Abb.
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Petra Weckel, Wilhelm-Fraenger-Archiv, Universität Potsdam

"das xx. jahrhundert. ein jahrhundert kunst in deutschland" ist ein anspruchsvoller Titel, der in jeder Hinsicht nach Bescheidenheit verlangt. Der Titel des Katalogs wie auch der Ausstellung ist klein geschrieben und weist bereits auf eine gewisse Zuruecknahme, auf eine Entschaerfung des Themas hin. Der Katalog dokumentiert ein grossangesetztes Unterfangen, und zwar den summarischen Jahrhundertrueckblick der Kunst, der an drei Ausstellungsorten in der neuen Bundeshauptstadt am Ende dieses Jahrhunderts, vom 4. September 1999 bis zum 9. Januar 2000 stattfand: im Alten Museum, in der Neuen Nationalgalerie und im Hamburger Bahnhof. Begleitausstellungen gab es im Kupferstichkabinett und im Kunstgewerbemuseum. Mit ueber 620.000 Besuchern zaehlt diese Ausstellung zu den erfolgreichsten des letzten Jahres.

Eine Ausstellung als "Jahrhundertausstellung" zu deklarieren fordert eine gewisse argumentative Grundlage. Peter-Klaus Schuster, der das Gesamtkonzept zu verantworten hatte, formuliert zu Beginn des Kataloges einige Gedanken zur Entstehung der Ausstellung, zu ihrem Konzept und zu ihrem Anspruch als "Jahrhundertausstellung". Er konstruiert dafuer eine "Tradition der Jahrhundertausstellung", um diese sogleich wieder zu brechen: In Deutschland gab es bisher eine "Jahrhundertausstellung" im Jahre 1906, die auf die Kunst zwischen 1775 und 1875 zurueckblickte. Die dort zusammengestellten Werke schufen einen umfassenden Kanon anerkannter Kunst aus dieser Zeit. 1906 wurden Massstaebe fuer das Verstaendnis der deutschen Kunst des 19. Jahrhunderts gesetzt. Haette die heutige Ausstellung auch nur annaehernd diesen Anspruch vertreten, waere sie von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen. Schuster stellt klar: diese Ausstellung kann nur einen Bruchteil der Kunst zeigen. Ausserdem handelt es sich nicht um national begrenzte, deutsche Kunst, sondern es wird alles beruecksichtigt, was in Deutschland Einfluss gewann und Bedeutung erlangte: "Dahinter seht die Ueberzeugung, dass die Kunst im 20. Jahrhundert nicht mehr ausschliesslich national, sondern nur noch im internationalen Zusammenhang sich zureichend beschreiben laesst. Dies gilt besonders fuer Deutschland, das sich als bevorzugtes Transitland im 20. Jahrhundert trotz und schliesslich gerade wegen des nationalen Wahns zwischen 1933 und 1945 den internationalen Kunststroemungen immer wieder weit geoeffnet hat." (P.-K. Schuster, Einfuehrung, 16)

Es geht in der Jahrhundertausstellung um internationale Kunst und das ist nur zu begruessen. Die leidliche Wesensfrage, was deutsche Kunst denn sei, wird ausdruecklich vermieden. Trotzdem werden die Aussteller indirekt immer wieder mit dieser nationalen Fragen konfrontiert und benutzen sie sogar als strukturierendes Prinzip. Denn, wenn man davon absieht, einen repraesentativen Querschnitt zu zeigen, benoetigt man ein anderes Gliederungsprinzip. Orientiert an den drei Ausstellungsorten haben sich die Organisatoren auf eine thematische Dreigliederung geeinigt. In langen Gespraechen haben sie drei Themen herausdestilliert, von denen sie der Meinung sind, dass sie wesentlich Stroemungen internationaler Kunst in Deutschland vertreten. Diese probate Loesung umgeht schematische Chronologiekonzepte oder verwirrende Aneinanderreihungen von vielen einzelnen Kuenstler- oder Stilmonografien. Das Konzept versucht, der unuebersehbaren Vielfaeltigkeit der Kunst eine Struktur zu verleihen: "Statt eines enzyklopaedischen Ueberblicks, der nicht zu leisten ist, versucht unsere Jahrhundert-Ausstellung, die Kunst aus dem Blickwinkel der in Deutschland im 20. Jahrhundert entscheidenden Inhalts- und Formfragen zu betrachten." (P.-K. Schuster, Einfuehrung, 19) Es ist eine schluessige Struktur, eine Jahrhundertausstellung kuenstlerischer Strukturgeschichte. Die Aussteller sind sich des Fragmentcharakters ihrer Bemuehungen bewusst und erheben keinerlei Alleinvertretungsanspruch. Sie verstehen ihren Ansatz als Angebot, die Kunst aus dieser speziellen Perspektive zu betrachten. Oder besser, aus den drei verschiedenen Perspektiven, die in den drei Haeusern inszeniert wurden. Der Blick bezieht dabei alle vorstellbaren Kunstgattungen mit ein: Malerei, Skulptur, Graphik, Photographie, Buch- und Medienkunst, Design, Architektur, Theater, Film, Tanz und Musik. Die Chronologie tritt mit dieser Entscheidung in den Hintergrund - ist aber nicht voellig ausgeblendet. Es geht nicht nur um den kuenstlerischen Ueberblick ueber die Kunst, es geht auch darum, Geschichte im Spiegel der Kunst sichtbar zu machen. Und Geschichte ist ohne Chronologie nicht vorstellbar.

Analog zur architektonischen Chronologie der Ausstellungsorte, wird die Thematik zukunftsorientierter. 'Gewalt der Kunst' im Alten Museum, 'Geist und Materie' in der Neuen Nationalgalerie, 'Collage-Montage' im Hamburger Bahnhof. Frappierender ist allerdings die thematische Verbindung zu ihrer architektonischen Physiognomie: 'Gewalt und Kunst' mit seinem Fokus auf das "aesthetische Totalphaenomen" (P.-K. Schuster, Einfuehrung, 17) ist im Schinkelschen Alten Museum, einem ganz im Geiste des Gesamtkunstwerks errichteten Hause, zu sehen. 'Geist und Materie' findet man in der schwebenden Glasarchitektur Mies van der Rohes und 'Collage-Montage' repraesentiert der postmodern montierte und verspielte Hamburger Bahnhof.

"Die Gewalt der Kunst" thematisiert den Uebergriff der Kunst auf die Politik und spannt den Bogen viel weiter zurueck als nur ueber dieses Jahrhundert. Sie geht von Duerers "Aesthetischem Diskurs" aus, in dem dieser die Macht der Kuenstler resp. seine Gewalt mit der goettlichen Schoepfungs- und Zerstoerungsmacht gleichsetzt. Der Kunst wird analog eine gesellschaftsveraendernde Kraft zugeschrieben. "Aus dieser Selbstverklaerung des Kuenstlers zum eigentlichen Menschen und dem daran sichtbar werdenden schier grenzenlosen deutschen Glauben an die lebensgestaltenden und lebensveraendernden Maechte des Aesthetischen entwickelt sie die Themenstellung..." (P.-K. Schuster und A. Baernreuther, Die Gewalt der Kunst, 25). Prominente Portraits und Selbstportraits, wie z.B. Beckmanns Selbstbildnis mit Smoking, 1927, Lanzingers Bannertraeger (Hitler), 1937, oder auch Beuys La rivoluzione siamo Noi, 1970/71, werden zusammengebracht. Demgegenueber stehen idealische oder auch kritische Welterloesungsprogramme, die zum alle Lebensbereiche umfassenden Gesamtkunstwerk stilisiert sind. Gerade von der Kunst und ihrer erzieherischen Wirkung sei in Deutschland staendig das Hoechste erwartet worden. Dieser Glaube an die Macht der Kunst gipfelte in der Suche nach dem 'Neuen Menschen'. Zu den Mythen der Erneuerung durch Kunst gehoeren die so unterschiedlichen Kunstrichtungen in Ost und West nach 1945 ebenso wie die "Neuen Helden" von Baselitz oder die Rueckgewinnung des Menschen durch die soziale Plastik bei Beuys.

Auch wenn dieses Frage vermieden werden sollte: an dieser Stelle geht es um wesenhaft deutsche Kunst, die Wurzeln der Kunst werden bei deutschen Kuenstlern und Philosophen gesucht (Duerer, Nietzsche) und es wird ein typisch deutsches Kuenstlerethos konstruiert. Die italienischen Futuristen werden da kurzerhand eingemeindet und andere europaeische Bewegungen wie die polnischen A.R. (artysci revolucyjni) oder die englischen Arts and Crafts ignoriert.

Der Rundgang durch die auf Gesellschaftsveraenderung zielende Kunst endete mit einem hell erleuchteten, leeren Raum von G. Merz. "Anschaulich wird das utopische Versprechen, nach einem Jahrhundert der Dunkelheit in ein durch Kunst bereitetes Licht zu treten. Bei Merz ist dieses Kunstversprechen zu negativer Kunsttheologie geworden." (P.-K. Schuster/A. Baernreuther, Die Gewalt der Kunst, 30).

"Geist und Materie" zeigt den geistigen Aufbruch der Moderne in Abstraktion, Ironie und Virtual Reality. Die ideologische Instrumentalisierung der Kunst auf der Grundlage einer Selbstvergottung des Kuenstlers weist den Weg zu den spirituellen Wurzeln der Kunst in Deutschland. Der Einzelne sah sich der Unendlichkeit des Universums gegenueber und versuchte die Relativitaet der Realitaet zu begreifen. Dies geschah haeufig "unter dem Einfluss theosophischer Lektuere: Sowohl Joseph Beuys als auch Yves Klein - um zwei Hauptfiguren zu benennen - haben sich intensiv mit den Rosenkreuzern respektive mit den anthroposophischen Lehren Rudolf Steiners beschaeftigt." (A. Schneider/J. Jaeger, Geist und Materie, 201). Kosmische Energien, mystische Kraefte, Wellen und Strahlen sind bis heute Teil der kuenstlerischen Phantasie. So ist das, was uns heute haeufig als nichtssagend abstrakt vorkommt, ein deutliches Bekenntnis zu hoeheren Kraeften, die eben nicht so einfach darstellbar sind.

Kandinskys Schrift "Das Geistige in der Kunst" markiert den Beginn dieser Metaphysik der Kunst. Sie reicht von der Farbmagie des Blauen Reiters ueber die gedankliche Tiefe Max Beckmanns bis hin zu den leuchtenden Farbfeldern Yves Kleins. Gelegentlich beschleicht den Betrachter der Verdacht, dass einige der Exponate durchaus auch unter einem der anderen beiden Themen zur Geltung gekommen waeren. Und richtig, es ist nur das Angebot der Aussteller. Es animiert, die Dinge auch unter anderen Fragestellungen zu betrachten. Die Zusammenstellung ist gelungen. Woher sonst koennte man wissen, dass Yves Kleins Globe terrestre von 1957 schon auf 1937 auf Beckmanns Sinnender Frau zu sehen ist?

Das Dritte Thema ist "Collage-Montage". Auf dem Hintergrund von Schoepferethos und realer, umfassender Zerstoerungskraft zerstueckelt auch die Kunst und setzt neu zusammen. In diesem Teil geht es am deutlichsten um die neuen kuenstlerischen Techniken zunaechst des Films, der den Schnitt als technisch praezises Handwerkszeug fordert, sowie den Herausforderungen der neuen digitalen Medien. Photographie, Video und Rauminstallationen, Sequenzen aus beruehmten Avantgarde-, Kuenstler- und Spielfilmen thematisieren das menschliche Gefuehl der Gespaltenheit wie der Moeglichkeitsfuelle im Maschinen- und Medienzeitalter. "War das Ende des 19. Jahrhunderts gepraegt durch einen schoepferisch dekadenten Aufbruch in die avantgardistische Moderne, so sieht sich das 20. Jahrhundert am Ende vor einem collagierten Truemmerhaufen der Euphorien und Ideologien, der Utopien und Visionen." (E. Blume/R. Maerz, Prinzip CollageMontage, 441). Nicht nur die Modularitaet von Kunst wird deutlich, sondern auch ihre Bewegung. Die Kunst geraet in Bewegung, wird getanzt von den Schlemmerschen Puppen des triadischen Balletts oder findet sich in den knirschenden Kompositionen Jean Tinguelys. In diesem Abschnitt finden sich sehr viel mehr einzelne monographische Beitraege, die aber durchweg einen sinnfaelligen Bezug zum Thema herstellen. Das "Aesthetik des Fragments" (C. Banz, Koerpercollage, 556), die ihre Wurzeln im 19. Jahrhundert hat, gewinnt heute eine andere Dimension. Die Welt ist Fragment und besteht nur noch aus einzelnen Informationsmodulen. Sie ist "zu einer einzigen, nicht mehr zu entwirrenden Collage disparat ablaufender politischer, wirtschaftlicher, kultureller und oekologischer Prozesse amalgamiert, deren nicht mehr fassbare Bilder taeglich millionenfach neu geschnitten und montiert den Erdball umkreisen." (E. Blume/R. Maerz, Prinzip CollageMontage, 412)

Klingt hier ein bisschen Zukunftsangst an? Soll die Kunst hier neue ideale Reiche, troestende Utopien schaffen? Dieser Vermutung setzt sich der abschliessende Aufsatz des Katalogs entgegen. Moritz Wullen beschreibt "Das Deutsche als aesthetische Unmoeglichkeit". Mit Rueckgriff auf Sebastian Franck und Wilhelm Wackenroeder beschreibt er das Deutsche als kommunikationsuebergreifende Sinntotalitaet. Das Bild entspricht der Kunst 1:1. Der Versuch, diese Konvergenz herzustellen, wird anschaulich durch Hitlers fotografische Gestusstudien gezeigt. Heute sind diese Ansprueche laengst verfallen. Kunst spricht fuer sich. Die Sprache kann das Werk nicht ersetzen, sie kann hoechstens ergaenzen. Und so schlaegt Wullen auch eine gekonnte Bresche fuer den Katalog, der im uebrigen sehr gut zusammengestellte und reproduzierte Abbildungen enthaelt. Der Text des Kataloges soll die Bilder nicht ersetzen. Er soll Informationen liefern.

Schon heute ist der Mensch einer massiven Informationsflut ausgesetzt. Jeder greift auf unterschiedliche Informationen zu. Information wird etwas Subjektives. Das Wissen um die Welt und ihre Prozesse wird damit auch subjektiv. Es gibt nur noch erfahrbare Ausschnitte. Macht besitzt letztendlich derjenige, der die Informationen kanalisieren kann, der in der Lage ist, dem ungezielten Strom eine Struktur zu verleihen. Die akustische Kapitulation vor dieser Flut ist Techno: "Der Soundtrack der nicht mehr konsumierbaren, nur noch horizontal verlaufenden, alles verdraengenden Informationsflut sind die elektronisch kompilierten Beats der Technomusik." (E. Blume/R. Maerz, Prinzip CollageMontage, 441)

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