B. Studer Immenhauser: Verwaltung zwischen Innovation und Tradition

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Titel
Verwaltung zwischen Innovation und Tradition. Die Stadt Bern und ihr Untertanengebiet 1250-1550


Autor(en)
Studer Immenhauser, Barbara
Reihe
Mittelalter-Forschungen 19
Erschienen
Ostfildern 2006: Jan Thorbecke Verlag
Anzahl Seiten
500 S.
Preis
€ 78,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Aumüller, Graduiertenkolleg Archiv-Macht-Wissen, Universität Bielefeld

Schwer liegt das 500 Seiten umfassende Werk von Barbara Studer Immenhauser in der Hand, prächtig anzusehen ist es ebenfalls. Der Titel macht neugierig – Innovation und Tradition im Zusammenhang mit Verwaltung verspricht eine interessante Mischung, zumal die Verwaltungsgeschichte städtischer Territorien ein Desiderat darstellt. Außerdem wendet Studer Immenhauser zum ersten Mal das Konzept der Innovation auf die Untersuchung historischer Verwaltungen an. Dass aber auf die im Titel genannte Tradition gar nicht eingegangen wird, ist bedauerlich.

Ausgangspunkt der Untersuchung ist der Befund, dass das spät gegründete, verkehrstechnisch ungünstig gelegene und mit etwa 5000 Einwohnern vergleichsweise kleine Bern zu Mitte des 16. Jahrhunderts über das größte städtische Untertanengebiet nördlich der Alpen herrschte. Studer Immenhauser fragt nach den Ursachen und Rahmenbedingungen, die dazu führten, dass Bern sich dieses Gebiet aneignen konnte. Neben grundsätzlichen Voraussetzungen stehen für die Autorin der Verwaltungsaufbau in Stadt und Landschaft im Mittelpunkt des Interesses.

Da die Berner Verwaltung bis 1798 unverändert gut funktionierte, geht die Autorin von der (im weiteren Verlauf der Arbeit falsifizierten) Hypothese aus, „dass die regierende bernische Oberschicht in wichtigen Bereichen innovativer vorgegangen ist als die Räte anderer Städte“ (S. 3). Unter einer innovativen Verwaltung versteht sie eine „Verwaltungsmethode […], die sich qualitativ von bereits vorhandenen Methoden unterscheidet und sich ihnen gegenüber durchzusetzen vermag“ (S. 4). Die Autorin definiert Verwaltung in Anlehnung an Dietmar Willoweit „als Mittel und Weg zur Herrschaftsverwirklichung und -erhaltung“. 1 Andere, vor allem neuere Überlegungen zum Bereich Verwaltung, etwa von Peter Becker, Stefan Haas oder Cornelia Vismann, die für die theoretische Fundierung dieser Studie sicherlich anregend gewesen wären, sucht man allerdings ebenso vergeblich wie die theoretischen Ansätze von Max Weber. 2

Der erste Teil der Arbeit beginnt mit einem Überblick über die Berner Verfassungsgeschichte. Es folgt die Entwicklung der Verwaltungsorgane mit einzelnen Kapiteln über den Rat und seine Amtsträger, über die Kanzlei und das Verwaltungsschriftgut, über die Finanzverwaltung, den Handel und das Gewerbe, über Aufbau und Erhaltung der Infrastruktur sowie über das Gerichtswesen. Ausgeklammert bleiben das Militärwesen sowie kirchliche Angelegenheiten. Den Abschluss dieses Teils bildet ein knapper Vergleich der Berner Verwaltung mit anderen Städten. Der Untersuchungszeitraum von 1250 bis 1550 orientiert sich am Territorialisierungsprozess der Stadt, der im Großen und Ganzen um 1550 abgeschlossen war.

Methodisch orientiert sich Studer Immenhauser an der „konventionelle[n] Methode der historischen Quelleninterpretation“, die um einen „kollektivbiographischen Ansatz“ (S. 5) erweitert wurde. Dessen Ergebnisse lassen allerdings zu wünschen übrig, da Angaben zu den verschiedenen Schichten („obere Mittelschicht“, „unteres Segment der städtischen Mittelschicht“, „unterste[s] Ende der Mittelschicht“) nicht zusammenhängend erläutert werden und wenig aussagekräftig bleiben.

Ausführlich spürt die Autorin den verschiedensten Stadtberner Verwaltungsämtern nach. Es gelingt ihr, dem Leser die Komplexität einer spätmittelalterlichen städtischen Verwaltung, die um das Jahr 1550 etwa 150 Personen umfasste, eindrucksvoll vor Augen zu führen, was ein großes Verdienst der Studie darstellt. Leider geht die Breite zum Teil auf Kosten der Tiefe. So ist zwar die gründliche Behandlung beinahe aller städtischen Ämter eine enorme Leistung, es stellt sich jedoch die Frage, inwiefern etwa die Untersuchung der „Inlässerknechte“ oder „Gloggenrüster“ für die übergeordnete Fragestellung zielführend war. Zugleich wäre eine komplexere Analyse der Kanzlei, die für Studer Immenhauser das „Nervenzentrum“ der gesamten Verwaltung bildete, wünschenswert gewesen. So merkt sie lediglich an, dass der für die Geschicke der Stadt so wichtige Murtenkrieg ohne die Arbeit des Stadtschreibers anders ausgegangen wäre. Hier verpasst sie die Chance zu zeigen, wie Verwaltung konkret funktionierte und welchen Einfluss sie hatte.

Der Vergleich der Berner Situation mit anderen Städten zeigt deutliche Parallelen sowohl in der städtischen Verfassung als auch in der Verwaltungsorganisation. Einen Unterschied sieht die Autorin zum einen darin, dass in Bern nie ein Bürgermeisteramt ausgebildet wurde, da der königliche Schultheiß bereits im 13. Jahrhundert ebenso ein Vertreter der Bürgerschaft wie des Königs war, weshalb ein Bedürfnis nach einem Bürgermeister nicht entstand. Damit korrespondiert eine zweite Besonderheit: Dem Rat gelang es schon früh, das Gericht und das Schultheißenamt zu städtisch beeinflussten Institutionen zu machen, konnte also bereits um die Mitte des 13. Jahrhunderts selbständiger handeln als irgendeine andere Reichsstadt. Eine dritte Eigentümlichkeit schließlich betrifft die hohe Anzahl der zu vergebenden Posten, was vor allem am Umfang des Großen Rats mit 200 bis 400 Personen sowie an den vielen Vogteiämtern lag, und die damit zusammenhängende Beteiligung nahezu aller Haushalte an der „Regierungsverantwortung“ (S. 196). Allerdings sei nicht zu erkennen, dass die Berner Verwaltung besonders innovativ gehandelt hätte: Die erwähnte Stabilität sei vor allem durch „Standortvorteile“ bedingt worden, die Verwaltung selbst habe nie prospektiv agiert und nur träge reagiert (S. 197).

Im zweiten Teil der Studie untersucht Studer Immenhauser den Erwerb und die Verwaltung des Berner Landgebiets. Dass Bern schon früh mit dem Erwerb von Territorien begann und dies länger als andere Städte weiterführte, stellt für Studer Immenhauser eine der Ursachen für die außerordentliche Größe der Landschaft dar. Insbesondere die Verfassungsreform von 1294, die zur Folge hatte, dass die Adelsgeschlechter und Notablenfamilien zu maßgeblichen Entscheidungsträgern in der Stadt wurden, hatte zu diesem lang anhaltenden Erwerbungsprozess beigetragen. Vor allem diese aristokratische Führungsschicht hatte, viel eher als die von Zunftvertretern geleiteten Städte, Interesse an einem großen Territorium, vielen Steuerzahlern und einer großen Kriegsmannschaft. In diesem Punkt ähnelten sich die Berner und Nürnberger Verhältnisse stark, denn auch in der oberdeutschen Reichsstadt gelang es den Zünften nicht, einen erheblichen Einfluss auf das städtische Regiment und die hier ebenfalls aktiv betriebene Umlandpolitik zu erlangen.

Allerdings war, neben einer aktiven Bündnispolitik, das im 14. Jahrhundert praktizierte Vorgehen Berns, den Landerwerbsprozess mit und nicht gegen die Landbevölkerung zu vollziehen, innovativ und ausschlaggebend für den Erfolg bei der Ausdehnung des städtischen Herrschaftsgebiets. Doch bei der Untersuchung einiger für die Verwaltungssituation vor und nach dem Erwerb typischer Vogteien kommt Studer Immenhauser zu dem Schluss, dass Bern noch zu Beginn des 16. Jahrhunderts dem Modell der spätmittelalterlichen adeligen Herrschaftsverwaltung verhaftet war, die sich durch Einfachheit und Schriftarmut auszeichnete. Im Gegensatz zu fürstlichen und anderen städtischen Territorien war die herrschaftliche Durchdringung der Berner Gebiete schwach, obwohl es seit den 1470er-Jahren gewisse Bemühungen um eine Intensivierung gab. Gerade das zunächst innovative Verhalten beim Herrschaftserwerb sei somit für die Schwierigkeiten bei der Herrschaftsverdichtung verantwortlich gewesen, da Bern sich an alte Zusagen und Verpflichtungen zu halten hatte. Vom Herrschaftserwerb abgesehen, so Studer Immenhauser, lässt sich die Hypothese einer innovativen Verwaltung der Stadt und des Territoriums folglich auch in dieser Hinsicht nicht aufrechterhalten.

Ein etwas aufmerksameres Lektorat wäre der Lesefreude zuträglich gewesen; Zahlendreher (S. 123 Anm. 622) und Stilblüten wie etwa die „Inbetriebnahme“ von Büchern (S. 27), „Sesseltanz“ (S. 31) oder „Lebensticket“ (S. 33) hätten vermieden werden können, unrichtige Quellenangaben wären vielleicht zu verhindern gewesen. 3 Unbefriedigend sind auch die Karten, die zu klein, zu unübersichtlich und kaum aussagekräftig sind.

Mit ihrer Dissertation legt Barbara Studer Immenhauser eine Studie vor, die die zunächst geweckten Hoffnungen nur teilweise einlöst. Wo es ihr gelingt, liegt es weniger an dem von ihr verwendeten Innovationskonzept, das aufgesetzt wirkt und förderungsstrategischen Rücksichten geschuldet sein dürfte, als vielmehr an der ungeheuren und beeindruckenden Materialfülle. Somit ist die Studie ein wichtiger Baustein, um die bisherige Forschungslücke zur Verwaltungsgeschichte städtischer Territorien zu füllen. Darüber hinaus wird die regionalgeschichtliche Forschung von ihr profitieren und auch jeder, der etwas über den Aufbau und das Personal einer städtischen Verwaltung im Spätmittelalter erfahren möchte, wird diese Arbeit gerne zur Hand nehmen.

Anmerkungen:
1 Willoweit, Dietmar, Die Entwicklung und Verwaltung der spätmittelalterlichen Landesherrschaft, in: Jeserich, Kurt u.a. (Hg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte Bd. 1, Stuttgart 1983, S. 66-138, hier S. 81.
2 Becker, Peter, Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Verwaltung, in: Jahrbuch für europäische Verwaltungsgeschichte 15, 2003, S. 311-336; Haas, Stefan, Die Kultur der Verwaltung. Die Umsetzung der preußischen Reformen 1800-1848, Frankfurt a.M. 2005; Vismann, Cornelia, Akten. Medientechnik und Recht, 2. Aufl. Frankfurt a.M., 2001; Weber, Max, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5. Aufl. Tübingen 1972.
3 So ist der unter der Signatur StAB, B II 1 genannte – im Verzeichnis der Quellen nicht aufgeführte – „Gwelb Rodel“ (S. 95) mit diesen Angaben im betreffenden Archiv nicht auffindbar.

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