K. Finke (Hg.): DEFA-Film als nationales Kulturerbe?

Cover
Titel
DEFA-Film als nationales Kulturerbe?.


Herausgeber
Finke, Klaus
Reihe
Beiträge zur Film- und Fernsehwissenschaft 58
Erschienen
Berlin 2001: Vistas Verlag
Anzahl Seiten
169 S.
Preis
DM 30,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Günter Agde, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam, Finckensteinallee 11 12205 Berlin Tel/Fax 8 333 459.

Das Fragezeichen im Titel des angezeigten Buches kann man nicht einmal als Provokation ernstnehmen, denn natürlich hat sich überall – auch in den USA - durchgesetzt und gefestigt, dass die Filme der DEFA zum nationalen Kulturerbe Deutschlands gehören. Und: die verbale Titel-Anspielung mit „Erbe“ auf einen Terminus, mit dem die DDR-Kulturoberen propagandistisch gern hantierten, kann man getrost als Irreführung oder Lapsus der Titelgeber belächeln. Von den reichlich 100 Jahren deutscher Film- und Kinoentwicklung hat die Filmproduktion der DEFA immerhin für 40 Jahre den ostdeutschen Part deutscher Filmentwicklung bestritten.

Tatsächlich handelt es sich um ein historisch und filmhistorisch einzigartiges Phänomen: Alle Filme, die der untergegangene Staat DDR hat herstellen lassen, sind erhalten und komplett überliefert, ein abgeschlossenes Sammelgebiet, wie die Numismatiker sagen. Die Gesamtproduktion der Monopolfilmfirma DEFA (Deutsche Film-Aktiengesellschaft, so 1946 zu ihrer Gründung benannt) ist konservatorisch gesichert, nach modernen Standards katalogisiert und steht uneingeschränkt der Forschung zur Verfügung. Das Bundesarchiv / Filmarchiv Berlin garantiert die Erhaltung und Zugänglichkeit dieses enormen Filmstocks, der Progreß-Filmverleih Berlin regelt den Einsatz in den Kinos, die Firma Icestorm-Entertainment vermarktet viele DEFA-Filme per Video (erst jüngst ein ansehnliches Paket der DEFA-Wochenschau „Der Augenzeuge“), der Münchner Dokumentations-TV-Kanal „Planet“ sendet zahlreiche DEFA-Dokumentarfilme. Sukzessive wird auch das umfangreiche Schriftgut der Filmfirma, ihrer Leitung und ihrer technischen Gewerke, insbesondere die Produktionsakten zu jedem Film, durch das Bundesarchiv Berlin erschlossen.

Diese äußerst günstige Basis-Material-Lage erreichte mit der Gründung der DEFA-Stiftung 1999 ihre sichere, nutzerfreundliche juristische und auch finanzielle Fixierung. Die DEFA-Stiftung (nach dem bewährten Modell der Münchner Murnau-Stiftung für die NS-Filme) verwaltet die Rechte aller DEFA-Filme, die zwischen 1946 – 90 produziert wurden. Sie setzt sinnvollerweise einen Teil ihrer Einkünfte ein, um weitere Quellenaufbereitung zu befördern: durch Studien, Materialsammlungen, gezielte Recherchen und besonders durch das DEFA-Jahrbuch, das neue, auch marginale Materialien und Spezialrecherchen vorstellt, eine bemerkenswerte Perspektivenerweiterung. (Der Vorstand der Stiftung, Wolfgang Klaue, ehemals langjähriger Direktor des Staatlichen Filmarchivs der DDR, ein exzellenter Kenner der Materie, skizziert in dem angezeigten Band lakonisch und nüchtern Aufgaben und Ziele der Stiftung, S.63 ff.)

Das alles ist der einschlägigen Forschung bekannt. Und sie nutzt diese denkbar günstige Materialsituation auf eindrucksvolle Weise: die Zahl - auch internationaler - wissenschaftlicher Veranstaltungen und Veröffentlichungen zum DEFA-Film in allen seinen Spielarten ist nahezu unübersehbar und wächst stetig (Magisterarbeiten und Dissertationen eingeschlossen). Und fortschreitend werden auch DEFA-Filme in die außer-filmische historische Forschung einbezogen: nach anfänglichem langem Zögern haben mittlerweile viele Zeithistoriker erkannt, dass Filme bei sachlich-kritischem Hinterfragen einen Quellenwert eigener Art haben können. Viele Anzeichen deuten darauf hin, dass dieser Trend anhält.

Vor diesem Hintergrund muß man die Publikation sehen. Sie versammelt, wie ein Protokollband, Diskussionsbeiträge einer von der Universität Oldenburg ausgerichteten Sektion innerhalb des großen, bundesweiten Geschichtsforums „Getrennte Vergangenheit – gemeinsame Geschichte“ (1999 in Berlin).

Ihre Beiträge ordnen sich einerseits als eine besondere flankierende und auch attraktive Achse in dieses Forum ein. Ihr diesbezüglicher Stellenwert erschließt sich also erst im Kontext der gesamten Konferenz. Novum war freilich, dass jenes alle Disziplinen einbeziehende Forum zum erstenmal derart massiv und umfangreich den DEFA-Film in die DDR-Forschung als Quelle eigener Art einführte und - durch die generelle Seriosität der Beiträge – befestigte. Andererseits stellen sich die DEFA-Konferenzbeiträge aber auch in den Kontext bisheriger Publikationen zum DEFA-Film und müssen ihnen zugeordnet werden.

Gleich drei Beiträge (von Rüdiger Steinmetz, Irmgard Wilharm und Klaus Finke) diskutieren – teilweise heftig und mit kontroversen, auch abwegigen Argumenten - den Quellenwert von DEFA-Filmen. Man kann ihre Thesen im einzelnen durchaus weiter befragen, jedoch allein die Tatsache solchen Aufhebens und solchen Streits spricht für sich.

Ihre Argumentationen fokussieren zwei gegenüber liegende Positionen. Wenn man die DEFA-Filme in ihre historischen und sozialen Beziehungsgeflechte einordnet, ihre Bilder-Vorräte und ihre ideologischen Botschaften sachgemäß beschreibt, analysiert und bewertet und die Produktionsbedingungen einbezieht, dann wird die immense Kraft sichtbar, mit der diese Filme lebendig-plastische Auskünfte über Alltags-Befindlichkeiten der abgebildeten Menschen geben und „Hochrechnungen“ auf soziale Gruppen in der DDR gestatten. Wenn man freilich die DDR a priori als Unrechtsstaat oder als „Nachfolger“ des NS-Regimes oder als Pendant zum sowjetischen Stalinismus sieht, so wird man folglich auch deren Filme nicht als nationales Kulturgut und als kaum brauchbar für historische Forschung erkennen. Diese gewiss vereinfachende Alternative ist nicht neu (und im übertragenen Sinne auch nicht auf die Filmkunst begrenzt). Sie gewinnt hier insofern eine neue Qualität, als sie ultimativ und zugespitzt alle derzeit denkbaren Belege und Argumente beider Pole zusammenfasst. Insofern markiert die Publikation eine Scheidegrenze und ist allein schon deshalb verdienstvoll.

Dabei fällt auf (auch in anderen Beiträgen), dass Argumente sofort an Überzeugungskraft und Plausibilität gewinnen, wenn sie in den Diskurs der Filmbilder eingebettet werden. Was ein weiteres Mal beweist, dass eine Debatte über Filme unzureichend und folglich arm bleiben muß, wenn sie nur den Transport von Ideologien beschreibt und das unverwechselbar-einmalige Charakteristikum von Film ignoriert, nämlich die Filmsprache, also das Miteinander-Wirken von Fabel und Bild im Ablauf, Musik und Geräusch, Dialog incl. Stimmfärbung und Diktion von Schauspielern, Licht, Kamerafahrten und -winkel, Schnitt und Rhythmus, d.h. alle wirklichen Konstituanten der Kunstgattung Film. Irmgard Wilharm formuliert treffend: „Filmquellen sind für Forschungen, die die Ebene kollektiver Erfahrungen einbeziehen, an Aussagekraft kaum zu übertreffen.“ (S.91)

Peter Zimmermann referiert über Dokumentarfilm und Reportagen der DDR und BRD im Kalten Krieg und zur Zeit der Wiedervereinigung, ein weites Feld, zu dem im Stuttgarter Dokumentarfilmzentrum (das Zimmermann leitet), zu den jährlichen Leipziger Dokumentarfilmfestivals in Form von Colloquien und in diversen anderen Spezialpublikationen schon viele Einzelerkenntnisse geliefert wurden. Sein Überblick ist schlüssig, zudem brillant geschrieben, aber hinter vielen seiner griffigen Formulierungen lässt Zimmermann noch viel Forschungsbedarf erkennen.

Andere Einzelstudien zu Filmen bieten tiefere Einblicke, wenn sie quasi zwangsläufig tatsächliche Bildstrukturen und Figurenkonstrukte vor den Ideologie-Folien darstellen: Helmut Freiwald über Günther Rückers „Die besten Jahre“, Klaus Finke über Peter Kahanes „Die Architekten“, Gebhard Moldenhauer über DEFA-Filme als „Heimatfilme“.

Peter Stettner bietet einen sehr interessanten Ansatz für weitere Forschungen (S. 149 ff.): er zeichnet faktenreich den deutsch-deutschen Filmaustausch 1947 bis 1951 nach (untermauert mit soliden Daten) und verweist damit auf eine – sagen wir – Schieflage vieler bisheriger Studien zum DEFA-Film. Zur Historisierung von DEFA-Filmen gehört auch unabdingbar die Rezeption und die Distribution dieser Filme in den Kinos der DDR. Denn natürlich waren die DEFA-Filme nur ein Bestandteil in den Repertoires der Kinos und mussten sich fortwährend der gesunden Konkurrenz zu anderen Filmen anderer Länder stellen. Auch wenn die Kassenberichte der DDR-Kinos (als nun wirklich fundamentale Quelle für den Besuch der Vorstellungen) nicht erhalten sind, so lässt sich doch aus der Analyse der Spielpläne noch sehr viel mehr über das Kinoverhalten und den wirklichen Stellenwert der DEFA-Filme im Alltag der DDR entnehmen als bisher bekannt.

Auch die Beiträge von Dieter Wiedemann, der einen Systemvergleich jugendkultureller Treffpunkte in einschlägigen Spielfilmen der DEFA und der BRD versucht, und Xavier Carpentier-Tanguy „Die Maske und der Spiegel. Zum 11. Plenum des ZK der SED 1965“ bieten nützliche Lektüre. Weshalb aber Letzterer Wolfgang Englers wichtigen Ansatz (in: Die Ostdeutschen, Berlin 2000), die DDR-Kunst Mitte der 60er Jahre- und also auch die Filme im Umkreis jenes Plenums! – als Umbruch der DDR zur Moderne zu orten, völlig übersieht, ist wenig verständlich. (Dies wäre eh’ eine wissenschaftliche Herausforderung: die Rezeption jenes ominösen Plenums seit 1989 zu analysieren!)

Wie die anderen Bände der verdienstvollen Reihe (die dauerhaft beim vistas-Verlag Berlin angesiedelt ist), so bietet auch dieser ein lesefreundliches Layout (Blocksatz, herausgehobene Überschriften und Zwischentitel, Fußnoten organisch eingeordnet). Ein paar Tippfehler, auch gelegentlich uneinheitliche Schreibweisen von Filmtiteln und Produktionsjahren und einige unscharfe Nummerierungen hätte ein aufmerksamer Lektor wohl herausfischen können.

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