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Titel
Menschenfalle Moskau. Exil und stalinistische Verfolgung


Autor(en)
Müller, Reinhard
Erschienen
Anzahl Seiten
501 S.
Preis
DM 68,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Simone Barck, ZZF

Die Geschichte deutscher Politemigranten in der von ihnen als „Vaterland aller Werktätigen“ projizierten Sowjetunion hat bisher nur höchst fragmentarisch geschrieben werden können. Seitdem nach dem Ende des Sowjetimperiums erstmals für die Wissenschaft Zugang zu den geheimen Quellen der Verfolgung und des Terrors möglich wurde, kann man von einer völlig neuen Etappe der Forschung sprechen.

Nachdem vor allem im „Schwarzbuch des Kommunismus“ (München 1998) der faktengestützte Überblick über die Phasen, Abläufe und Opfer des Terrors vorgelegt worden ist, konnte, hiervon ausgehend, begonnen werden, die Schicksale der deutschen Politemigranten und der deutschsprachigen Facharbeiter und Spezialisten genauer zu untersuchen.

Der Umfang und die Einzigartigkeit der Quellen des NKWD/KGB sowie die der KI (einschließlich der zu ihr gehörenden nationalen kommunistischen Parteien) ermöglichten es dabei, sowohl für den Umfang wie für die Intensität der von Verfolgung und Terror betroffenen Personen ganz neue Aussagen zu machen.

Der Autor vorliegender Studie hat als Mitarbeiter des Hamburger Instituts für Sozialforschung seit Beginn der 90er Jahre eine Anzahl von Publikationen (Die Säuberung, 1991, Die Akte Wehner, 1993 u.a.) vorgelegt, die auf der Grundlage solcher erstmals ausgewerteter Dokumente wichtige Informationen zu den Strukturen und Mechanismen des stalinistischen Verfolgungs- und Repressionssystems enthalten sowie eine Vielzahl von bisher ungeklärten Schicksalen beleuchten. Dies konnte er, wie er im Einleitungskapitel seines Buches, in das Teile dieser Studien eingegangen sind, mitteilt, aufgrund der Tätigkeit einer Reihe von Moskauer Kolleginnen und Kollegen, die ihm „den Zugang zu manchen Beständen in den Moskauer ‚Geheimarchiven’ ermöglichten“. (10) Sie, die hier leider namenlos bleiben, hätte man gerne kennen gelernt, denn jeder, der einmal die verwirrenden und frustrierenden Verhältnisse in russischen Archiven erlebt hat, wird die Größe ihres Arbeitsanteils ermessen können.

Vorliegendes Buch ist also das Ergebnis jahrelanger aufwendiger und beharrlicher Recherchen und kann aufgrund seines Materialwerts nicht hoch genug gewertet werden. Die Besonderheit der ihm zugrunde liegenden Quellen/Akten, die in den meisten Fällen dem deutschsprachigen Benutzer bisher nicht zugänglich waren, ergibt sich daraus, dass es sich vor allem um Täter-Quellen (NKWD-Befehle, sog. Agentur-Material, Verhör-Protokolle, Dossiers, Spitzel- und Denunziationsberichte) handelt, die mit besonderer textkritischer Aufmerksamkeit benutzt werden müssen.

Die vom Verfasser hierfür entwickelte Methode einer „dokumentierenden Darstellungsweise“ (57) oder auch „dokumentierende(r) Analyse“ (16), was das ausführliche Zitieren oder auch vollständige Abdrucken ganzer Dokumente meint (so beträgt der Anteil der zitierten Dokumente etwa 25 Prozent des gesamten Textes, davon 120 S. im Text und 20 S. im Anhang) ist ein akzeptables Verfahren, weil die Original-Quellen in ihren fabrizierten Aussagen und ihrem sozialdarwinistischen Stil einen unverstellten Einblick in die stalinistischen Verfolgungs-Praktiken und die sich in der Sprache spiegelnden totalitären Repressionsmechanismen gestatten und weil dadurch diese Quellen jeglicher weiterer Forschung zur Verfügung gestellt werden. Das ist sehr wichtig bei dem nach wie vor oder schon wieder erschwerten Zugang zu diesen Quellen. Nicht zuletzt können wir in der Verfremdung durch die Täter-Sprache die Persönlichkeiten der Opfer erkennen, die in manchen Fällen durch ihre Briefe und Eingaben auch direkt zu uns sprechen.

Im analytischen Verfahren stützt sich der Verfasser auf Michel Foucault ebenso wie auf Hannah Arendt oder Leo Trotzki. Dabei wirkt die häufige Berufung auf Hannah Arendts Analysen der totalitären Systeme am überzeugendsten, denn die Dokumente zeigen einmal mehr, wie klarsichtig ihr analytischer Blick auf den Stalinismus bereits ohne die empirische Kenntnis der erst jetzt ans Licht kommenden Quellen war.

Der mit diesem Buch vorliegende Beitrag zu einer Gewalt- und Mentalitätsgeschichte des Stalinismus versucht, in den ersten zwei Kapiteln unter den Stichworten „Logik des Terrors“ und „Opfer und Täter in Doppelgestalt“, übergreifende Phänomene des Gesamtkomplexes zu beschreiben.

Dabei wird für meinen Geschmack zuviel Belesenheit demonstriert, wobei allgemeine Verweise auf ganze Bücher, die ohnehin in einem umfänglichen Literaturverzeichnis am Endes des Buches aufgeführt sind, dem Leser in der Regel wenig nützen. Die Lesbarkeit wird durch einen überbordenden Fremdwortgebrauch sowie übertriebene Verweise und Anmerkungen stark beeinträchtigt, wenn z.B. manche Seiten mehr Fußnoten als Text enthalten. So erscheint es mir z.B. nicht nötig zu sein, bei der Bezugnahme auf „kafkaeske“ Vorgänge auf Kafkas Erzählung „Strafkolonie“ (25) zu verweisen.

Der vielstrapazierte Vergleich mit der Inquisition ermüdet eher, als das er hinsichtlich der Spezifik des stalinistischen Terrors aufklärend wirkt (44-46). Zumal der Verfasser selbst einräumt, dass ein „materialbezogener und durch Archivquellen gestützter Vergleich von mittelalterlichen, frühneuzeitlichen und stalinistischen neuzeitlichen Denunziations- und Verfolgungspraxen, von Folter und ‘Geständnis’, von Arbeitsteilung und Amtshilfe zwischen geistlicher und weltlicher Obrigkeit“ (46) noch zu leisten bleibt. So hat die bemühte Gleichsetzung von Partei und Kirche, die sich auf den Begriff der politischen Religion stützt, zwar manches für sich, kann jedoch die Frage nach dem Warum des anhaltenden „Gläubigseins“ nicht beantworten. Was ist z.B. denn damit gewonnen, wenn man das KI-Archiv als „Inquisitionsarchiv“ (58) bezeichnet? Dadurch, dass Müller die Ideologie, die weltanschauliche Lebensentscheidung („Internalisierte Weltanschauung“, S. 58) der Personen weitgehend bis völlig ignoriert, kann er auch deren Verhaltensweisen nicht überzeugend erklären, geschweige denn „verstehen“, beispielsweise die Denunzianten, die aus Parteidisziplin handelten, den unerschütterlichen Glauben an Stalin („Parteisoldaten“, 39), das Einhalten des Schweigegebots etc.

Kaum eine Rolle spielen bei M. die Utopien und Visionen, die für das Verhalten der Politemigranten eine Rolle spielten. Ihre zugegebenermaßen unbefriedigenden Erklärungsversuche werden ausschließlich mit der Elle unseres heute möglichen Wissens gemessen und auf diese Weise statt dekonstruierend analysiert nur ziemlich weitgehend moralisierend und unhistorisch verworfen.

Das Buch erzählt die Geschichte von einigen Dutzend Menschen, die vom NKWD 1936/37 zu Mitgliedern sogenannter „konterrevolutionären, terroristischen, trotzkistischen Spionageorganisation Wollenberg-Hoelz“ (429) erklärt wurden. Von dem nach „Plansoll“ insgesamt 70 Personen umfassenden Kreis konnten bisher 32 namentlich ermittelt werden, die im Anhang mit ihren biographischen Angaben (429-434) vorgestellt werden.

Bei der Konstruktion des NKWD spielte dabei eine zentrale Rolle, dass eine Reihe von ihnen sich gemeinsam zum Radio-Abhören der deutschen Wahlnachrichten am Abend des 5. März 1933 in der Moskauer Wohnung des Ehepaars Elsa und Hermann Taubenberger versammelt hatten. Der Tatbestand eines solchen geselligen Beisammenseins, eines harmlosen „Wetscher“, geriet nur wenige Jahre später in der Vorstellungswelt des NKWD zur Fama von Plattformbildung, zur Gründung einer trotzkistischen Gruppe, zur Konstruktion von „Kontaktschuld“, von „Netzen“ und „Verbindungen“, mit denen diese „Volksfeinde“ untereinander verbunden seien.

Ausführlicher widmet sich der Verfasser den Schicksalen von Zenzl Mühsam, Max Hoelz, Erich Wollenberg, Carola Neher, Olga Meese, Hans Schiff, Peter Holm, Herbert Brandt, Werner Rakow, Elsa und Hermann Taubenberger, Erich Tacke, Ernst Günther, Werner Hirsch.

Dabei steht im Zentrum des Buches Zenzl Mühsam und das zu recht, denn ihr Schicksal ist eines der außergewöhnlichsten im gewöhnlichen Stalinismus. Die Umstände ihrer dreimaligen Verhaftung durch das NKWD, ihre Lager- und Verbannungs-Jahre werden detailliert rekonstruiert. Aus den erstmals einsehbaren Verhörprotokollen ergibt sich das beeindruckende Bild einer nach sozialer Gerechtigkeit strebenden Frau, die ihr ganzes Leben für das Werk ihres 1934 von den Nazis ermordeten Mannes Erich Mühsam einsetzte.

Sie war am 16. Juli 1934 unmittelbar nach der Beerdigung ihres Mannes nach Prag geflohen, nachdem sie zuvor hatte mit ansehen müssen, „wie ein Mensch langsam zu Tode gequält wird.“ (149) Auf Einladung der Internationalen Roten Hilfe, durch deren Vorsitzende Helene Stassowa persönlich, entschloss sie sich, in der Sowjetunion zu bleiben, nachdem sie Erich Mühsams literarischen Nachlass nach Prag hatte retten können und in Moskau einen Aufbewahrungsort und eine Publikationsmöglichkeit für diesen angeboten bekam. Die Geschichte dieses Nachlasses zwischen Prag, Moskau und Berlin-DDR, die eine eigene Studie verdiente, wird hier in wichtigen Facetten mitgeliefert.

Zenzl Mühsam fand sich als völlig Unschuldige fast 19 Jahre in Haft und Verbannung, bis sie im Juni 1955 als über Siebzigjährige in die DDR ausreisen durfte, wo sie 1960, zwei Jahre vor ihrem Tod, noch von der Stasi zur „freiwilligen Zusammenarbeit“ (ein Zimmer in ihrer Wohnung sollte als konspirativer Treff dienen) genötigt wurde. Aus ihren Moskauer Verhör-Protokollen erfahren wir, dass sie sich trotz Folter wiederholt als nicht schuldig bekannte und betonte, dass sie weder Mitglied einer politischen Partei noch am politischen Kampf der Parteien teilgenommen habe. Wie ihr Mann stand sie jedoch den kommunistischen Parteien kritisch gegenüber, und wie er war sie anarchistisch, sozialistisch-libertär und militant antifaschistisch gesinnt. Sie hatte im westlichen Ausland viele Freunde in entsprechenden, vor allem anarcho-syndikalistischen Kreisen.

Zu wenig differenzierende Aufmerksamkeit widmet Müller ihrer Beziehung zu Helene Stassowa, mit der ihr Mann und sie selbst seit 1924 befreundet waren. So spricht er von der nur „verhängnisvollen“ Bekanntschaft und der „merkwürdigen Freundschaft“ (155), an der Zenzl bis zu ihrem Tode festgehalten habe. Ersteres betrifft die schon erwähnte Einladung in die Sowjetunion und zweites hat seine Ursache in der mehrfachen Bemühung (auch von Müller dokumentiert) Stassowas um Zenzls Freilassung bzw. Verbesserung ihrer Lebenssituation. Für Zenzl war auch gegenüber ihren anarchistischen Freunden maßgebend: „unser Erich schätzte diese Frau“ (162) und auch sie erlebte die sowjetische Kommunistin „rein menschlich“ am wärmsten.

Was ist also an dieser Freundschaft „merkwürdig“ in Zeiten der totalitären Entsolidarisierung, ja Atomisierung in der stalinistisch geprägten Gesellschaft? Zu einfach, wenn nicht gar falsch ist es wohl auch, von einer persönlichen Schuld Stassowas an Zenzls Schicksal (421) zu sprechen. Hier liegt eine Denkungsart zugrunde, nach der Stassowa die Witwe Mühsams bewusst in die „Menschenfalle Moskau“ gelockt hätte, wie dieser m.E. insgesamt reißerische Buch-Titel generell einen solchen kriminellen Intentionalismus suggeriert. Zu diesem Zeitpunkt konnte auch eine Stassowa nicht wissen, wie sich der stalinistische Terror entwickeln würde. Ihr eigene Gefährdung ist durch die Dimitroff-Tagebücher dokumentiert, die auch Müller, sogar doppelt, wenngleich ungenau zitiert. [1] Eine Problematisierung dieses Sachverhalts, in dessen Folge Stassowa ihre Funktion bei der Internationalen Roten Hilfe (IRH) verlor und seither Redakteurin bei der „Internationalen Literatur“ war, hätte zu beleuchten gehabt, dass jeder und jederzeit, auch der noch so hohe Partei-, Staats und auch NKWD-Funktionär, oft sogar gerade ein solcher, in die Terrormaschine geraten konnte. Umso höher ist ihre nicht ungefährliche Bemühung um Zenzl einzuschätzen. In diesem Fall scheint mir eine politische Voreingenommenheit, die eine Entscheidung der damaligen Akteure für das sozialistische Experiment für absurd hält, zu einer verzeichnenden Perspektive zu führen, unter der eine objektive Wertung leidet.

Auch an anderen Stellen, z.B. in der Passage über Brecht, ist davon etwas zu spüren. Ja, hier kommt es sogar zu recht bedenklichen Sach-Fehlern. Auf der Linie der seit den 90er Jahren sich mehrenden Versuche zur Demontage dieses Dichters liegend, widmet sich Müller Brechts um Aufklärung bittenden Briefen an Feuchtwanger und Dimitroff. Dabei behauptet er fälschlich, dass der (undatierte) Brief an Feuchtwanger, in dem Brecht Feuchtwanger bittet, sich „beim Sekretariat Stalin nach der (Carola) Neher zu erkundigen“[2], sich nicht mehr in der Großen Kommentierten Berliner und Frankfurter Ausgabe befindet, während er noch vorhanden sei in der Briefausgabe von 1981 Suhrkamp. Ein Blick in die neue Brecht-Ausgabe zeigt das Vorhandensein dieses Briefes, der hier sogar datiert ist auf Februar/März 1937. [3] Was soll dieser peinlich-falsche Vorwurf der Manipulation? Der höchst aufschlussreichen Mitteilung, dass Brecht (wie auch Ernst Busch) in den Maria Osten betreffenden NKWD-Akten als „Trotzkist“ bezeichnet wurde, geht Müller leider nicht weiter nach.

Es war danach durchaus nicht so sicher, dass er „wegen seiner Prominenz und mit Rückendeckung des Vorsitzenden des sowjetischen Schriftstellerverbandes, Michail Apletin [...] 1941 durch die Sowjetunion über Moskau und Wladiwostok in die USA weiterreisen“ (265/266) konnte. Nebenbei: Apletin war lediglich der Leiter der auch für die Belange der deutschen Sektion zuständigen Ausländischen Kommission im Sowjetischen Schriftstellerverband, während Alexander Fadejew der allmächtige Generalsekretär war.

Solche kleineren Sachfehler, z. B. wird behauptet, dass Maria Osten Feuchtwanger in die UdSSR eingeladen hätte, tatsächlich war er vom Schriftstellerverband und der VOKS (Allunionsorganisation für kulturelle Verbindungen) eingeladen worden - sind leicht zu tilgen.

Die Lektüre des wegen seines Themas alles andere als „angenehmen“ Buches bereichert unser Wissen über die ergreifenden Einzelschicksale hinaus vor allem in zweierlei Hinsicht: zum einen stellt sich die völlige Fiktionalität der vom NKWD erhobenen Beschuldigungen heraus, zum anderen müssen wir die Zusammenarbeit von NKWD und Parteiinstanzen von KPD und KI als erwiesen ansehen. Zum prekären Denunziantenwesen, als solche „Seksoti“ (Geheimen Mitarbeiter) werden u. a. vorgestellt Hans Schiff, Helmut Damerius, Hans Rodenberg und Gustav von Wangenheim, ist Müllers Feststellung nur zu unterstreichen, dass „keineswegs alle Politemigranten ‘Berichte’ oder denunziatorische Meldungen an die ‘betreffende Stelle“, wie das NKWD schamhaft und geheimnisvoll genannt wurde“ (38), gerichtet haben. Zu Herbert Wehners „sprudelnder Berichterstattung beim NKWD“ (280), von der in seiner Rolle als „Trotzkismus-Experte der KPD“ im Zusammenhang mit Zenzl Mühsam einige eindringliche Kostproben gegeben werden, kündigt der Verfasser eine „ausführliche Analyse und Dokumentation“ (278) an, auf die man gespannt sein darf.

1) S. 262 und 378 wird auf eine Eintragung vom 11. November 1937 bezug genommen: „Privatgespräch mit Stalin. Wahrscheinlich werden wir auch Stassowa verhaften. Sie hat sich als Schurkin erwiesen.“, Georgi Dimitroff, Tagebücher 1933-1943, hg. Von Bernhard H. BayerleinBerlin 2000, S.165.
2) Günter Glaeser, Briefe 1913-1956, Berlin 1983, Bd.1, S. 309-310 und Bd. 2, S.118. hier undatiert.
3) Dieses Datum wäre auf Dezember 1936 zu korrigieren, denn Maria Osten sollte nämlich Feuchtwanger diesen Brief vor seiner Moskau-Reise übergeben.

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