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Titel
Polski Berlin - Migration aus Polen nach Berlin. Integrations- und Transnationalisierungsprozesse 1945 bis Ende der 1990er Jahre


Autor(en)
Miera, Frauke
Erschienen
Anzahl Seiten
391 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Norbert Cyrus, Interdisziplinäres Zentrum für Bildung und Kommunikation in Migrationsprozessen, Universität Oldenburg

Polen stellt eines der wichtigsten klassischen Auswanderungsländer der Neuzeit dar – mit Deutschland als einem wichtigen Zielland. Mit ihrer am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaften der Freien Universität Berlin als Dissertation eingereichten und im Verlag Westfälisches Dampfboot veröffentlichten Untersuchung hat Frauke Miera nun erstmals für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts einen umfassenden Überblick zur „Migration aus Polen“ nach Deutschland vorgelegt. Dabei trifft die im Titel ausgewiesene Beschränkung auf das „polnische Berlin“ allein für die fokussierte Rekonstruktion der sozialen Prozesse der Integration und Transnationalisierung der Gruppe der Zuwanderer aus Polen in den 1980er- und 1990er-Jahren zu. Insgesamt beschreibt Miera für den Zeitraum 1945 bis Ende der 1990er-Jahre aber viel umfassender die politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen sowie die Muster der Migration aus Polen. Sie geht sowohl auf die Bundesrepublik ein als auch auf die DDR und das vereinigte Deutschland seit 1990.

Unter dem Begriff der „Migration aus Polen“ fasst Miera konsequenterweise so unterschiedliche Statusgruppen wie die polnischen „Displaced Persons“ der unmittelbaren Nachkriegszeit, die als Aussiedler aufgenommenen „Volksdeutschen“, die als „Flüchtlinge vor dem Kommunismus“ bis 1989 geduldeten polnischen Auswanderer sowie die Heiratsmigrantinnen, illegalen Migranten und temporären Wanderarbeiter der 1990er-Jahre. Die Untersuchung bietet hervorragendes Anschauungsmaterial für den Wandel der Statuszuschreibung, etwa in den 1980er-Jahren vom polnischen Freiheitskämpfer zum Wirtschaftsflüchtling. Die umfassende Darstellung macht nicht nur die Komplexität der Zuwanderung aus Polen sichtbar, sondern auch die mit der behördlichen Zuschreibung eines bestimmten rechtlichen Status verbundenen Dynamiken von Inklusion und Exklusion.

Nach einer leider sehr kursorisch geratenen einleitenden Darstellung des Forschungsstandes und der Forschungsinteressen wird die Untersuchung in zwei Teilen entwickelt. Im ersten Teil behandelt Miera die „Migration aus Polen nach West- und Ostdeutschland“ während des Systemkonfliktes bis zum Ende der 1980er-Jahre. Dieser Teil beruht vor allem auf einer Auswertung von Sekundärliteratur und entfaltet die These, dass „die Migrations- und Integrationsprozesse zwischen Polen und den westlichen Besatzungszonen bzw. der BRD in der Zeit von 1945 bis Ende der 1980er Jahre in erster Linie durch die historisch belasteten deutsch-polnischen Beziehungen, nationalstaatlichen Prinzipien und den politischen Systemkonflikt bestimmt [gewesen] sind“ (S. 13). Im zweiten Teil wird das „deutsch-polnische Migrationssystem seit den Transformationsprozessen Ende der 80er bis Ende der 90er Jahre“ dargestellt. Die allgemeine Übersicht zu den veränderten Rahmenbedingungen der Einreise und des Aufenthalts polnischer Staatsangehöriger folgt der einleitend formulierten These: „Seit den politischen und sozialen Umbrüchen in Polen Ende der 80er Jahre und der deutsch-deutschen Vereinigung gewinnen ökonomische Interessen und das Prinzip der wirtschaftlichen Verwertbarkeit von MigrantInnen eine zentrale Bedeutung in der Regulation von Migration und Integration.“ (S. 13)

Letztlich wird diese These jedoch nicht wirklich untersucht und überzeugend belegt. Vielmehr liegt der Schwerpunkt der Darstellung im zweiten Teil auf einer Rekonstruktion der sozialen Prozesse der Integration und Transnationalisierung der Gruppe der Migranten, die aus Polen nach Berlin gekommen sind. Dem politikwissenschaftlichen Ansatz folgend ist das Ziel dabei keine Bestandsaufnahme der lebensweltlichen Sozialintegration der polnischen Zuwanderer, sondern die Darstellung der Systemintegration. Dazu werden heterogene Materialien herangezogen – Gesetzestexte, Mediendarstellungen, Expertenbefragungen, Zeitzeugeninterviews, graue Literatur und sonstige Sekundärliteratur. Dieser quellenplurale Zugang ermöglicht eine umfassende und zugleich detaillierte Beschreibung.

Deutlich wird, dass sich die Aufnahmebedingungen unter dem Einfluss politischer Großwetterlagen (Kalter Krieg) und nationaler Interessenlagen gewandelt haben. Dabei kann Miera zeigen, dass die bis in die 1980er-Jahre gewährte großzügige Duldung des Aufenthaltes polnischer Zuwanderer in Westdeutschland bzw. die Anwerbung und Beschäftigung als Vertragsarbeitnehmer oder Grenzgänger in der DDR den Hintergrund für die Ausgestaltung der Aufnahme- und Kontrollpolitiken nach 1990 bildeten. Miera bestätigt mit ihrer Untersuchung den Befund, dass die polnische Community in Berlin fragmentiert und unsichtbar ist: „Die Gründe hierfür sind in der besonderen deutsch-polnischen Migrationsgeschichte, eingebettet in die deutsch-polnischen Beziehungen, dem Systemkonflikt und den Transformationsprozessen, sowie in den strukturellen Integrationsvoraussetzungen in Berlin und der Heterogenität der Zuwanderungsgruppe zu suchen.“ (S. 221) Die fragmentierte Politik der Aufnahme und Duldung von Zuwanderung aus Polen führte zu einer Fragmentierung der Gruppe der Zuwanderer aus Polen und erschwerte so eine übergreifende Gruppenbildung. Leider diskutiert Miera die Anteile und Wechselwirkungen der genannten Faktoren nicht intensiver.

Sie hat eine umfangreiche Sammlung von Materialien zusammengetragen und ausgewertet, die mit einem Anmerkungsapparat von fast 100 Seiten nachgewiesen werden. Kritisch anzumerken ist, dass die verwendeten Informationen der verschiedenen Quellengattungen eher unreflektiert zu einer objektivistischen Beschreibung zusammengefügt werden. Die Problematik der Kontextabhängigkeit von Zeitzeugenbefragungen, aber auch der systematischen Verzerrung von Presseberichten, die sich an journalistischen Anforderungen und vermuteten Lesererwartungen orientieren, wird nicht immer in der notwendigen Weise beachtet. Die Darstellungen werden damit nicht zwangsläufig falsch, doch können mitunter Zweifel aufkommen. So formuliert Miera zum Beispiel im Zusammenhang mit dem Vorenthalten von Lohn illegal beschäftigter polnischer Arbeitnehmer mit Verweis auf einen Zeitungsartikel als einzige Quelle: „In verschiedenen Fällen zeigten die Unternehmer sich am Ende der Woche selbst an, so dass am Freitag eine Durchsuchung mit Abschiebungen stattfand und sie den Wochenlohn einsparen konnten.“ (S. 157) Dieser Verdacht wurde wiederholt erhoben, konnte meines Wissens bisher aber nicht exemplarisch bewiesen werden; insofern wären hier – wie auch an einigen anderen Stellen des Buches – differenziertere und vorsichtigere Formulierungen angemessener gewesen.

Leider wird die in der Einleitung vorgestellte knappe Einbettung der Fallanalyse in die migrationswissenschaftliche Diskussion am Schluss nicht wieder aufgenommen. Insgesamt verbleibt die Untersuchung auf einer beschreibenden Ebene. Abschließend lässt sich dennoch sagen: Die Fülle der verarbeiteten Informationen und Quellen macht den Band zu einer unverzichtbaren Fundgrube für alle, die sich über die Zuwanderung aus Polen nach Deutschland in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts informieren wollen.