M. Füssel: Gelehrtenkultur als symbolische Praxis

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Titel
Gelehrtenkultur als symbolische Praxis. Rang, Ritual und Konflikt an der Universität der Frühen Neuzeit


Autor(en)
Füssel, Marian
Erschienen
Anzahl Seiten
543 S.
Preis
€ 74,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Detlef Döring, Historische Kommission, Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig

In seinem berühmten Werk „Die höfische Gesellschaft“ stellt Norbert Elias aus der Sicht der Gegenwart die Frage, warum die Menschen des Barockzeitalters „so wenig souverän“ waren, „warum so empfindlich [...] gegenüber der mindesten Verletzung oder Bedrohung irgendeines äußerlichen Vorrechts und, ganz allgemein, gegenüber dem, was wir heute leicht als Äußerlichkeiten begreifen?“ Elias weist dann die Verwendung des Begriffs Äußerlichkeit sofort zurück. Rang und Ansehen bedeuten vielmehr „unmittelbare Dokumentationen der sozialen Existenz“.1 In einer höfisch-aristokratischen Gesellschaft gehöre man nur solange zur höfischen Elite, wie die anderen Mitglieder der Hofes das meinen – und dies zeige sich eben in der genauen Beobachtung der so genannten Äußerlichkeiten. Elias greift damit eine Beobachtung auf, die den Zeitgenossen selbstverständlich war: Eine ganze, heute längst der Vergangenheit angehörende Disziplin, die Zeremonialwissenschaft, beschäftigte sich mit diesem außerordentlich verwickelten Thema. Die wissenschaftliche Forschung der letzten Jahrzehnte hat sich der Untersuchung der Bedeutung von Repräsentation in der frühmodernen Gesellschaft mit wachsender Intensität zugewandt. Es geht dabei um die Beantwortung der Frage: Wie gelangte die politisch-soziale Ordnung zur symbolischen Darstellung?

Dieses Interesse rechtfertigt auch die Existenz des an der Universität Münster angesiedelten Sonderforschungsbereichs „Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis zur Französischen Revolution“. Zu den Institutionen, die in jene Forschungen einbezogen wurden, gehört inzwischen auch die Universität. Dies dokumentiert jetzt eine Münsteraner Dissertation von Thomas Weller über das „Theatrum Praecedentiae“ im frühneuzeitlichen Leipzig, also über die Rolle der zeremoniellen Ränge im Leben einer Stadt, in der sich eine der größten Hochschulen der Zeit befand. Dementsprechend ausführlich werden bei Weller die Fragen der Rangordnung innerhalb der Universität und im Verhältnis zwischen Stadt und Universität behandelt.

Das Werk hingegen, dem die vorliegende Rezension gilt, beschäftigt sich ausschließlich mit dem Hochschulbereich – und das nicht nur an einem einzigen Ort, sondern sozusagen flächendeckend, wobei vor allem die Universitäten Tübingen, Helmstedt und Ingolstadt sowie ferner Heidelberg, Halle, Wittenberg und Leipzig besondere Aufmerksamkeit finden. Die Arbeit, die den Text einer 2003/04 in Münster angenommenen Dissertation mit nur geringen Änderungen wiedergibt, beruht dabei, wie es bei dem Thema gar nicht anders sein kann, nur zum Teil auf der Auswertung ungedruckter Quellen. Dabei ist die Intensität der Archivstudien sichtlich unterschiedlich ausgefallen: Der Schwerpunkt liegt eindeutig bei der Universität Freiburg, während bei Leipzig und Tübingen offenbar nur Zufallsfunde Berücksichtigung fanden. In welchem Umfang gedruckte Quellen und die Sekundärliteratur herangezogen wurden, belegen die entsprechenden Verzeichnisse am Schluss des Buches.

Die Untersuchung gliedert sich, abgesehen von einem Einleitungs- und einem Schlussteil, in fünf Abschnitte: Ein erstes Kapitel widmet sich den Strukturen einer Universität, dann folgt eine Untersuchung der Rolle der symbolischen Ordnung für die Universität und den Gelehrtenstand. In einem dritten Abschnitt geht es um Zeremoniell und Ritual bei akademischen Veranstaltungen, dem sich mit fast 150 Seiten das umfangreichste Kapitel über die „Universität im Konflikt“ anschließt. Eine Betrachtung des Niedergangs und des Wandels des akademischen Repräsentationswesens der Frühen Neuzeit bildet den letzten Untersuchungskomplex.

Es kann hier nicht im Entferntesten der Versuch unternommen werden, den Inhalt der äußerst materialreichen Studie zu referieren oder auch nur die Vielfalt der Frageansätze zu vermitteln. Der Verfasser schöpft aus einem reichen Fundus an Beispielmaterial, das er in erzählerisch gelungener Form ausbreitet. Die Alltagsgeschichte der Universität wird so wie nur selten sonst anschaulich, sozusagen greifbar. Im Kapitel über die „Universität im Konflikt“, über die Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Ansprüchen also, wird die Rolle des Symbols und die Bedeutung der Repräsentation besonders sichtbar: Hier geht es etwa um den durch Kant zum Begriff gewordenen „Streit der Fakultäten“, insbesondere um die Philosophische Fakultät als „Magd“, oder um das Verhältnis zwischen akademischen und außerakademischen Rangfolgen. Im zunehmenden Maße nämlich wird der Universitätsgelehrte als Glied des territorialstaatlichen Beamtenapparates in Anspruch genommen, und es entsteht die höchst verwickelte, vor allem bei der Organisation von Zeremonien auftauchende Frage, welcher Hierarchie der höhere Rang, der größere Geltungsanspruch zukommt. Das gleiche Problem stellt sich in der Beziehung zwischen Stadt und Universität. Dabei betont der Autor immer wieder eine auch sonst von der ‚Münsteraner Schule’ vertretene zentrale These, dass nämlich die symbolischen Handlungen nicht einfach ‚objektiv’ gegebene hierarchische Unterschiede widerspiegeln. Vielmehr werden letztere in der Praxis, also im jeweils konkreten Akt neu dargestellt oder ausgehandelt und unterlagen somit immer wieder Wandlungen.

Ist dies ein allgemeines Merkmal aller Rangstreitigkeiten, so misst Füssel dem „Bellum academicum“ einen besonderen Charakter zu: Der Gelehrte habe immer den Adligen als sein Maßstab setzendes Gegenüber empfunden. Gleichrangigkeit mit dem Adelsstand sei sein Ziel gewesen, das jedoch in eine immer weitere Ferne rückte. Diese Prozesse werden wiederum in die übergreifende Entwicklung der neuzeitlichen Staatsbildung eingeordnet: Die Universitäten seien aus dem klerikalen Bereich herausgenommen und in den modernen Staatsapparat eingebettet worden. Dabei sei der „Stellenwert des gelehrten Standes innerhalb der verschiedenen ständischen und administrativen Hierarchien“ stetig gesunken (S. 426). Die Versuche, diesen Abstieg abzuwehren, hätten Auseinandersetzungen um Rang und Titulatur vermehrt, wobei die Möglichkeiten der Justiznutzung eine zusätzliche Rolle spielten. Die wachsende Zahl der Rangkonflikte vom Beginn des 17. bis zum ersten Drittel des 18. Jahrhunderts erscheint so als Reaktion auf die abnehmende soziale Geltung der Universität und des Gelehrtenstandes insgesamt. Erst im Kontext seiner zunehmenden Integration in den Beamtenapparat des modernen Staats sei es schließlich zur erneuten sozialen Aufwertung des Gelehrten gekommen, der nun dem Gemeinwesen Nutzen stiftete.

Ob die Geschichte der Universitäten im 17. und 18. Jahrhundert im Vergleich zu früheren Zeiten eine Geschichte des steten Verlustes an Sozialprestige darstellt, scheint mir allerdings noch nicht ausgemacht zu sein. Auch die Behauptung, der Adel sei seit dem Mittelalter der „soziale Referenzpunkt der Gelehrtenkultur“ gewesen (S. 418f.), wird der Eigenständigkeit der letzteren zu wenig gerecht. Notwendig erscheint mir auch eine Ausweitung des Blickes auf die damalige universitäre Streitkultur überhaupt: Der Gelehrte stritt schließlich nicht nur um seine soziale Stellung, er stritt vor allem noch um die „wahre Lehre“ und die „rechte Religion“. Wie verhielten sich diese verschiedenen Streitinhalte zueinander?

Gleichwohl handelt es sich bei der vorliegenden Studie um ein Pionierwerk, das innerhalb der seit einiger Zeit erfreulicherweise anwachsenden universitätsgeschichtlichen Forschungen eine besondere Leistung darstellt. Jeder, der sich mit den vielfältigen Facetten des öffentlich sichtbaren Agierens an einer frühneuzeitlichen Universität beschäftigt, wird bei diesem Buch auf seine Kosten kommen. Es bleibt zu hoffen, dass es dem Autor möglich sein wird, das Thema weiterzuverfolgen.

Anmerkung:
1 Elias, Norbert, Die höfische Gesellschaft, Frankfurt am Main 1983 (Erstausgabe 1969), S. 143.

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