D. Lieven u.a. (Hrsg.): The Cambridge History of Russia

Cover
Titel
The Cambridge History of Russia. Volume 1 From Early Rus' to 1689; Volume 2 Imperial Russia 1689-1917; Volume 3 The Twentieth Century


Herausgeber
Dominic, Lieven; Perrie, Maureen; Suny, Ronald Grigor
Erschienen
Anzahl Seiten
2412 S.
Preis
377,98 €
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Helmut Altrichter, Lehrstuhl Osteuropäische Geschichte, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Was heißt und zu welchem Ende beschreibt man die „Geschichte Russlands“? Für den Altmeister Wassili O. Kljutschewski war „russische Geschichte” – natürlich – Nationalgeschichte und er beschrieb sie in seinem „Kurs der russischen Geschichte“, der in mehreren Bänden Anfang des 20. Jahrhunderts erschien, als Siedlungsgeschichte, als Aneignung, als Kolonisierung eines Raumes. Sie habe begonnen, als „der östliche Zweig der Slawen, der sich in der Folge zum russischen Volke auswuchs“, von den Hängen der Karpaten kommend, seit dem 8. Jahrhundert in die russische Ebene vordrang und sich zunächst am Mittel- und Oberlauf des Dnjepr sammelte. Zwischen dem 13. und der Mitte des 15. Jahrhunderts habe sich der Siedlungsschwerpunkt an den Oberlauf der Wolga und ihre Nebenflüsse verschoben, und aus einem „Rußland der Städte und des Handels“ war nun ein „Rußland der Teilfürstentümer und der freien Landbewirtschaftung“ geworden. Zwischen der Mitte des 15. bis ins zweite Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts geriet, so Kljutschewski, die „Hauptmasse des russischen Volkes“ erneut in Bewegung, sie strömte in die fruchtbaren Schwarzerdegebiete am Don und am Mittellauf der Wolga; das „moskowitische Großrußland“, das „zarisch-bojarische“, das „Rußland des Krieger-Landbesitzes“ entstand. Schließlich griff „das russische Volk“ zwischen dem 17. und der Mitte des 19. Jahrhunderts noch einmal weit aus, drängte über den Ural hinweg nach Sibirien, an die Ostsee, ans Schwarze und ans Kaspische Meer, ins Kaukasusgebiet und nach Mittelasien, schuf das „allrussische Imperium“, das „kaiserlich-adelige“, mit den von Leibeigenen betriebenen "Ackerbau-, Fabrik- und Werksbetrieben“.

Selbst wenn nach der Revolution keine „russische“, nur noch „sowjetische Geschichte“ geschrieben wurde, galt seit der Stalinzeit erneut, dass vom bestehenden Territorium auszugehen, die Geschichte seines Erwerbs und seiner Verteidigung zu erzählen war und dem „russischen Volk“ dabei eine herausgehobene Rolle zukam. Doch war es Kljutschewski darum gegangen, das Spezielle, den Eigensinn der russischen Geschichte als Kolonisationsgeschichte zu beschreiben, zu zeigen, wie sich mit dem Ortswechsel stets auch ein Wechsel der Herrschafts-, Wirtschafts- und Gesellschaftsformen vollzog, hob die neue, sowjetische Historiographie gerade auf das Allgemeine, die Gemeinsamkeiten, die Parallelen zur westeuropäischen Entwicklung ab und versuchte stets aufs Neue nachzuweisen, wovon sie unverrückbar ausging: die Gültigkeit der Marxschen Formationstheorie, der gesetzesgleichen Abfolge von Urgemeinschaft, Sklavenhaltergesellschaft, Feudalismus und Kapitalismus auch für Russland. Ihren Kern machte sie in der Entwicklung der Produktivkräfte, Produktionsverhältnisse und Klassenspannungen aus, auf denen der Fokus der Darstellung lag, aus der sie nicht zuletzt die „Notwendigkeit“ der sozialistischen Revolution und die Legitimität der bolschewistischen Herrschaft abzuleiten suchte.

Ein ähnlich geschlossenes Interpretament der russischen Geschichte gab es in der westlichen, „bürgerlichen“ Geschichtswissenschaft nicht. Hob auch sie auf die Vergleichbarkeit von ost- und westeuropäischer Entwicklung ab, so bezog sie dies vor allem auf die Zeit nach Peter und hatte weniger die Marxsche Formationslehre als die „Modernisierungsforschung“ im Sinn. Sie ging dabei von der Beobachtung aus, dass Industrialisierung und Demokratisierung seit dem 18. Jahrhundert Europa tief greifend und nachhaltig verändert hatten. Mit der politischen Ordnung und der Struktur der Wirtschaft wandelte sich die Gesellschaft: ihre Verfassung und Organisationsstruktur, die Klassen und ihr Verhältnis zueinander, die sozialen Konflikte und die Form, in der sie ausgetragen wurden, die Einstellungen und Lebensweisen, die Werte und Normen. In Westeuropa hatte diese Entwicklung begonnen, Mittel- und Osteuropa folgten. Aufgestiegen in den Kreis der europäischen Großmächte, so die daraus abgeleitete Kernthese, musste sich Russland ihrer Konkurrenz stellen, was – wie bereits Peter eingesehen habe – wirtschaftliche und gesellschaftliche Modernisierungen unausweichlich machte. Dass diese Einsicht noch immer galt, bestätigte sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts, als der verlorene Krimkrieg eine Flut gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Reformen freisetzte. Wenn wir dem gedanklichen Bogen weiter folgen: Dass die Autokratie ein Übergreifen auf die politischen Strukturen zu verhindern suchte, beschleunigte nur ihren Untergang; sie wurde nach einem erneuten, verlorenen Krieg (dem Ersten Weltkrieg) von einer Revolution hinweggefegt, die eine bessere, demokratischere, modernere Zukunft versprach. Selbst wenn sie dieses Versprechen nicht hielt: Was aus dem folgenden Bürgerkrieg hervorging, ließ sich als Modernisierungsdiktatur beschreiben.

Was ist von diesen großen Entwürfen, ihren Interpretationsansätzen und ihren politischen Implikationen übrig geblieben, eineinhalb, zwei Jahrzehnte nach dem Zerfall der Sowjetunion, der Beendigung des Kalten Krieges? Da es nun wieder eine „russische Geschichte“ gibt, aber ihr wichtige – früher fraglos zugerechnete – Perioden wie die Kiewer Zeit von anderen streitig gemacht werden? Nicht nur sozialistische Fortschrittsträume, sondern „die Moderne“ mit einem Mal wie von gestern erscheinen? Alte politische und methodische Fronten und Alleinvertretungsansprüche gefallen sind, neue sich – trotz heftiger Bemühungen – nicht so recht durchsetzen konnten, ein postmodernes Nebeneinander verschiedener Annäherungen herrscht? Vermeintlich „alte“ Ansätze (der Politik-, Ideen- und Sozialgeschichte, versehen mit dem Etikett des „Neuen“) fröhliche Urständ feiern?

Die dreibändige „Cambridge History of Russia“ spiegelt etwas von dieser Situation, der neuen Unübersichtlichkeit wider. Schon deshalb, weil man – wie die Herausgeberin des ersten Bandes (Maureen Perrie) bemerkt – Vertreter aller „Schulen“ (oder keiner) zu Wort kommen lassen wollte; weil – so der Herausgeber des zweiten Bandes (Dominic Lieven) – auch Bereiche wie Außenpolitik, Wirtschafts-, Finanz-, Steuer- und Militärsystem berücksichtigt werden sollten, obwohl sie bei anglophonen Historikern (und auf sie stützen sich, an sie wenden sich die Bände vor allem) als „extremely unfashionable“ gelten; weil Gliederungsschemata – wie im dritten (von Ronald Grigor Suny herausgegebenen) Band – nicht schon deshalb aufgegeben werden, weil sie eingeführt sind. Wie selbst ein flüchtiger Blick in die Inhaltsverzeichnisse zeigt, unterscheiden sich nicht nur die einzelnen Beiträge und Annäherungsweisen, sondern auch die Bände untereinander in ihrem Zuschnitt erheblich. Während sich der erste Band (über die Entwicklung bis 1689) chronologisch, in drei große Zeitabschnitte gliedert, ist die Gliederung des zweiten Bandes (über die Zeit zwischen 1689 und 1917) rein thematisch, während der dritte Band das 20. Jahrhundert zunächst chronologisch, in seinen Zeitabschnitten, und danach in seinen „themes and trends“ abhandelt.

Manches, nicht alles erklärt sich aus den jeweils behandelten Zeiten, die unterschiedliche Akzentsetzungen nahe legen. Für Maureen Perrie ist die Zeit bis 1689 die Entstehungszeit des „vorpetrinischen Russlands“; in ihrem Mittelpunkt stehen die Dynastie und ihre Nachfolgeprobleme, der Aufstieg des Moskauer Teilfürstentums und das rapide Wachstum seines Territoriums, dessen Bedingungen und Folgen. Sie lassen sie den Gesamtzeitraum in drei Perioden gliedern: die Frühe Rus und der Aufstieg Moskaus, 900-1462; die Expansion, Konsolidierung und Krise Moskaus, 1462-1613; und Russland unter den ersten Romanows, 1613-1689. Das schließt thematische Kapitel in den einzelnen Teilen – etwa zur Kiewer Rus, zu ihren Teilfürstentümern, zum Mittelalterlichen Nowgorod, zu den nicht-christlichen Randvölkern, zur Orthodoxen Kirche vor und nach dem Schisma, zur Bauernschaft, zur Stadt und zum Handel, zu Volksaufständen, zu politischen Ideen und Riten, zum Kultur- und Geistesleben, zum Rechtssystem, zur Zentralregierung und ihren Institutionen – nicht aus (es ist unmöglich, die Themen der 28 Kapitel mit ihren Verfassern und Verfasserinnen hier aufzuzählen, geschweige denn einzeln zu würdigen). Dem Konzept entsprechend fehlen dabei auch Kapitel über die großen Herrscherpersönlichkeiten nicht: zu Iwan III., der das Moskauer Territorium gewaltig vergrößerte und den neuen Machtanspruch im prächtigen Ausbau des Kreml zum Ausdruck brachte; zu Iwan IV., der die Chanate von Kasan und Astrachan besiegte und das Tor nach Sibirien aufstieß; und zu Boris Godunow, mit dem nach dem Aussterben der Rurikiden die „Zeit der Wirren“ begann.

Wer nach der Lektüre über das „vorpetrinische Russland“ zum zweiten Band (über das „kaiserliche Russland“) greift, um sich über eben diesen Peter und seine (ohne allen Zweifel: immense) Bedeutung für die Geschichte Russlands zu informieren, wird ein spezielles Kapitel dazu nicht finden (ein Kapitel über Katharina II., Alexander I. oder Nikolaus I. übrigens ebenso wenig). Der von Dominic Lieven betreute Band versteht das „kaiserliche Russland“ gewissermaßen als ein Ganzes und behandelt seine verschiedenen Seiten: das Reich; seine Kultur, seine Ideen und Identitäten; seine nicht-russischen Nationalitäten; die russische Gesellschaft, das Recht und die Ökonomie; die Regierung und Verwaltung; die Außenpolitik und die Streitkräfte; die Reform, den Krieg und die Revolution. So sind die sechs Teile des zweiten Bandes überschrieben. Das Themenspektrum ist dabei weit gefächert; in 31 Einzelkapiteln berichten die Verfasser und Verfasserinnen von Russland, in der Binnen- und der Außensicht; von der russischen Kultur, dem politischen Denken und dem Erbe von 1812; von Ukrainern, Polen, Juden und dem Islam; von der Wirtschaft und dem Bankensystem, den Bauern und der Landwirtschaft, der Intelligenzija und den Freien Berufen, den Frauen und der Familie, von Gender und Rechtsordnung, dem Justizsystem und den Juristen; von Zentral- und Lokalverwaltung; von der zarischen Außenpolitik und der kaiserlichen Armee; schließlich von den Arbeitern und der Revolution, der Polizei und den Revolutionären, von Krieg und Revolution.

Von der zweiteiligen Gliederung des dritten, von Ronald G. Suny betreuten Bandes war schon die Rede. In den 13 Kapiteln des ersten Teils (the story through time) berichten ihre Verfasser von Russland nach der Jahrhundertwende, dem Ersten Weltkrieg, den Revolutionen 1917/18, dem Bürgerkrieg, der Neuen Ökonomischen Politik, dem Stalinismus der 1930er-Jahre, dem Vaterländischen Krieg, von Stalin und seinem Zirkel, der Periode Chruschtschows, der Breschnew-Ära, der Gorbatschow-Ära und der neuen Russischen Föderation. (Schon die bloße Aufzählung wirft die obige Frage noch einmal auf: Wenn die Ära Breschnews gesondert gewürdigt wird, verdient es die Zeit Peters, Katharinas, Alexanders I. und Alexanders II. nicht erst recht?) Teil zwei greift (in 12 weiteren Kapiteln) die Themen Wirtschaft und demographischen Wandel, Agrarpolitik und Bauernfrage, Arbeiter und Industrialisierung, die Frauen und den Staat, die Nicht-Russen, die westlichen Republiken (Ukraine, Belarus, Moldowa und Baltikum), Wissenschaft, Technologie und Modernität, Kultur und Kulturpolitik vor und nach 1945, die Komintern und die sowjetische Außenpolitik, Moskaus Außenpolitik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sowie die Sowjetunion und den Weg zum Kommunismus auf.

Mit einem Wort: wer die drei Bände der Cambridge History of Russia zur Hand nimmt, bekommt 84 Einzelbeiträge zur russländischen Geschichte, zwischen dem 10. Jahrhundert und der Gegenwart; zu ganz verschiedenen Aspekten ihrer Entwicklung, von ausgewiesenen Spezialisten geschrieben, die den Stand unseres Wissens kompetent zusammenfassen; unter nachvollziehbaren Aspekten gegliedert, mit zusätzlichen Literaturhinweisen für den englischsprachigen Leser am Ende jedes Bandes, insgesamt über 2000 Seiten. Wer sie liest, wird Kernprobleme der großen Entwürfe, von denen eingangs die Rede war, wiederentdecken und was von ihnen übrig blieb: von der „russischen Geschichte“ als Nationalgeschichte; als Siedlungsgeschichte, als Geschichte des Territoriums und seines Erwerbs; von deren Bedingungen und Folgen; verbunden mit dem mehrfachen Wandel seiner Herrschafts-, Wirtschafts- und Gesellschaftsverfassung; vom Aufstieg Russlands zur europäischen Großmacht, was Teilanpassungen, Reformen im Innern, Modernisierungen unausweichlich machte; aber auch zu Verwerfungen im Inneren führte und die Frage nach der Identität Russlands aufwarf; die Diskussionen darüber begleiteten die russisch/russländische Geschichte – bis heute.

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