D. Waßenhoven: Skandinavier unterwegs in Europa (1000-1255)

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Titel
Skandinavier unterwegs in Europa (1000-1255). Untersuchungen zu Mobilität und Kulturtransfer auf prosopographischer Grundlage


Autor(en)
Waßenhoven, Dominik
Reihe
Europa im Mittelalter 8
Erschienen
Berlin 2006: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
460 S.
Preis
€ 79,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Wetzstein, Historisches Seminar, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Seit einigen Jahrzehnten wird die Komplexität kultureller Homogenisierungsvorgänge zunehmend wahrgenommen und auch in seiner Abhängigkeit vom Raum betrachtet. So hat sich Dominik Waßenhoven in seiner Erlanger Dissertation folgerichtig die Aufgabe gestellt, die Bedeutung der Mobilität bei der „Europäisierung Nordeuropas“ auf prosopografischer Grundlage zu ermitteln. Das gut 350 Textseiten umfassende Werk besteht aus zwei Teilen: Unter „Mobilität und Kulturtransfer“ (S. 15-144) stellt Waßenhoven zunächst die Leitfrage der Studie vor, nämlich ob die im Hochmittelalter zunehmenden Reisen von Skandinaviern nach Mitteleuropa zur erwähnten „Europäisierung Nordeuropas“ beigetragen hätten (S. 16). Anschließend diskutiert er terminologische Fragen („Hochmittelalter“, „Skandinavien“, „Europa“, „Reise und Mobilität“), das methodische Vorgehen („Prosopographie“, „Kulturtransfer“) und die zugrunde liegenden Quellen (S. 17-66). Auf 37 Seiten (S. 67-104) stellt er dann die Untersuchungsergebnisse vor: das Mobilitätsverhalten jener 572 Personen aus Nordeuropa, die zwischen 1000 und 1250 eine Reise nach dem Süden des Kontinents unternahmen. Das Fallbeispiel des norwegischen Erzbischofs Øystein Erlendsson († 1188) dient zum Abschluss des darstellenden Teils der Exemplifizierung des Kulturtransfers (S. 105-139).

Der zweite Großabschnitt (S. 145-358) bietet das Material der Untersuchung: Biogramme der 572 sicher südwärts gereisten Nordeuropäer (S. 148-307), Daten zu möglichen Reisenden (S. 309-358) sowie eine chronologische Übersicht der Reisen (S. 359-369). Mehrere Indices ermöglichen die Suche nach Ländern, Regionen, Inseln und einzelnen Personen im gesamten Band.

Das quantitativ bedeutendste Motiv einer Fernreise dürfte die Skandinavier von anderen Europäern unterscheiden: Kriegerische Handlungen nämlich bedingten Waßenhoven zufolge die Mehrzahl der Reisen, seien dies nun die frühen Wikingerfahrten, der Dienst als Söldner in der Warägergarde des byzantinischen Kaisers oder die dänische Expansion seit dem Ende des 12. Jahrhunderts. Andere Anlässe (Emigration, Verheiratung an einen entfernten Hof, Gesandtschaften, Einholen des Palliums, Pilgerfahrt, Kreuzzugsteilnahme, Ausbildung, Handelsreisen) passen hingegen gut in die auch für andere Teile Europas rekonstruierten Mobilitätsmuster (S. 71f.). Unter den Reisezielen führt der klare Spitzenreiter Rom deutlich vor Augen, in welchem Umfang die Integration Skandinaviens in die sich mächtig entfaltende Papstkirche gelungen war, liegen doch andere Reiseziele wie Jerusalem, Paris, Konstantinopel, Bremen und Nowgorod weit abgeschlagen auf den hinteren Rängen der Zielorte (S. 72). Diesen Zielen lassen sich vielfach bestimmte Reiseanlässe und zeitliche Verschiebungen mit Hilfe der prosopografischen Aufarbeitung des Materials zuordnen: So reisten die Bischöfe des Nordens während des 11. Jahrhunderts nach Bremen, um ihren Metropoliten aufzusuchen, während Paris als bevorzugte Ausbildungsstätte skandinavischer Scholaren erst in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts zu größerer Bedeutung gelangte. Nowgorod hingegen deutet während des 11. Jahrhunderts ebenso wie Konstantinopel auf den Dienst in der Wäragergarde hin, während es im 12. Jahrhundert zunehmend zur Station einer Pilgerreise nach Jerusalem wurde.

Hinsichtlich der benutzten Wege findet vor allem das älteste skandinavische Itinerar, der „Leiðarvísir“ ausführliche Beachtung, in welchem der isländische Benediktiner Nikulás um die Mitte des 12. Jahrhunderts seinen Weg nach Rom und Jerusalem, beschrieb (S. 74-84). Andere Reisewege lassen sich den Quellen nur mühsam entlocken, was eine enge Bindung der Textgattung des Itinerars an ein eindeutiges Pilgerziel vermuten lässt. Zu Recht weist Waßenhoven in seiner Bewertung der chronologischen Verteilung auf eine ab 1150 stark zunehmende „institutionelle Mobilität“ hin (S. 99), die mit der Ankunft der Zisterzienser in Skandinavien und der Verpflichtung der Äbte zur Teilnahme am jährlichen Generalkapitel in Cîteaux einsetzte, aber bereits ein Jahrhundert zuvor durch die immer engere Einbindung Skandinaviens in die hierarchische Verfassung der lateinischen Kirche mit ersten Romreisen isländischer Bischöfe vorbereitet worden war. Gregor VII. brachte dies in einem – von Waßenhoven nicht behandelten – Brief an den Dänenkönig Harald deutlich zum Ausdruck, in dem er den Herrscher mit Nachdruck zur häufigen Entsendung von Gesandtschaften aufforderte.1

Anhand der Vita des Øystein Erlendsson soll zum Abschluss der Untersuchung der Zusammenhang zwischen Mobilität und Kulturtransfer nachvollziehbar werden: Øystein reiste erstmalig 1160 nach Süden, um nach einem Aufenthalt in Paris aus der Hand Alexanders III. das Pallium zu erlangen. Zwei Jahrzehnte später hielt er sich für drei Jahre aus politischen Gründen im englischen Exil auf. Der anschließend errichtete Dom von Drontheim weist ebenso nach „Europa“ wie Erlendssons Amtsführung, eine Rechtssammlung, sein Verständnis des Königtums sowie seine literarischen Werke. Waßenhoven hebt jedoch in der Bewertung dieses Befundes die meist unbekannten Mitarbeiter hervor, die eine eindeutige persönliche Zuschreibung der Transferprozesse kaum zuließen, und in der Tat hat sich die Geschichtswissenschaft mit gutem Grund vom „Bild des genialen Vordenkers“ (S. 137) weitgehend verabschiedet. Der Zusammenhang zwischen Mobilität und Kulturtransfer ist damit jedoch in keiner Weise in Frage gestellt – erst die Moderne hat durch eine Kette von Medienrevolutionen diese siamesischen Zwillinge zu trennen vermocht.

So sehr jedoch Mobilität eine notwendige Bedingung für Kulturtransfer darstellt, so wenig ist sie allein hinreichend, um ihn herbeizuführen – und so stellt sich die Frage, ob nicht andere Faktoren hinzutreten mussten, um den rasanten Prozess zu erklären, mit dem sich Skandinavien seit dem 11. Jahrhundert in vielfältiger Weise dem übrigen Europa anglich. Welche Bedeutung etwa dabei dem Handel, der Christianisierung oder dem Aufbau einer Bistumsverfassung nach dem Muster der lateinischen Kirche zukam, ob für die Frage nach einer „Europäisierung“ Nordeuropas bestimmte Personengruppen stärker zu gewichten sind als andere, ja ob nicht aus diesem Grunde in Abweichung von Waßenhovens strenger Beschränkung auf skandinavische Reisende auch Personen zu berücksichtigen gewesen wären, die sich aus Mitteleuropa nach dem Norden aufmachten, um, etwa als Bischöfe, die dortigen Verhältnisse dezidiert dem Modell ihrer Herkunftsländer anzupassen – all dies bleibt weiteren Studien zu diesem großen Thema vorbehalten.

Die starke Konzentration Waßenhovens auf die prosopografischen Daten geht überdies zu Lasten einer umfassenden Auseinandersetzung mit der einschlägigen Forschung – so souverän sich Waßenhoven auch der in den skandinavischen Sprachen verfassten Forschungs- und Quellenliteratur bedient. So fallen etwa die grundlegenden Erläuterungen zur Prosopografie mit anderthalb Druckseiten nicht nur äußerst knapp aus (S. 28-30), sondern beschränken sich in ihrer Behandlung dieser Methode auf die Nennung dreier Beiträge, während der nach wie vor grundlegende, mehrfach nachgedruckte und sogar ins Deutsche übersetzte Aufsatz von Lawrence Stone keine Berücksichtigung findet.2 Ebenso wenig klärt Waßenhoven auf den für dieses Thema reservierten zwei Seiten, wie das Modell des Kulturtransfers vom 18. und 19. Jahrhundert auf das Hochmittelalter und von den Literaturbeziehungen zwischen den modernen Territorialstaaten Frankreich und Deutschland (S. 30) auf „Europa“ und „Skandinavien“ übertragen werden kann, und das seit einigen Jahren intensiv beforschte Feld der historischen Mobilitätsforschung handelt Waßenhoven mit Verweis auf zwei deutschsprachige Titel auf nicht einmal einer Druckseite ab (S. 27). Auch für den eigentlichen Schwerpunkt der Untersuchung weist die Bibliografie einige schmerzliche Lücken auf. So legte Holger Arbman bereits 1937 eine auf archäologischem Material basierende Studie zu den Handelsbeziehungen zwischen Schweden und dem Karolingerreich vor3, Elisabeth Piltz hat bereits die Sagas zur Ermittlung skandinavischer Reisender nach Byzanz ausgewertet4, Arne Odd Johnsen hat wie zahlreiche weitere unerwähnte Autoren die Aufenthalte skandinavischer Studenten in Paris und im restlichen Mitteleuropa untersucht5, der von Waßenhoven behandelten Aufnahme kirchlicher Rechtsnormen (S. 114-118) hat sich bereits Othmar Hageneder zugewandt6, und auch der vorläufige Bericht des mit der Herausgabe der ‚Scandinavia pontificia’ betrauten Anders Winroth über die Überlieferung der Papsturkunden hätte an entsprechender Stelle (S. 99) Berücksichtigung verdient.7

Waßenhoven hat mit seiner Studie die Mobilität als einen zentralen Faktor der im hohen Mittelalter so zahlreichen kulturellen Homogenisierungsvorgänge in den Vordergrund gerückt, und die prosopografische Aufarbeitung einer großen Fülle von Einzelbelegen stellt das große Verdienst dieser Dissertation dar. Trotz mancher Mängel ist auch anderen Regionen des „jüngeren Europa“ 8 Vergleichbares zu wünschen. Künftige Autoren sollten dabei allerdings die Mahnung Waßenhovens stets vor Augen haben: „Eine prosopographische Datenbank ist also nicht das Ergebnis der Untersuchung, sondern die Grundlage für weitere Forschungen.“ (S. 29).

Anmerkungen:
1 Caspar, Erich (Hrsg.), Das Register Gregors VII., Bd. 2, Berlin 1967, ep. V, 10, S. 363.
2 Stone, Lawrence, Prosopography, in: The past and the present, Boston-London 1981, S. 45-73; zuerst in: Daedalus 100 (1971), S. 46-79; zahlreiche Wiederabdrucke, unter anderem: ders., Prosopographie – englische Erfahrungen, in: Jarausch, Konrad H. (Hrsg.), Quantifizierung in der Geschichtswissenschaft. Probleme und Möglichkeiten, Düsseldorf 1976, S. 64-97.
3 Arbman, Holger, Schweden und das karolingische Reich. Studien zu den Handelsverbindungen des 9. Jahrhunderts, Stockholm 1937.
4 Piltz, Elisabeth, De la Scandinavie à Byzance, in: Médiévales. Langue, textes, histoire 12 (1987), S. 11-24.
5 Johnsen, Arne Odd, Les relations intellectuelles entre la France et la Norvège (1150-1214), in: Le Moyen Age 57 (1951), S. 247-268.
6 Hageneder, Othmar, Die Übernahme kanonistischer Rechtsnormen im Norden, in: Rachewiltz, Siegfried de; Riedmann, Josef (Hrsg.), Kommunikation und Mobilität im Mittelalter. Begegnungen zwischen dem Süden und der Mitte Europas (11.-14. Jahrhundert), Sigmaringen 1995, S. 249-260
7 Winroth, Anders, Papal Letters to Scandinavia and Their Preservation, in: Kosto, Adam J.; Winroth, Anders (Hrsg.), Charters, Cartularies, and Archives: The Preservation and Transmission of Documents in the Medieval West, Toronto 2002, S. 175-185.
8 Moraw, Peter, Über Entwicklungsunterschiede und Entwicklungsausgleich im deutschen und europäischen Mittelalter. Ein Versuch, in: Schwinges, Rainer Christoph (Hrsg.), Über König und Reich. Aufsätze zur deutschen Verfassungsgeschichte des späten Mittelalters, Sigmaringen 1995, S. 293-320.

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