R. Neisen: Feindbild, Vorbild, Wunschbild

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Titel
Feindbild, Vorbild, Wunschbild. Eine Untersuchung zum Verhältnis von britischer Identität und französischer Alterität 1814-1860


Autor(en)
Neisen, Robert
Reihe
Identitäten u. Alteritäten 19
Erschienen
Würzburg 2004: Ergon Verlag
Anzahl Seiten
623 S.
Preis
€ 59,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Alter, Universität Duisburg-Essen

Die nationale Identitätsbildung bei breiten Bevölkerungsschichten, so lautet etwas vergröbert die These von Autoren wie Linda Colley oder Michael Jeismann, setzt nicht nur „Differenzerfahrung“, sondern auch die Feindschaft zu einem „Anderen“, konkret: zu einer anderen Nation jenseits der eigenen Grenzen oder einer Minderheit in der eigenen Gesellschaft voraus. Ein Vaterland ohne äußere oder innere Feinde gebe es nicht, wird behauptet. Dass häufig Krieg oder Diskriminierung von Minderheiten am Beginn von Nationsbildungsprozessen steht, ist der internationalen Nationalismusforschung seit langem bekannt. Dennoch: Es lohnt ein genaueres Hinschauen und eine Prüfung der Befunde über einen längeren Zeitraum, also unabhängig von flüchtigen Stimmungslagen und zufälligen Momentaufnahmen. Für die „Nationalisierung der Massen“ in Großbritannien, zumindest des gebildeten Bürgertums, spielte dabei Frankreich seit dem 18. Jahrhundert eine zentrale Rolle als Referenznation. Darauf haben Colley und andere nachdrücklich hingewiesen. Neisens Arbeit, die in dem Freiburger Sonderforschungsbereich mit dem kapriziösen Titel „Identitäten und Alteritäten“ entstanden ist, verlängert Colleys Analyse von 1992 weit ins 19. Jahrhundert hinein und kommt zu Ergebnissen, welche die eingangs erwähnte These von der Feindschaft als primärem Auslöser und unverzichtbarem Konstruktionselement für nationale Identitätsbildung substantiell differenziert. Die ihr zugrunde liegenden Mechanismen sind offensichtlich doch vielschichtiger und komplexer als lange Zeit angenommen.

Neisen untersucht am Beispiel des intensiven britischen Diskurses über die politischen Vorgänge im Nachbarland Frankreich und die Ausdrucksformen britischer Identität in den knapp fünfzig Jahren zwischen dem Ende Napoleon Bonapartes und der Errichtung des italienischen Nationalstaates die Wechselbeziehungen zwischen kollektiver Identität und externer Alterität. Er stützt sich auf ausgewählte Jahrgänge der großen liberalen und konservativen Tagespresse wie der „Times“, des „Guardian“, des „Morning Chronicle“ oder der „Morning Post“, auf die beiden populären Zeitschriften „Edinburgh Review“ und „Quarterly Review“ sowie ein breites Spektrum von Flugschriften, die bislang noch nie so umfassend für die Fragestellung herangezogen worden sind. Schwerpunkte der Untersuchung bilden die Jahre nach Napoleons Sturz, die französische Julirevolution und sezessionistische Staatwerdung Belgiens, die Revolutionsereignisse seit 1848 bis zum Ende des Krimkrieges, in dem Großbritannien und Frankreich als Verbündete handelten, und schließlich die Italienkrise und der Cobden-Chevalier-Freihandelsvertrag 1860. Alles in allem wird eine gewaltige Stoffmenge verarbeitet, die der Autor jedoch mit einer klugen Gliederung im Griff hat.

Im Ergebnis bescheinigt Neisen dem britischen Frankreich-Diskurs im untersuchten Zeitraum Nuancenreichtum und Ambivalenz. Hätte man etwas anderes erwartet? Von einer durchgehenden Ablehnung des von der Tory-Presse so gern verteufelten „Anderen“ jenseits des Ärmelkanals und einer negativen Abgrenzung zu dessen eigenen Identitätsentwurf kann jedenfalls im frühviktorianischen Großbritannien keine Rede sein. Neisen dokumentiert die Phasen britischer Frankreich-Freundschaft und Frankreich-Sympathien, vor allem im Lager der sozial und ideell so heterogenen Liberalen, anhand von zahlreichen Beispielen. Vorübergehend konnte Frankreich sogar zum Vorbild werden, das den Briten den Weg in eine freiheitliche Zukunft wies. Kurzum: Das Frankreichbild der politisch wachen Briten, ganz unabhängig, ob liberaler oder konservativer Couleur, unterlag seit 1814 erheblichen Schwankungen. Dass Frankreich im 19. Jahrhundert neben Großbritannien zu den liberalen und fortschrittlichen Nationen Europas gezählt werden musste (zumindest zu bestimmten Zeitpunkten), erkannte besonders die liberale britische Presse in lichten Momenten durchaus an. Sie plädierte für politische Kooperation und Allianzen. Sie war sogar bereit, beim Blick auf den Nachbarn und seine revolutionären Praktiken, auf die „französische Alterität“, das lange gepflegte, klischeehafte Selbstbild vom „happy Britain“, das sich stabiler politischer und ökonomischer Verhältnisse erfreute, in Frage zu stellen. Der angebliche moralische Verfall des ebenso „flatterhaften“ wie „zügellosen“ Nachbarn ließ sich danach auch im eigenen Land unschwer nachweisen. Neisen vertritt sogar die Auffassung, dass im 19. Jahrhundert „keine Neukonstruktion einer britischen Identität“ (S. 587) erfolgte. Es ging vielmehr um „die korrekte Auslegung des Begriffs der Freiheit, der das zentrale Axiom des nationalen politischen Selbstverständnisses bildete“ (S. 588). Im Falle Großbritannien bestimmte, so Neisen, „nicht die Alterität die Identität“, sondern die eigene, oft idealisierte Identität („Britishness“) habe das Bild vom kollektiven „Anderen“ auf dem europäischen Kontinent geformt. Die Fiktion formte die Wirklichkeit.

Die notwendige Modifizierung und Differenzierung der Colley-Jeismann-These wird von Neisen mit überzeugenden Belegen aus der politischen Publizistik Großbritanniens untermauert. Doch es stellt sich die Frage, ob dazu der große Aufwand von über 600 Seiten und mehr als 2.300 Anmerkungen notwendig war. Auch geduldige Leser/innen hätten eine energische Straffung der Beweisführung begrüßt. Zur Kritik an dem material- und zweifelsohne kenntnisreichen, ja geradezu detailbesessenen Werk Neisens gehört zudem der Hinweis auf die allzu häufige Verwendung von sperrigen Verben wie fungieren, konstatieren, flottieren, emergieren oder implizieren. Eine andere Schwäche der Arbeit ist die Neigung des Autors, logische Zusammenhänge herzustellen, die oft auf Anhieb nicht einsichtig sind oder willkürlich erscheinen. Man achte nur auf die ungewöhnliche, den ganzen Band durchziehende Häufung von Worten wie „daher“, „deshalb“, „demzufolge“, „folglich“, „somit“, „also“, „demnach“. Oder wollte der Autor rigoros daran erinnern, dass nicht nur Identitäten, sondern auch alle Geschichtsschreibung letzten Endes konstruiert ist?

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