L. Mertens: Priester der Klio oder Hofchronisten der Partei?

: Priester der Klio oder Hofchronisten der Partei?. Kollektivbiographische Analysen zur DDR-Historikerschaft. Göttingen 2006 : V&R unipress, ISBN 3-89971-307-9 179 S. € 22,90

: Lexikon der DDR-Historiker. Biographien und Bibliographien zu den Geschichtswissenschaftlern aus der Deutschen Demokratischen Republik. München 2006 : K.G. Saur, ISBN 3-598-11673-X

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mario Keßler, Zentrum für Zeithistorische Forschung

Im Vorwort einer Dokumentation zu Karl Dietrich Erdmanns Lebensweg im „Dritten Reich“ betont Winfried Schulze, „daß die Geschichtswissenschaft der Bundesrepublik Deutschland sich ihre Fähigkeit bewahrt hat, ihre kritischen Verfahren auf sich selbst anzuwenden.“ Die schonungslose Kritik an Erdmanns Verhalten unter der Hitlerdiktatur sei im Lichte neuer Dokumente auch deshalb notwendig, weil viele Historiker in den neuen Bundesländern ihre Stellen verloren, nachdem ihnen Benachteiligung Andersdenkender vorgeworfen wurde. „Ein Verschweigen dieser Tatsachen hätte dem notwendigen personellen Wechsel nach 1989 vollends jede Legitimation entzogen.“1

In Schulzes Worten schwingen Zweifel über das Ausmaß des Personalaustausches mit, wie er nach 1989 an den ostdeutschen Hochschulen stattfand. Herausragende, gute, mittelmäßige und schlechte, politisch belastete und weitgehend unbelastete Historiker verloren ihre Arbeitsplätze. Die frei gewordenen Professuren an den Universitäten nahmen, zumindest im Bereich der Zeitgeschichte, durchweg Westdeutsche ein. Wenige DDR-Historiker fanden eine neue Betätigung in den Forschungszentren außerhalb der Universitäten. Für die allermeisten brachten die Umstürze der Jahre 1989-90 das berufliche Aus.

Kein Zweifel an der Berechtigung eines derart tiefgreifenden Wandels findet sich in den beiden hier zu besprechenden Schriften, die vom ungemeinen Fleiß ihres Verfassers zeugen. Das Lexikon der DDR-Historiker war ein Desiderat der Forschung. Die vorangestellte umfangreiche Einleitung erschien parallel in erweiterter Form als selbständiges Buch und bedarf einer speziellen Kritik.

Das Lexikon versammelt die Kurzbiographien von über 1.100 Historikerinnen und Historikern. Kriterium für die Aufnahme war eine Position als Hochschullehrer oder leitender Mitarbeiter einer außeruniversitären Einrichtung bzw. die Habilitation oder B-Promotion. Einzelne, für den Wissenschaftsbetrieb wichtige Personen, die diesen Kriterien nicht entsprachen, fanden dennoch Aufnahme, so Rolf Rudolph, dessen früher Tod 1963 eine wohl steile Karriere vorzeitig abbrach. Nur wenige Personen fehlen, z.B. der Lateinamerika-Historiker Jürgen Mothes oder der Landwirtschaftsexperte Helmut Griebenow.

Angeführt werden die Geburts- und keineswegs in erreichbarer Zahl auch Sterbedaten, die Ausbildungswege und Karriereschritte, Themen, Seitenzahlen und oft auch Gutachter der Qualifikationsarbeiten sowie Buchveröffentlichungen und Aufsätze in der „Zeitschrift für Geschichtswissenschaft“, auch über 1990 hinaus. Es folgen Ehrungen, Mitgliedschaften in Akademien und Hinweise auf Festschriften oder Bibliographien. Da Mertens in der Einleitung bzw. Separatpublikation quantitative und qualitative Schlüsse zu ziehen sucht, seien zum Lexikon nur wenige Beobachtungen nachgetragen, die das Material anbietet:

Die Biographien zeigen den vom bisherigen Verlauf deutscher Geschichte so unterschiedlichen sozialen Hintergrund vieler DDR-Historiker, stammt doch ein großer Teil von ihnen aus Arbeiter-, seltener aus Bauernfamilien. Bemerkenswert hoch ist die Zahl aus Oberschlesien oder Nordböhmen stammender Forscher, dies erklärt wohl teilweise die starke Hinwendung zur Geschichte slawischer Völker, nicht zuletzt auch wegen der guten sprachlichen Voraussetzungen. Die Themenwahl von Promotion und Habilitation setzte gegenüber früheren Perioden deutscher Wissenschaft neue Prioritäten, bekamen doch die Geschichte der Arbeiterbewegung und verwandte Gebiete akademisches Recht, freilich auch um den Preis der Vernachlässigung anderer wichtiger Probleme. Die 1970er- und 1980er-Jahre zeigten jedoch unter dem Signum von „Erbe und Tradition“ die Hinwendung zu einer breiteren Palette von Fragestellungen der Sozial- und Kulturgeschichte. Einen (nicht nur der DDR eigenen) Mangel benennt auch Mertens: die oft inhaltlich zu große Nähe von Promotion und Habilitation. Ein anderer von ihm kritisierter Punkt, nämlich die geringe Zahl an Hochschulwechseln der Historiker, hatte nicht zuletzt einen außerwissenschaftlichen Grund: Es gab zu wenig verfügbaren Wohnraum in der DDR.

Die Angaben enthalten leider eine allzu große Zahl an Irrtümern, und nur wenige seien hier aufgelistet2: In den bibliographischen Angaben von Ernst Engelberg fehlt dessen Bismarck-Biographie und bei Auguste Cornu die dreibändige Doppelbiographie von Marx und Engels. Die Bibliographie Rolf Richters enthält einige nicht ihn betreffende Angaben eines anderen Wissenschaftlers. Auch stimmen manche Angaben zum Lebenslauf nicht, so war er kein Mitarbeiter des Berliner Instituts für Sozialwissenschaftliche Studien.3 Im Eintrag über Hans Piazza muss gleichfalls eine Reihe falscher Angaben korrigiert werden: Er erhielt ein Auslandstudium noch ohne SED-Mitgliedschaft, arbeitete 1957-58 nicht im ZK der SED, sondern in der Kreisparteischule Magdeburg und wurde 1969 nicht „aufgrund seiner Parteitreue“, sondern auf Vorschlag des parteilosen Walter Markov Sektionsdirektor in Leipzig. Prorektor blieb er bis 1986. Siegfried Prokop war von 1986 bis 1990 kein Sektionsdirektor an der Humboldt-Universität. Auch war er nicht, wie behauptet, an politisch motivierten Relegationen von Geschichtsstudenten beteiligt.

In seiner Abhandlung „Priester der Klio oder Hofchronisten der Partei?“ lässt Mertens von Anfang an keinen Zweifel, wie die Antwort auf die selbst gestellte Frage ausfallen soll. Aus dem im Lexikon gesammelten Material will er Schlüsse ziehen, doch ergeben sich seine Bewertungen – man muss es so sagen – fast immer aus den Vorurteilen. Eine kleine, keineswegs vollständige Liste:

Die meisten Geschichtsstudenten waren „nicht wissenschaftlich überragend im intellektuellen Sinn“, so das bündige Urteil (S. 83). Wer, ungleich Mertens, an Universitäten verschiedener Länder unterrichtet hat und Studenten unterschiedlichster Herkunft und Überzeugung kennt, weiß um den Wert oder Unwert eines solchen Verdiktes. Angesichts einer „mangelnden institutionellen Bereitschaft zur Selbstreinigung“ sei es besonders an der Humboldt-Universität schwer gewesen, die „ideologischen Altlasten“ zu entfernen (S. 14). Eine solche Wortwahl findet sich weder in den Dokumenten der Staatssicherheit, noch in den offiziellen Negativurteilen über DDR-Wissenschaftler durch Evaluierungskommissionen, anders als der von Mertens kommentarlos und offenbar zustimmend gebrauchte Begriff der „Abwicklung“.4 Manches Negativurteil beruht wohl auf schlichter Unkenntnis, so die ganz unzutreffende Abwertung Hermann Dunckers als eines „absolut loyalen Parteisoldaten“, womit der tragische Lebensweg dieses Opfers von Hitler und Stalin missachtet wird (S. 34). Man darf auch fragen, welches Bedürfnis die zahlreich in den Text eingestreuten Tabellen, etwa nach Funktionen in der SED, den Blockparteien oder der PDS, befriedigen sollen. Übrigens sind manche Angaben, so über Reisekader und Dienstreisen, sehr unvollständig. Angaben zur Sekundärliteratur entsprechen nicht immer dem aktuellen Forschungsstand.

Nachdenklich macht die hohe Zahl früherer NSDAP-Mitglieder unter den DDR-Professoren (S. 16), auch dann, wenn man weiß, dass keiner von ihnen eine ähnliche Deutungsmacht über die Wissenschaft erhielt wie in der Bundesrepublik etwa Werner Conze oder Otto Brunner oder gar Theodor Schieder. Eine Liste über Remigranten oder über KZ- und Zuchthaushaft im „Dritten Reich“ fehlt. Erich Paterna, auf dessen Eintritt in die SA das Lexikon verweist, tat dies im Auftrag seiner Widerstandsgruppe, was keine Erwähnung findet.

Mit seiner ressentimentgeladenen Wortwahl konterkariert Mertens, auch dort, wo er Recht hat, sein Ziel einer möglichst umfassenden Kritik der DDR-Geschichtswissenschaft. Deren grundsätzliche Defizite sind unbestreitbar: Es mangelte ihr nicht nur generell an dem für Forschung und Lehre notwendigen Pluralismus, sondern vor allem wurde die parteioffizielle Lehre als Marxismus ausgegeben und zur Richtschnur wissenschaftlichen Arbeitens erhoben. Mit solchen Praktiken machten sich viele Historikern gemein, ohne dass es ihr fachliches Gewissen aufgeschreckt hätte. Manch früherer Parteiideologe ist aber heute zur Selbstkritik bereit. Einige verteidigen hingegen erbittert, was nicht zu verteidigen ist, andere hüllen sich in Schweigen, ein kleiner Teil verflucht, was er einst angebetet hat, um Einlass in den Kreis bundesdeutscher Historiker zu erhalten. Sehr wenigen gelang dies. Nur Einzelne, in der DDR politisch Zurückgesetzte, wurden in der Bundesrepublik Professoren, so Ingetraut Ludolphy, Karlheinz Blaschke und Hans Georg Thümmel. Wer 1990 den Übergang in den Ruhestand oder Vorruhestand schaffte, hatte es besser als manch in der DDR wirklich Benachteiligter, dem nun das „kulturelle Kapital“ zum beruflichen Fortkommen in der Bundesrepublik fehlte.

Aber waren die marxistischen DDR-Historiker nur eine Kohorte fügsamer SED- und Stasi-Kader, wie Mertens nahelegt? Von den wenigen Nichtmarxisten hier einmal abgesehen, lässt sich einfach kein gemeinsamer Nenner für das Wirken von Hanna Wolf und Walter Markov, um Extreme zu nennen, finden. Beide verstanden sich als Marxisten, doch zwischen ihnen war viel Platz. Auch unter den Bedingungen einer Diktatur konnte ernsthaft gearbeitet werden, sogar (wenn dies auch Zivilcourage verlangte) im Bereich der Zeitgeschichte oder der Geschichte des Marxismus. Paradoxer Weise legt davon Mertens im Lexikon der DDR-Historiker Zeugnis ab. Die Publikationslisten des besseren Teils der Wissenschaftler verweisen allein durch die Titelnennung auf mehr als nur auf öde Verlautbarungsliteratur. Schließlich hat Mertens Akademiemitgliedschaften, Ehrenpromotionen und Gastprofessuren von DDR-Historikern im westlichen Ausland in den jeweiligen Biographien genannt. Reichten die Arme von SED-Apparat und Staatssicherheit so weit, um auch diese Ehrungen zu erzwingen oder war das doch die Anerkennung wissenschaftlicher Leistungen? Alle Wertungen im Text wie den Biographien zeigen, dass Mertens weniger aus seinen Angaben kollektivbiographische Schlüsse zieht, sondern eher um sein feststehendes Urteil herum das Material gruppiert.

Wenig souverän bedient Mertens einen Zeitgeist, der auf die pauschale Abwertung, statt auf notwendige und sachliche – auch harte – Kritik der DDR-Wissenschaft abzielt. Dabei ist ein differenzierteres Herangehen schon deshalb gefragt, weil viele entlassene ostdeutsche Historiker fortfahren zu publizieren. In den letzten anderthalb Jahrzehnten haben sie zahlreiche Bücher und Aufsätze von sehr unterschiedlicher Qualität vorgelegt, die sich mit der Geschichte des eigenen Faches in der DDR befassen. Diese verlangen eine gründlichere, subtilere und weniger voreingenommene Analyse als sie Lothar Mertens geleistet hat. In dessen Terminologie nehmen frühere DDR-Historiker „die üppigen finanziellen Segnungen des bundesdeutschen Parteiensystems“ durch Stiftungsstipendien „geschickt in Anspruch.“ Dabei, so heißt es weiter, finden sie „das entsprechende Wohlwollen der zumeist durch alte rote Kader kontaminierten ostdeutschen Arbeitsämter.“ (S. 132f.)

Mertens pflichtet Arnulf Barings Behauptung bei, alles in der DDR erworbene Wissen sei „auf weite Strecken unbrauchbar“.5 Dies aber erklärt nicht die heute spürbare Wirkung von DDR-Historikern sogar auf Menschen, die früher keine Zeile von ihnen lesen wollten. Die intellektuelle Präsenz dieser „abgewickelten“ Historiker muss auch Mertens einräumen, der beklagt, dass ihr „intellektueller Einfluss und ihre personalpolitische Prägung bis weit über die Wendezeit hinaus reich[en]“. (S. 131) Ein in den neuen Bundesländern wirkender Professor muss, will er solchem Einfluss politisch begegnen, gehaltvoller argumentieren als der Autor dieser Bücher. Ein Hochschullehrer, dem es um eine sachliche Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit geht, ist erst recht gefordert, Winfried Schulzes eingangs zitierte Forderung ernst zu nehmen. Denn die Prämisse, die Geschichtswissenschaft solle ihre kritischen Verfahren auf sich selbst anwenden, gilt auch für die Analyse der als Abwicklung der DDR-Historiker bezeichneten Vorgänge. Doch der am 4. Dezember 2006 verstorbene Lothar Mertens hat dies nicht beherzigt.

Anmerkungen:
1 Schulze, Winfried, Vorwort zu: Kröger, Martin; Thimme, Roland (Hrsg.), Die Geschichtsbilder des Historikers Karl Dietrich Erdmann. Vom Dritten Reich zur Bundesrepublik, München 1996, Zitate S. 7 und 9.
2 Der K. G. Saur Verlag lieferte inzwischen eine Liste von Berichtigungen nach. Die dort vermerkte Feststellung, dass Hartmut Zwahr nicht SED-Parteisekretär der Sektion Geschichte der Karl-Marx-Universität Leipzig gewesen sei, ist allerdings falsch. Zwahr wurde in diese Funktion noch im September 1989 als Nachfolger Hartmut Lauenroths gewählt.
3 Vgl. Helas, Horst; Zilkenat, Reiner u.a. (Hrsg.), Antifaschismus als humanistisches Erbe in Europa. Festschrift zum 60. Geburtstag von Prof. Dr. Rolf Richter, Berlin 2005 (mit biographischen und bibliographischen Angaben).
4 Einige dieser Quellen sind abgedruckt in: Matschenz, Ingrid u.a. (Hrsg.), Dokumente gegen Legenden. Chronik und Geschichte der Abwicklung der Mitarbeiter des Instituts für Geschichtswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin 1996.
5 An den Fortgang des Zitats sei erinnert: „Das Regime hat fast ein halbes Jahrhundert die Menschen verzwergt, ihre Erziehung, ihre Ausbildung verhunzt. Jeder sollte nur noch ein hirnloses Rädchen im Getriebe sein, ein willenloser Gehilfe.“ Baring, Arnulf, Deutschland, was nun? Ein Gespräch mit Dirk Rumberg und Wolf Jobst Siedler, Berlin 1991, S. 58f.

Kommentare

Nachtrag zur H-Soz-u-Kult-Rezension vom 14. August 2007

Von Kessler, Mario13.12.2007

Die folgende Korrektur zu der Rezension des ‚Lexikons der DDR-Historiker’ von Lothar Mertens sei vermerkt: Zur Anmerkung 2, die wie folgt lautet:

Der K.G. Saur Verlag lieferte inzwischen eine Liste von Berichtigungen nach. Die dort vermerkte Feststellung, dass Hartmut Zwahr nicht SED-Parteisekretär der Sektion Geschichte der Karl-Marx-Universität gewesen sei, ist allerdings falsch. Zwahr wurde in diese Funktion noch im September 1989 als Nachfolger Hartmut Lauenroths gewählt.

ist folgender Text nachzutragen:

Hier ist ein bedauerlicher Irrtum bezüglich der Datierung zu korrigieren: Hartmut Zwahr amtierte laut einer dem Rezensenten vorliegenden Quelle (in der Nachfolge des turnusmäßig gewählten H. Lauenroth) als GO-Sekretär der SED-Grundorganisation der Sektion Geschichte an der Karl-Marx-Universität Leipzig lediglich zwischen Ende November (nicht seit September) und Anfang Dezember 1989.

Mario Keßler


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