C. Boyer (Hrsg.): Sozialistische Wirtschaftsreformen

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Titel
Sozialistische Wirtschaftsreformen. Tschechoslowakei und DDR im Vergleich


Herausgeber
Boyer, Christoph
Erschienen
Frankfurt am Main 2006: Vittorio Klostermann
Anzahl Seiten
XLII, 628 S.
Preis
€ 99,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marcel Boldorf, Ruhr-Universität Bochum

Der Sammelband behandelt schwerpunktmäßig die 1960er-Jahre, die als Reformjahrzehnt sowohl für die Tschechoslowakei als auch für die DDR am bedeutendsten waren. Herausgeber Christoph Boyer liefert in einem längeren Einleitungsbeitrag wichtige Stichworte für den Vergleich beider Länder und steckt den Rahmen für die Schilderung der Reformfelder ab. Im Einzelnen werden die Bereiche „Neues Ökonomisches System“, Außenwirtschaft, Organisation der Arbeiterschaft, Sozial- und Konsumpolitik sowie Kaderpolitik behandelt. Boyer ist zuzustimmen, dass sich beide Staaten gut für einen Vergleich eignen, weil sie ungefähr die gleiche Größe hatten und – anders als z.B. das in weiten Teilen agrarisch geprägte Polen – über eine lange industrielle Tradition verfügten.

Der über 100 Seiten umfassende makroökonomische Überblick von Drahomír Jančik und Eduard Kubů teilt sich in zwei Kapitel. Zunächst widmen sich die Autoren den frühen Versuchen zur Reform der ČSSR-Planwirtschaft in den 1950er-Jahren. Auf der Basis unveröffentlichter Archivalien arbeiten sie heraus, dass die Bezeichnung „Reform“ fragwürdig ist, weil die Korrekturen sich innerhalb des starren Rahmens des Plansystems bewegten: die Einführung neuer Kennziffern, die Stärkung der betrieblichen Kooperation. Es fehlten jedoch eine Erweiterung der Entscheidungskompetenzen für die Betriebe, z.B. über Investitionen, sowie eine Freigabe der Preise. Die zweite und wichtigere Reformphase ist im Umfeld des Prager Frühlings anzusiedeln. Wie häufig gingen die auf Modernisierung zielenden Wirtschaftsreformen der politischen Umgestaltung voraus. Nach der Rezession der Jahre 1962/63 begannen Versuche zur Vervollkommnung der Planung (1964), die in der Etablierung eines neuen Leitsystems mittels einer partiellen Preisfreigabe und der Übertragung der Investitionsentscheidung an die Betriebe mündeten (1966). Als sich im Januar 1968 Arbeiterräte bildeten, geriet der Prozess politisch außer Kontrolle und wurde durch die sowjetische Intervention beendet.

André Steiner liefert zur DDR zwei ebenso umfangreiche Überblickskapitel, in denen allein die Reformperiode der 1960er-Jahre behandelt wird. Sie fußen auf seinen ausführlichen Untersuchungen zur Thematik. Von der zeitlich etwas früher als in der ČSSR liegenden Wirtschaftskrise der Jahre 1960/61 ausgehend, schätzt Steiner das Reformpotential ab, indem er es an den Grundzügen einer Marktwirtschaft misst. Trotz Ökonomisierung der Planung ließen sich ihre grundlegenden Prinzipien nicht überwinden, z.B. blieb die Kostenorientierung der Preise aus. Die Marktelemente wurden weiterhin durch die Planung dominiert, und der Lenkungsanspruch wurde nie aufgegeben. Insbesondere im politischen Bereich gingen die Reformen nicht so weit wie in der ČSSR, denn zur Bildung von Organisationen wie den Arbeiterräten kam es in der DDR nicht. Das zweite Kapitel widmet sich den privaten und halbstaatlichen Betrieben, die 1963 in der DDR noch 16,5 Prozent der industriell Beschäftigten umfassten. Dieser Sektor bildete ein Anhängsel der volkseigenen Wirtschaft; eine mögliche Vorbildfunktion für die Reform lehnten die Planer ab.

Auch Friederike Sattlers Analyse betrieblicher Handlungsspielräume kommt zu einem zurückhaltenden Fazit hinsichtlich der Durchschlagskraft der Reformen. Schwerpunktmäßig in der chemischen Industrie zeigt sie, dass die gewährten Freiheiten neue Probleme nach sich zogen, die die vorherige Planungsverhaftung ablösten.

Außenwirtschaftlich verband beide Industrieländer die Zugehörigkeit zum Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW). Ralf Ahrens untersucht das Spannungsfeld von Normsetzungsanspruch und Weltmarktdynamik in der DDR. Die Reformmöglichkeiten erwiesen sich als beschränkt, denn einerseits war der Außenhandel eng mit dem planwirtschaftlichen Produktionssystem verflochten und von dessen Unwägbarkeiten abhängig, andererseits entzog er sich der Planbarkeit, weil ihn exogene Faktoren maßgeblich bestimmten. Die normative Einflussnahme beschränkte sich ohnehin auf den RGW-Raum, die Experimente zur Anreizsetzung vermochten den Rahmen der Planung nicht zu durchbrechen. Jaroslav Kučera beschränkt seine Analyse auf den Planungsbereich. Er präsentiert die Instrumente zur Aktivierung der ČSSR-Außenhandelsproduktion und beschreibt ausführlich den Reformdiskurs.

Jiří Pernes widmet sich den Arbeiterräten, die zwischen 1945 und 1948 bereits Vorläufer in den Fabrikräten kannten. Nach jugoslawischem Vorbild sollte das Betriebskollektiv Einfluss auf die betriebliche Führungsebene nehmen. Die politisch brisanten Partizipationsbestrebungen des Jahres 1968 fielen dem neostalinistischen Kurs unter Gustáv Husák zum Opfer. In der DDR kam es, wie Friederike Sattler zeigt, nur zu sehr zaghaften Versuchen, das gewerkschaftliche Alleinvertretungsmonopol zur Unterstützung der Wirtschaftsreform zu lockern.

Die Sozial- und Konsumpolitik nahm eine flankierende Funktion zur Wirtschaftspolitik wahr. Wie Jiří Kocian betont, trugen die ČSSR-Reformen in diesem Bereich zunächst die Züge einer Restauration, denn die vorher abgewickelten Verwaltungsinstitutionen für Arbeit und Soziales wurden wiedereingeführt. Ein Problem blieb, dass den feststellbaren Lohnerhöhungen keine Ausweitung des Konsumgütersortiments gegenüberstand. Auch Peter Hübner zeigt im entsprechenden Kapitel zur DDR, dass die sozialpolitische Diskussion des Reformjahrzehnts verstärkt um die Ausweitung des Konsumangebots kreiste. Die Wirtschaftskrise im Vorfeld der Reformperiode schlug sich in einer Ökonomisierung der Sozialpolitik nieder, doch scheiterte dieses Konzept ebenso wie das Neue Ökonomische System selbst.

Einen gemessen an der Länge der übrigen Beiträge kurzen Abriss der tschechoslowakischen Kaderpolitik bietet Alena Míšková. Sie geht besonders auf Aspekte der Bildungspolitik ein. Peter Fässler lässt einen Überblick zur DDR-Kaderpolitik folgen, der insgesamt die Kontinuität stärker als die Reform betont. Übergeordnete Ziele blieben die fachliche Qualifikation bei gleichzeitiger Sicherstellung der politisch-ideologischen Loyalität gegenüber der SED. Die Realisierung von Leitvorstellungen, beispielsweise der Frauenförderung, gelang der Kaderpolitik kaum. Wie in den 1950er-Jahren wurden ausbleibende ökonomische Erfolge auch weiterhin durch Defizite in der Kaderlenkung und -ausbildung erklärt.

Der Sammelband liefert im Einzelnen sehr interessante Forschungsergebnisse, besonders in den Teilen, denen Archivstudien zugrunde liegen. Ein grundlegendes Problem kann allerdings nicht behoben werden: In klassischer Arbeitsteilung schreiben deutsche Autoren über die DDR-Themen und tschechische über die ČSSR-Reformen. Das Desiderat wirklich vergleichend angelegter Beiträge, dessen Behebung angesichts der Forschungssituation wohl nur ausnahmsweise erwartet werden darf, kompensiert der Herausgeber durch seine kenntnisreiche, problembewusste Einleitung, die dem Leser einen Leitfaden zur Lektüre des Bandes liefert.

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