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Titel
Herrschaft und Schrift. Strategien der Inszenierung und Funktionalisierung von Texten in Luzern und Bern am Ende des Mittelalters


Autor(en)
Rauschert, Jeannette
Reihe
Scrinium Friburgense 19
Erschienen
Berlin 2006: de Gruyter
Anzahl Seiten
229 S.
Preis
€ 98,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Raphael Matthias Krug, Institut für Europäische Kulturgeschichte, Universität Augsburg

Die Entstehung und das Werden der städtischen Schriftlichkeit stand in den letzten Jahren vermehrt im Fokus der Wissenschaft, auch wenn hier der Schwerpunkt eher auf norditalienischen denn auf nördlich der Alpen liegenden Kommunen ruhte. Symbolisches bzw. wie es zwischenzeitlich genannt wird: performative Akte fanden in der jüngeren Vergangenheit zunehmend Gehör, hier jedoch weniger mit einem Schwerpunkt auf dem städtischen Umfeld. In dieses Doppelfeld fügt sich nun die Dissertation von Jeannette Rauschert ein, die sich mit Schriftlichkeit primär in Luzern, daneben auch in Bern beschäftigt, um deren performative Umsetzung im städtischen Raum zu untersuchen. Im Mittelpunkt der Studie steht der ‚Geschworene Brief’, dessen ursprüngliche Funktion 1252 die Beendigung einer Fehde war, die zwischen der Stadt und dem Klostervogt entstanden war. Im Laufe der Zeit erfuhr der ‚Geschworene Brief’ dann eine Bedeutungsveränderung und wurde zu einem Instrument und Dokument der regelmäßigen innerstädtischen Herrschaftserneuerung, -legitimierung und -absicherung.

Diese Spektren der Untersuchung spiegeln sich in der Unterteilung in vier Kapitel wieder. Mit der Einleitung (Kap. 1) liefert Jeannette Rauschert eine kritische Analyse des derzeitigen Forschungsstandes bei gleichzeitiger Verortung ihrer Ausführungen sowie einer Definition dessen, was ihre Arbeit zu leisten gedenkt: die Offenlegung von auf Rechtstexten basierender Herrschaftsinszenierung. Konzise wird herausgearbeitet, dass eine Gesamtdarstellung der Schriftlichkeit von Städten immer noch fehlt. Kapitel 2 dient der Analyse der unterschiedlichen Versionen des ‚Geschworenen Briefes’. Das Original aus dem Jahr 1252 ist verlorengegangen; als älteste Versionen sind zwei Exemplare überliefert, die einmal in Latein und einmal in deutscher Sprache wenige Jahre nach der Urfassung entstanden waren, jedoch schon kleine redaktionelle Änderungen erfahren hatten. Die ursprüngliche Intention, die Vereinbarung mit den Vögten von Rothenburg zur innerstädtischen Friedenssicherung wird hier am deutlichsten erkennbar. Ab diesem Moment sind die Veränderungen hin zu einem von den Vögten unabhängigen „Grundgesetz“ der Luzerner Bürgerschaft zu beobachten, das zweimal jährlich von der Bürgergemeinde beschworen werden musste. Bis zum Ende des alten Reiches kam es zu Modifikationen des Textes, die den jeweiligen politischen Gegebenheiten geschuldet waren und den obrigkeitlichen Bedürfnissen entsprachen.

Im 3. Kapitel erfolgt eine Darstellung der die Performanz betreffenden Faktoren, Räume und Menschen. Hauptort der Inszenierung war die Peterskapelle, die ob ihres sakralen Charakters eine die Feierlichkeit der Zeremonie unterstützende Funktion hatte. Das Rathaus und auch die Peterskapelle als Raum für Inszenierungen von Herrschaft werden über die Darstellungen einer Bilderchronik von Diebold Schilling aus dem Jahr 1512 erschlossen. In unruhigen Zeiten angefertigt, zeigt diese möglicherweise jedoch ein ersehntes Idyll. Wieweit dies hingegen die Realität abbildete, hätte deutlicher herausgearbeitet werden sollen. Als Faktor Mensch spielte der Schreiber eine bedeutende Rolle, war er doch einerseits mit der Redaktion der sich entwickelnden ‚Geschworenen Briefe’ betraut und andererseits für deren öffentliche Verlesung im Rahmen der halbjährlich stattfindenden Schwuraktionen zuständig. Seine genaue Funktion im Gefüge der städtischen Obrigkeit ist nicht vollständig rekonstruierbar, datiert doch die erste Schreiberordnung von 1427. Fassbar wird in der Frühphase der Kanzlei noch eine Abhängigkeit von den Fähigkeiten der jeweiligen Schreiber. Eine Verortung dieser Entwicklungen im kulturhistorischen Diskurs zur Rolle des Schreibers kann wegen des Fehlens einer Gesamtdarstellung dieses Themas nur punktuell geschehen, sie wird von der Verfasserin jedoch souverän gemeistert.

Kapitel 4 bildet den zentralen Teil der Untersuchung: die Verknüpfung von Schrift und Inszenierung, im weiteren Feld von Herrschaft und Schrift. Zu Beginn der performativen Aufführung der Schwurhandlung des ‚Geschworenen Briefes’ offenbarte sich ein Vorteil der volkssprachlichen Version, konnte sie doch verlesen werden, ohne erst jeweils neu übersetzt werden zu müssen. Gleichzeitig zeigte sich anhand von Besatzungsordnungen, dass nicht immer die gesamte Urkunde verlesen wurde, ja dass anlässlich der beiden Termine im Jahr unterschiedliche Artikel hierfür ausgewählt wurden. Erkennbar wird an diesem Punkt auch das Wechselspiel von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Durch das öffentliche Verlesen des ‚Geschworenen Briefes’ war es möglich, auch ein illiterates Publikum von den Gesetzen in Kenntnis zu setzen. Darüber hinaus besaß der Schreiber beim Verlesen einen Handlungsspielraum für die Gestaltung der Dramaturgie, gab es doch keine konkreten Anweisungen die Zeremonie betreffend. Die Praxis der öffentlichen Aufführungen offenbart jedoch noch eine weitere Facette im Verhältnis Obrigkeit – Bürger. Der Bürger war Rezipient, und der Rat legte Wert darauf, ihn in dieser Funktion stumm zu halten. Störungen jedweder Art waren jedenfalls mit Strafe bedroht. In diesem Kontext rekurriert Jeannette Rauschert auf den Twingherrenstreit in Bern. Hier führte das erneute Beschließen einer Kleiderordnung, die die Twingherren in ihren Gewohnheiten einschränkte, zu Verwerfungen, deren Abläufe in das für Luzern aufgezeigte Muster der öffentlichen Inszenierung von Herrschaft passen. Im Ergebnis konnten sich die Twingherren jedoch durchsetzen, was mit ihrer gesellschaftlichen Stellung zusammenhing.
Die weiteren Möglichkeiten kommunikativen Handelns werden am Schriftgut Luzerns aufgezeigt. Es war eben nicht nur das Verlesen oder Schweigen möglich – gemeint ist hier das Schweigen der Menge –, sondern auch die Zerstörung bzw. Beschädigung des Schriftguts. Das politische Handeln konnte somit neben der öffentlichen Aufführung beispielsweise auch in Form von Befleckung vonstatten gehen, um das gewünschte Ergebnis zu erhalten. Gezielt wurde dies in Luzern 1364 eingesetzt, als man nach einem Weg suchte, den alten Schultheißen Johannes von Bubenberg wieder in die Stadt zurückzuholen, aus der er 14 Jahre zuvor wegen Bestechung verbannt worden war. Eine Handvoll fauler Kirschen war hier das Mittel erster Wahl – auf die Handfeste geworfen, um den Schreiber zu einem schnelleren Auffinden der gewünschten Norm in der Handfeste zu bewegen, die eine Rückkehr ermöglichte. Insgesamt ist erkennbar, dass mit zunehmender Macht des kleinen Rates die Darstellung, gemeint ist damit die Zurschaustellung von Herrschaft, an Bedeutung gewann.

Jeannette Rauschert zeigt anhand eines für den Raum nördlich der Alpen frühen Beispiels die Entwicklung und Veränderung konstitutiver Rechtstexte und ihrer öffentlichen Wahrnehmung auf. Am überzeugendsten wirkt die Studie in den Punkten, die sich primär auf das reichhaltige schriftliche Quellenmaterial Luzerns und die Veränderungen der ‚Geschworenen Briefe’ beziehen. Der Interpretation der Bilderchronik Diebold Schillings fehlt dagegen die letzte Überzeugungskraft. Sie baut auf zu vielen Vermutungen auf, was in der entsprechenden Diskussion auch thematisiert wird. Die Darstellung der möglichen, vielfältigen Formen politischen Handelns liefern jedoch auch für künftige Studien Anhaltspunkte, an denen man sich orientieren sollte. Gleiches gilt für die klare Struktur der Monografie, deren Stringenz hervorzuheben ist. Zu hoffen bleibt, dass das von Jeannette Rauschert thematisierte Desiderat einer komparatistischen Studie der städtischen Schriftlichkeit in naher Zukunft behoben wird.

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