C. Fink u.a. (Hrsg.): 1956 - European and Global Perspectives

Cover
Titel
1956 - European and Global Perspectives.


Herausgeber
Fink, Carole; Hadler, Frank; Schramm, Thomas
Reihe
Global History and International Studies, 1
Erschienen
Anzahl Seiten
354 S.
Preis
22,00 €
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Boyer, Fachbereich Geschichte, Universität Salzburg

In der europäischen bzw. der Globalgeschichte der zweiten Nachkriegszeit sind vorrangig die Zäsuren 1945, 1968 und 1989 mit Aufmerksamkeit bedacht worden. Der vorliegende Band ergänzt und bereichert diese Perspektiven durch den Blick auf „1956“. Das Jahr 1956 ist, so einleitend die Herausgeber, „a marker of global change“ (S. 10): ein Jahr, in dem die Vergangenheit mit der Zukunft zusammenprallte, „when human consciousness and human behavior took on new global dimensions“ (S. 35).

Wie dem, unter dem Anhauch des Weltgeistes, auch sei. Wie könnte man den „marker of global change“ als analysetauglichen Begriff explizieren? Anders gefragt: Was sind eigentlich „Entscheidungs"- bzw. „Epochenjahre“? Ich bitte um Dispens für einen knappen Exkurs und schlage zwei Definitionsmerkmale vor:

Schwellenjahre sind, erstens, charakterisiert durch ein markantes Ereignis – vielleicht auch durch eine Massierung mehrerer erheblicher, auffälliger Ereignisse. Diese können disparate Ursachen haben; womöglich sind sie eher zufällig gleichzeitig. In der Regel allerdings hängen sie zusammen, etwa in der Form von Ursache und Wirkung. Vielleicht verstärken oder beschleunigen sie einander. Es handelt sich dann, metaphorisch gesprochen, um Ensembles kommunizierender Röhren. Der Historiker muss solche Verflechtungen der Einzelereignissen herauspräparieren.

Zweitens: Epochenjahre begründen – womöglich weit in die Zukunft hineinreichende – Pfadabhängigkeiten. Epochenjahre können auch Furkationspunkte sein: In solchen Fällen werden, wie an einem Kreuzweg und mit quasi längerfristiger Bindungswirkung, Wahlen zwischen alternativen Optionen getroffen. „Pfadabhängigkeit“ heißt nicht, dass alles, was zeitlich folgt, rundum und strikt kausal determiniert ist. Die Fernwirkung von Megaereignissen muss man subtiler auffassen: diese definieren Korridore weiterer Entwicklung. Andererseits werden bestimmte Alternativen für die Zukunft ausgeschlossen, oder sie werden zumindest unwahrscheinlich.

Wenn Epochenjahre keine solchen längerfristigen Pfadabhängigkeiten begründen, dann markieren sie doch in jedem Fall hervorgehobene Punkte auf – früher beginnenden, später endenden – Entwicklungslinien: etwa in Gestalt von Scheitel- oder von Tiefpunkten. Und: Epochenjahre sind immer auch Epochenzäsuren. Von solchen – tiefen – Einschnitten aus stellt sich die Frage nach der Einheit und der Signatur der folgenden Epoche: Nach den Entwicklungsbögen also, die hier ihren Anfang nehmen.

Zurück zum Band: wie gelingt es ihm 1, 1956 als globales Entscheidungs- und Epochenjahr auszuzeichnen? Gelingt es ihm überhaupt? Wie werden die Ereigniscluster definiert? Es gibt, erstens, den „Cluster Kommunismus“: Chruschtschows Attacke gegen Stalin auf dem XX. Parteitag – dies ist eine Attacke nicht nur gegen eine Person, sondern gegen ein System. Die Entstalinisierung in der Sowjetunion ist notwendige – wenn auch längst nicht hinreichende – Vorbedingung des Aufstands in Ungarn und der Unruhen in Polen.

Die Vorgänge in den beiden „Hauptabteilungen“ Sowjetunion bzw. Ungarn/Polen des „Geschäftsbereichs“ „Europäischer Kommunismus“ hängen also offensichtlich eng zusammen. Es gibt, zweitens, die Turbulenzen im Nahen und Mittleren Osten: der arabisch-israelische Konflikt, die Intervention Frankreichs bzw. Großbritanniens in „Suez“. Der von den USA, mittelbar auch von der Sowjetunion erzwungene Rückzug Frankreichs und Großbritanniens besiegelt vor der globalen Öffentlichkeit die Abdankung beider als Weltmächte. Er kündigt auch ihre Verabschiedung als Kolonialmächte an. Damit ist zusätzlich eine Zäsur im Verhältnis zwischen der nördlichen Hemisphäre und der südlichen gesetzt. In Bandung zeigt sich, zeitlich koinzident, das neue Selbstbewusstsein der „Dritten Welt“. Ob auch der Aufschwung Chinas sich damals bereits abzeichnet, sei dahingestellt. Wie auch immer: Europa ist, dies wird 1956 deutlich, im Weltmaßstab „rezessiv“.

Auch und vor allem wegen „Suez“ ist bekanntlich die Antwort des Westens auf den Aufstand in Ungarn lau. Die Verflechtungen zwischen den Clustern „Kommunismus bzw. Ost-West-Konflikt“ und „Naher und Mittlerer Osten“ sind also evident; im Wesentlichen dieser „link“ ist es, der „1956“ zur globalen Doppelkrise macht. Kann man nun, ausgehend von dieser, längerfristige, epochenbildende Pfadabhängigkeiten aufspüren, die dann, auch nach Definitionskriterium zwei, die Rede vom „marker of global change“ rechtfertigen würden?

Das Trauma von 1956 steht am Anfang eines spezifischen ungarischen – des kádáristischen – Wegs im weiteren Staatssozialismus und dann, Ende der 1980er-Jahre, auch aus diesem hinaus. Die je eigene Art und Weise der Lösung der polnischen Krise hat den weiteren Weg Polens in Richtung auf „1989“ nicht unerheblich beeinflusst. Womöglich liegt hier, in der profunden Desillusionierung „der Massen“ und der abgrundtiefen Delegitimierung des Kommunismus als Utopie, bereits der Anfang von dessen Ende als Herrschaftsform beschlossen. Zwar verbleiben die im Band verschiedentlich geäußerten Vermutungen – und ebenso meine eigenen – bezüglich solcher Fernwirkungen vorerst, das heißt vor einer tatkräftigen Operationalisierung, im Stand feuilletonistischer Unschuld; nicht plausibel sind sie auf den ersten Blick keineswegs. Man sollte, nota bene, „1956“ allerdings auch keine allzu schweren Erklärungslasten aufbürden: der ost- und ostmitteleuropäische Kommunismus geht, aufs Ganze gesehen, an weit komplexeren Ursachenkonstellationen zugrunde als nur an den Langzeitfolgen des Traumas von 1956.

Eine zweite längerfristige Pfadabhängigkeit wird 1956 durch die Entstalinisierung begründet. Aus dieser erwächst die Doktrin von der „friedlichen Koexistenz“, diese wiederum begründet eine qualitativ neue Phase im Ost-West-Konflikt. Auch der Westen hat ja, mit Blick auf Ungarn, 1956 seine generelle Präferenz für „Stabilität“ kundgetan. Eine dritte, weltumspannend-globalhistorisch bedeutsame Pfadabhängigkeit zeichnet sich 1956 in der Verschiebung der Gewichte zwischen „Nord“ und „Süd“ ab. Zwar beginnt die Geschichte der Entkolonialisierung bereits deutlich früher, ihre ideellen Fundamente reichen tiefer hinunter; das Schlüsseldatum für die Unabhängigkeit zumindest der afrikanischen Länder ist dann aber erst das Jahr 1960. Mitte der 1950er-Jahre findet allerdings ein Generationenwechsel statt. Die jungen afrikanischen Eliten nehmen nun den antikolonialistischen Kampf in die Hand, es folgt ziemlich rasch der erste Schub von Entlassungen in die Unabhängigkeit.

Soweit die Rekonstruktion einiger zentraler Argumentationslinien. Vieles davon muss man sich allerdings aus dem impressionistisch hingetupften Tableau in Eigenarbeit erst zusammenreimen. Jenseits der zentralen „Verknotung“ Ungarn-Suez führt der Band dann für die Mitte der 1950er-Jahre eine Reihe weiterer Einschnitte ins Feld. An diesem Punkt sehe ich zum Teil gewichtige, ja massive Probleme: den meisten der hier ins Spiel gebrachten „langen Linien“ ist, im Blick auf das Jahr 1956, nämlich keine mit den „Hauptereignissen“ irgend vergleichbare Zäsurenqualität abzugewinnen: ganz offensichtlich ist dies etwa für die Geschichte der deutschen Frage. Ist 1956 ein erheblicher Einschnitt auf dem Weg zum Wirtschaftsboom, zur Dienstleistungsökonomie, zur „Öl-Gesellschaft“? Ich glaube kaum. „Erste Gastarbeiter“: zweifelsohne ist dies ein wichtiges Datum in der Geschichte der Arbeitsmigration nach Deutschland – im Blick auf die europäischen, gar die globalen Migrationsströme trifft dies meines Erachtens nicht zu. Ich sehe auch keine Zäsur “ungarischen Kalibers“ etwa auf dem Entwicklungspfad der katholischen Kirche, kein „Suez“ der Kulturgeschichte usw. usf.

Zugegeben: 1956 ist, im Blick auf alle diese und andere Einzel-Geschichten und Einzel-Entwicklungspfade keineswegs ereignislos. Im Gegenteil: das Jahr ist, wie die Jahre davor und danach, mit kleinen, mittleren und größeren events, ja silvesterrückblickswürdigen highlights geradezu vollgestopft. Nur: diese sind, jedes für sich genommen, als markers of change nicht erheblich genug, geschweige denn von epochalem Format. Sie treffen kontingent zusammen, sie sind zeitlich koinzident; womöglich eröffnen sie, jedes für sich, „kleine Pfadabhängigkeiten“. Sie verflechten sich aber nicht zu einem Mega-marker of global change, am Beginn einer neuen Ära von einheitlicher Signatur.

Ob damit dem Begriff des marker of global change nicht eine zu schwere Fracht aufgebürdet wird – dies wäre eine zweite Überlegung wert. Womöglich würde diese am Ende zur Aufweichung der eingangs vorgeschlagenen Definition („Ereignis-Cluster von erheblicher Bedeutung, der epochenbildende Pfadabhängigkeiten eröffnet“) führen. Wie auch immer: Offensichtlich vermittelt der Band anregende Impulse für weiterführende Überlegungen. Hinzu kommt: Er erzählt von den highlights – und von anderem – in einer Reihe instruktiver, weil faktographisch innovativer, fallweise geradezu süffig zu lesender Beiträge: ich erwähne nur Volker Berghahns Aufsatz über die Ford Foundation im Kalten Krieg der Kulturen, Pawel Machcewicz‘s Analyse des polnischen Wegs und Motti Golanis Studie zu Israel. Dass diese und andere Beiträge nicht in einem umfassenden Koordinatensystem strategisch platziert sind, sondern eher wie eine Kollektion erratischer Blöcke wirken, tut der Sache allerdings wieder einigen Abbruch: Eine kohärente und konsistente Gesamtinterpretation muss sich der Leser über weite Strecken im do-it-yourself-Verfahren erarbeiten.

Anmerkung:
1 Die zentralen Ereignisse von „1956“ werden – in der Folge ihrer dichten Verflechtung - in mehreren Beiträgen, außerdem in der Einleitung der Herausgeber thematisiert. Die Rezension nimmt deshalb in der Regel keinen Bezug auf einzelne Texte, sondern auf „den Band“.

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