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Titel
Tod den Spionen!. Todesurteile sowjetischer Gerichte in der SBZ/DDR und in der Sowjetunion bis 1953


Herausgeber
Hilger, Andreas
Erschienen
Göttingen 2006: V&R unipress
Anzahl Seiten
212 S.
Preis
€ 23,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Annette Weinke, Friedrich-Schiller-Universität Jena / Forschungsstelle Ludwigsburg

Mitte Juli 1943 wurden in Krasnodar acht Sowjetbürger, die wegen Landesverrats, Kollaboration und Kriegsverbrechen zum Tode verurteilt worden waren, unter den Augen von 30.000 Schaulustigen und zahlreicher Kamerateams zum Galgen geführt. Der amerikanische Botschafter William H. Standley kommentierte das Medienspektakel seinerzeit mit den Worten: „Such public executions are a novelty in the Soviet Union.“ 1 Wie ein von Andreas Hilger herausgegebener Band zur Entwicklung und Anwendung der Todesstrafe in der UdSSR und in Ostdeutschland bis 1953 jetzt deutlich macht, irrte der ausländische Beobachter jedoch in einem entscheidenden Punkt: Während die Durchführung der Todesstrafe bis zum Beginn der deutschen Invasion im Juni 1941 von einem bürokratisch-formalistischen Verwaltungsverfahren und anonymen Hinrichtungsmethoden geprägt blieb, gingen die sowjetischen Organe bereits wenige Tage nach Kriegsbeginn dazu über, Zehntausende von Wehrpflichtigen in Anwesenheit ihrer Einheiten zu erschießen.

Das Phänomen staatlichen Tötens im Sowjetstaat war nicht nur für die Zeitgenossen schwer zu durchschauen. Bis heute ergeben sich aus der Tatsache, dass gerichtliche, quasi-gerichtliche und außergerichtliche Tötungsmaßnahmen sich teils ergänzten, teils eng ineinander verschränkt waren, ein ganzes Dickicht an Forschungsproblemen. Hilger und seine beiden Mitautoren schlagen nun eine erste Schneise, indem sie in knapper, aber präziser Form die normativ-institutionellen Grundlagen, das gesellschaftliche Umfeld und die ideologischen Funktionen der Todesstrafe im Stalinismus erörtern. Dabei beschäftigen sie sich sowohl mit den Ordnungs- und Rechtsvorstellungen der daran beteiligten Gruppen und Individuen als auch mit dem spezifischen Anteil Stalins an diesem zentralen Bereich des sowjetischen Justizwesens. Der Fokus der drei Einzelbeiträge liegt somit auf der bislang eher vernachlässigten Frage, welche Auswirkungen der „zyklopische“ Sozialismus Stalinscher Prägung auf die Legitimierung und Umsetzung der Todesstrafe gegenüber deutschen Staatsbürgern hatte. 2

Wie Hilger in seiner Einleitung klarstellt, war auch in der Sowjetunion die Todesstrafe stets mehr als ein strafrechtliches Instrument. Der Schlüssel zum Verständnis justiziellen Tötens liegt für ihn in dem von den Bolschewiki postulierten Projekt einer umfassenden revolutionären Umgestaltung von Staat und Gesellschaft. Das Konglomerat von radikalem Säuberungsgedanken, anhaltender bolschewistischer Gewaltbereitschaft und utopischen Erziehungsbestrebungen führte zu dem für die UdSSR typischen Neben- und Miteinander von gesetzlich normierter, justizieller Strafgewalt auf der einen Seite und außergerichtlichem Terror auf der anderen. Das Verhältnis dieser beiden Bereiche blieb bis zu Stalins Tod – und in mancher Beziehung noch darüber hinaus – ungeklärt. Eine wichtige Zäsur sieht Hilger darin, dass zum einen mit Ende des Zweiten Weltkriegs der Export der mit diesem System verknüpften bolschewistischen Glaubenssätze ermöglicht wurde, und dass zum anderen mit der sowjetischen Besatzungsherrschaft in Ostdeutschland ein Umfeld entstand, dass die spezifischen Züge Stalinscher Vergeltungs- und Abschreckungsjustiz umso stärker hervortreten ließ.

Nikita Petrov, Historiker und stellvertretender Vorsitzender von „Memorial“, beschreibt die sowjetische Strafpolitik gegenüber Deutschen als eine Übertragung von Strukturen und Methoden stalinistischer Verfolgungsmaßnahmen gegen „innere Feinde“. Dabei betont er insbesondere die zahlreichen Steuerungs- und Regulierungsprobleme, die sich aus dem Anspruch des Moskauer Zentrums ergaben, die Einführung und Umsetzung der Todesstrafe in allen Regionen der sowjetischen Herrschaftssphäre umfassend kontrollieren zu wollen. Gleichzeitig arbeitet er auf der Grundlage neu erschlossener Quellen heraus, dass sowohl innerhalb der Parteigremien als auch bei Justiz und Exekutive durchaus Meinungsverschiedenheiten über Art und Umfang des Einsatzes der Höchststrafe bestanden. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang insbesondere der Hinweis, dass die Wiedereinführung der Todesstrafe im Januar 1950 zu zahlreichen Unstimmigkeiten zwischen Staatssicherheit und Justizorganen führte. Störend an Petrovs Beitrag ist hingegen sein mitunter recht lässiger Umgang mit den Quellen, der die besondere Brisanz des Themas zu verkennen scheint.

An Petrovs Überblicksdarstellung knüpft ein Beitrag seiner russischen Kollegin Olga Lavinskaja an, der sich mit dem Spezialthema des Gnadenwesens im sowjetischen Strafrecht befasst. Grundsätzlich liefen die Begnadigungen nach einem streng reglementierten, zentralisierten Verfahren ab, das vor allem die hohe Bedeutung widerspiegelt, die die Sowjetführung der von ihr beanspruchten Verfügungsmacht über Leben und Tod zumaß. Auf der Grundlage von Akten des Präsidiums des Obersten Sowjets kommt die Autorin zu dem Schluss, dass insgesamt nur einer relativ geringen Anzahl von Verurteilten überhaupt das Recht eingeräumt wurde, Gnadengesuche einzureichen. Abgesehen davon, dass sich das sowjetische Gnadenrecht seit jeher durch eine Reihe von Ausnahmebestimmungen auszeichnete, hing dies vor allem mit der Verkürzung des Überprüfungs- und Gnadenverfahrens nach Kriegsbeginn zusammen. Kurz nach Wiedereinführung der Todesstrafe im Januar 1950 wurde allerdings fast allen zum Tode Verurteilten das Recht auf einen Gnadengesuch eingeräumt (S. 83). Leider beschränkt sich Lavinskaja auf eine etwas hölzern wirkende Wiedergabe von Normen und Verfahrensabläufen. Das eigentliche Hauptproblem ihres Textes liegt jedoch darin, dass sie die juristische Terminologie in einer unklaren Weise verwendet, was mitunter den Eindruck erweckt, als ob der Autorin die Unterschiede zwischen strafprozessualen Rechtsmitteln und dem Gnadenrecht nicht bewusst gewesen sind.

Den Abschluss des Bandes bildet ein Beitrag des Herausgebers, der die Tätigkeit sowjetischer Sicherheitsorgane und Militärgerichte in der SBZ/DDR skizziert. An zwei Fallbeispielen weist Hilger nach, dass auch das grundsätzlich legitime Anliegen der Verfolgung deutscher Besatzungsverbrechen von stalinistischen Denkkategorien und Wertvorstellungen geprägt war. So wurden die Todesurteile gegen Deutsche in NS-Verfahren, die den größten Anteil aller zwischen 1945 und 1953 verhängten 2943 Urteile ausmachten, vielfach nicht wegen tatsächlich verübter schwerer Verbrechen gefällt. Stattdessen waren diese Verfahren Ausdruck einer bereits zu Kriegszeiten aufkommenden Tendenz, die Strafjustiz vermehrt für die Zwecke der Feindpropaganda zu instrumentalisieren. Das nur gering ausgeprägte Interesse an einer Aufdeckung, Aufklärung und Ahndung deutscher NS-Verbrechen lässt sich auch daran festmachen, dass die Höchststrafe nach ihrer Wiedereinführung immer öfter dafür eingesetzt wurde, um tatsächliche oder vermeintliche Gegner der stalinistischen Herrschaft auszuschalten. Damit fand eine allmähliche Verlagerung des Verurteilungsschwerpunktes auf einen ideologisch weit gefassten Staatschutz statt.

Mit diesem Band knüpft Hilger an eine Reihe von Forschungsarbeiten an, die ihn bereits in der Vergangenheit als einen kompetenten Kenner sowjetischer Deutschlandpolitik vor und nach 1945 ausgewiesen haben. So bieten seine Beiträge eine gute Grundlage für weitere Untersuchungen und überzeugen durch eine ausgewogene und differenzierende Sichtweise. Diskussionsbedürftig ist allerdings Hilgers durchweg negative Einschätzung der sowjetischen Ermittlungsleistungen. Insbesondere das Argument, die Ermordung sowjetischer Juden habe in den Gerichtsverfahren keinen Niederschlag gefunden, widerspricht den Befunden von Holocaust-Forschern, die intensiv in regionalen und lokalen Archiven gearbeitet haben. 3 Da zu vermuten ist, dass sich diese Diskrepanz aus den im Einzelnen genutzten Datenbeständen ergibt, wäre es zumindest sinnvoll gewesen, den Quellenwert dieser Materialien vorab zu diskutieren.

Osteuropaforscher und Rechtshistoriker, die sich künftig mit der Geschichte der Todesstrafe in der Sowjetunion befassen wollen, werden auf den vorliegenden Band kaum verzichten können. Zu wünschen wäre, dass die Forschung dabei verstärkt jene internationalen Entwicklungsprozesse und Interdependenzen berücksichtigt, die die weltweite Auseinandersetzung um die Todesstrafe nachhaltig geprägt haben. Auf die eigentümlichen Wechselbeziehungen zwischen sowjetischer Anti-Todesstrafen-Propaganda und der ambivalenten, westlichen Position in zentralen Menschenrechtsfragen hat erst vor kurzem der Historiker Paul Kennedy hingewiesen, als er feststellte, dass der 1947 erfolgte Vorstoß zum Verbot der Todesstrafe in der UN-Menschenrechtserklärung nur dadurch zu erklären ist, dass Moskau auf den Widerstand von „Western proponents of judicial execution by firing squad, hanging or the electric chair“ zählen konnte.4 Auch diese Debatten unter den Augen der Weltöffentlichkeit gehören somit zu der erst noch zu schreibenden Geschichte der sowjetischen Todesstrafe.

Anmerkungen:
1 Zit. nach Kochavi, Arieh J., Prelude to Nuremberg: Allied War Crimes Policy and the Question of Punishment, Chapel Hill 1998, S. 65.
2 Beyrau, Dietrich, Schlachtfeld der Diktatoren. Osteuropa im Schatten von Hitler und Stalin, Göttingen 2000, S. 42f.
3 Vgl. den Beitrag von Martin Dean für den Konferenzband "Justice and the Holocaust. Post World War II Trials, Representation, Awareness and Memory” (voraussichtlich Jerusalem 2007).
4 Paul Kennedy, The Parliament of Men. The Past, Present, and Future of the United Nations, Toronto 2006, S. 181.

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